Stefan Thielke

HOME india HOME

2012, Puri
arrow abbildung arrow
 

 

Puri, 5. März 2012ff

Der Morgen graut. Graue Wolkenfetzen ziehen gehetzt über den Himmel. Der Körper ist von einer schweißigen Salzschicht überzogen. Das Leben dort draußen vor der starken Holztür, über Jahre mit brauner Farbe Schicht um Schicht gewachsen, das Leben dort draußen ist längst erwacht. Murmeln, leise Hupen und Tröten in der Ferne, anfänglich zaghafte Rufe kleiner Vögel und allgegenwärtiger Krähen weichen einer nicht enden wollenden Kakophonie von Bushörnern, Landroverhupen und Kleinwagenquäken. Die Tröten der Tuctucs übertönen vereinzelte Fahrradklingeln, deren Schalldruck in Berlin jeden Fußgänger vom Radweg katapultieren würde. Hunde erwachen in nie erkaltenden Sandkuhlen und blinzeln in die aufgehende Sonne. Das Fell übersät von Kampfspuren, die vernarbt sind oder noch frisch. Einige von ihnen, fast nackt und von Räude bedeckt. Die Weibchen mit hängenden Eutern, anders kann man es nicht beschreiben, ausgelaugt von Welpenscharen, dem nicht enden wollenden Kreislauf der Natur, und kein BH für die Mütter in Sicht, welke Falten zu halten. Dünne Katzen, die in westlichen Breiten von Größe und Gewicht für Jungtiere gehalten würden, schleichen vorbei und nehmen Wege über Mauern und Dächer, wenn die vierbeinigen Wolfsabkömmlinge gänzlich erwacht sind. Doch das ist nur selten der Fall. Einzig von Balkonen und aus Fenstern geworfene Tüten voller Unrat vermögen ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen und zu fesseln, wenn die dünnen Plastiktüten aufgebissen werden und schwarze, glänzende Krähen aufgeregt zwischen Müll und Vierbeinern herumhüpfen.

Hunde fürchten Katzen, hier. Manch einem sieht man an, dass er nähere Bekanntschaft mit ihnen gemacht hat. Denn flinke, kleine Tigerchen scheinen zu wissen, dass ihnen kein Feind ohne Augenlicht gefährlich werden kann. Ein schneller, gezielter Hieb mit zierlicher, daumenbreiter Tatze, die Krallen ausgefahren und schon folgt Nacht, Schwärze und Schmerz. So ziehen einäugige Köter ihre Schwänze ein, wenn ein possierliches, kleines Kätzchen vorbeischleicht, wiewohl dieses Paar von der Größe her eher Katz und Maus vergleichbar wäre – und hier wären die Rollen klar ...

Doch es gibt auch andere, die sich nach Sonnenaufgang zur Ruhe begeben haben. Da kramen keine Mäuse mehr im versteckten Unrat. Ratten haben die feuchten Gänge der oberirdischen Kanalisation verlassen. Die Mücken sind gänzlich verschwunden oder versteckt in feuchten Winkel düsterer Bäder. Der schwarze Wels im Aquarium döst einsam auf den moosigen Steinen. Geckos schlafen unter Blechhalterungen erloschener Leuchtstoffröhren.

Überall in den Straßen, vor Häusern und in kleinen Höfen niedriger, reisstrohgedeckter Hütten werden geräuschvoll die Schlegel der Pumpen betätigt. Wäsche wird auf Stein geschlagen, Kernseife eingerieben, gedrückt. Frischer Duft von Seifenlauge durchfährt die schwüle Luft. Es ist jetzt kurz nach Sieben. Bauarbeiter hocken auf Betonpfeilern, latschen zwischen Moniereisen und roh gebrannten, roten Backsteinen über die unzähligen Baustellen, schleppen Steine und Mörtel in Blechwannen auf dem Kopf heran. Viele unter ihnen Frauen, deren Gebärfähigkeit nicht im Geringsten durch die schwere Arbeit beeinflusst wird, im Gegenteil scheint es. Denn während der Minutenzeiger gemächlich von einem Sechzigstel zum anderen kriecht und die Sonne höher steigt, spielen am Rande der Baustellen mehr und mehr Kleinkinder im Staub. Nackte Kleinärsche lugen unter fadenscheinigen Hemdchen hervor, die einstmals farbenfroh gewesen sein müssen. Größere Geschwister, die nunmehr Tücher um die Lenden, Hosen an den Beinen tragen, achten auf sie. Dunkle Haarschöpfe voller Staub, jetzt schon, obwohl alle am frühen Morgen unter den Pumpen oder im Schutz von Mauern geduscht haben, wenn man das so nennen kann, denn eine Dusche im europäischen Sinne kennen sie nicht.

Bei Sonnenaufgang war ich unten am Strand. Und wieder einmal galt: Alles vergessen, was du aus Europa kennst, mein Lieber! Der Sand war feucht. Die Sonne stand kurz über dem Horizont, war jedoch nur zu erahnen hinter grauen Wolkenmassen. Während nach Süden hin der etwa 50 Meter breite, helle Sandstrand nur sporadisch von Menschen besucht war, liegen Richtung Norden die etwa fünf bis acht Meter langen Fischerboote aus Holz, schlank mit hohem Bug, den Kiel in Sand gebettet. Es müssen hunderte sein. Dahinter erstreckt sich das Village. Ein Fischerdorf mit engen Gassen, kleinen Hütten voller Menschen auf engstem Raum. Ein Slum gehobener Klasse könnten Europäer denken, wenn sie überhaupt schon einmal ihren Fuß in vergleichbare Wohngegenden gesetzt haben. Reiseführer schlagen erfahrungsgemäß einen Bogen um solche Gegenden. Oder sie arrangieren einen Ausflug dorthin, mit Photoshooting wie im Zoo. Auch die Nähe zu den bunten Boote würden sie meiden wie viele interessante Gegenden, für mich interessante Orte hier in Indien. Doch später zu den Reiseführern und Gruppen.

Jetzt erst einmal zurück zu Strand und Booten. Es erfordert eine gewisse „Erfahrung im Umgang mit Gerüchen und auch Szenen“, sich um diese Zeit zwischen oder bei den Booten zu bewegen. Was soll der Mensch machen, der an einem Ort wohnt, wo kein auch noch so einfacher Abtritt, geschweige eine Toilette verfügbar sind. Er geht an den Strand, hockt sich ans Wasser oder zwischen die Boote, seine Exkremente dem Sand zu übergeben, auf dass sie von der Flut davongespült werden. So weit, so gut. Das zu Bodenbeschaffenheit und Gerüchen in der Nähe des Bootsstrandes, die der starke Wind aufrecht Gehenden aus der Nase bläst, nicht mehr wahrnehmbar, so man nicht selbst in die Hocke geht.

Für Europäer unverständlich, lassen sich die Hockenden, Pressenden, vor der Erleichterung Stehenden von meinem Herannahen nicht stören. Und auch von keinem anderen, wiewohl man dort selten eine Frau entdecken wird. Es ist auch bei Weitem nicht so, dass sie still und für sich allein ihr Geschäft verrichten. In Indien ist man ja niemals allein. Und seit das Handy die letzte Straße erobert hat, den letzten Trampelpfad in ein abgelegenes Dorf, bildet auch die körperliche Erleichterung keine Phase der Ruhe mehr. Dass sie zusammehocken, manchmal im Kreis, rauchen, und einige dabeistehen, während die Nahrungsreste des vergangenen Tages im Sand landen, konnte ich vielerorts beobachten. Dass hier ein Handy Musik dudelt, in der üblichen, kastrierten Frequenzpalette vor sich hinquäkend, unterbrochen nur vom Donner zeitweiliger Leibwinde, während sich die Hockenden und Stehenden in endlosen Gesprächen verlieren, erlebe ich zum ersten Mal. Danach geht es in Ermangelung von Klopapier zum Meer oder die Wasserflasche vollendet unter Zuhilfenahme der linken Hand die Aufgabe der intimen Waschung. Sehr empfehlenswert diese Sitte, die unnötiges Wundsein nach pikantem Essen erfolgreich zu meiden hilft. Das alles ist natürlich öffentlich. Da rede einer vom prüden Indien!

---

Zweihundert Meter weiter, in der anderen Richtung, werden Hände aus einem Sari der gehobenen Klasse erhoben den Kopf mit Wasser zu übergießen. Die rituelle Waschung findet hier im Meer statt. Salzige Tropfen ziehen ihre Bahnen über üppige Hautlappen, nässen den Stoff und bringen alles, was da ist, reichlich zur Geltung. So richtig „Baden gehen“ gibt es auch, wenngleich ein Großteil der Inder nicht oder nur äußerst unzureichend zu schwimmen vermag. Zum ausgelassenen Herumplanschen reicht es jedenfalls. Es wäre auch hinderlich, in voller Bekleidung oder auch in T-Shirt und Unterhose, wie es einige junge Städter praktizieren, durch die Wellen zu gleiten. Die Verlustgefahr moderat sitzender Sloggis ist bei diesem Wellengang und den Strömungen recht hoch. Badehosen tragen hier fast ausschließlich Europäer, und denen ist dieser Strandabschnitt größtenteils zu schmutzig. Na klar, was da zwischen den Fischerbooten herausgepresst wird, findet seinen Weg zu den Pilgern, ein kleiner Teil jedenfalls, stückchenweise. Doch weitaus schlimmer sind sicherlich die Einleitungen umliegender Wohnviertel, das Wasser im Fluss ein Stück weit nach Süden, der einer Kloake gleicht und alles, was so von Schiffen im Meer verklappt wird, inclusive Öl. Badenden Pilgern scheint das wenig auszumachen. Nach dem rituellen Bad wird geplanscht, fotografiert, mit den Kindern herumgetollt, bis tropfnasse Saris Falten und Haut jeglicher Farbe, Dimension und Konsistenz durchschimmern lassen. Während die europäische Hose und das Hemd mit Kragen nass und eng an manch voluminöser Form anliegen.

Das bunte Treiben im Wasser wird unterbrochen, als ein Fischerboot den Strand dort ansteuert, wo sich der Abschnitt der Badenden und der der Boote berühren. Dutzende Menschen schauen zu, wie das hüpfende Boot durch meterhohe Wellen pflügt, einzig von vier Paddlern in Richtung Ufer gehalten. Kurz bevor es auf Sand läuft, springen die vier hinaus ins Wasser, ziehen und schieben es an den Strand. Ein meterhoher Berg grünen Schleppnetzes, von Leinen gehalten, bedeckt die Mitte des Nachens. Die Männer nutzen noch ein, zwei Wellen, ihr hölzernes Meeresgefährt höher auf den Sand zu ziehen. Dann legen sie Seile unter Bug und Heck und tragen den zentnerschweren Kahn an Bambusstangen höher den Strand hinauf. Im Nu stehen zu beiden Seiten Schaulustige, wie man sie in unseren Breiten nennen würde. Sie beobachten, während die Männer das Netz von Fischen, Krabben, Schnecken und Muscheln befreien. Die Fische sind meist nicht größer als eine Männerhand, doch eine große Krabbe ist dabei und vielleicht ein Dutzend üppigere Fischportionen am Stück. Letztere werden gleich von den Besitzern der Strandrestaurants aufgekauft. Wobei die Strandrestaurants roh gezimmerte Holzhütten sind, Dächer aus Plane, ohne jeglichen Komfort, ausgestattet mit roten Plastikgartenstühlen, doch bin ich der Letzte der Essensgüte nach Ausstattung bewerten würde. Ich verstehe jedenfalls kein Wort von dieser lautstarken Feilscherei, doch mein Teemann, von dem ich gerade noch mit Chai versorgt worden bin, zieht mit einer zappelnden Riesenkrabbe von dannen.

Dass er die Ankunft der Fischer überhaupt mitbekommen hat, verwundert mich, denn ihn habe ich stets berauscht erlebt, schon oder noch am frühen Morgen zugeraucht bis zum Haaransatz, mit stierenden Augen, doch dabei stets freundlich und beflissen, seine kleinen Geschäfte zu beflügeln. Ich schaue ihm kopfschüttelnd, schmunzelnd nach, während ein weiteres Boot auf den Strand zukommt. Die Jungs springen frühzeitig ins Wasser, als sich das kleine, flache Boot auf die Seite dreht und kentert. Der hochschlagende Bug springt gefährlich nah am Kopf des einen aus der schäumenden Gischt. Über dreißig Menschen sind hier in den vergangenen Monaten im Meer ums Leben gekommen. Die meisten von ihnen Fischer, bewusstlos geschlagen von Bootswänden, versackt in den Tiefen und von tückischen Strömungen hinausgezogen, doch auch einige unvorsichtige Schwimmer. Ende vergangenen Jahres kam täglich ein Mensch ums Leben, wenngleich es sich bei ihnen fast ausschließlich um Badende handelte. Das hält hier jedoch keinen vom Planschen und von Schwimmversuchen ab.

Klatschnass ziehen die Jungs das kleine Boot auf den Strand, von wo eine zeternde Alte in orangem Sari ihr Dutzend Kleinfische wegschleppt. Sie macht sicherlich gute Geschäfte.

 

2012, Fischer in Puri
arrow abbildung arrow
 

 

Im Gegensatz zu den spindeldürren Kindern in verwaschenen, fadenscheinigen Kleidchen und Hosen, die behende auf dem Bug eines Bootes hin- und herspringen, wobei sie lautstark „Hello, hello“! rufen, lachen, winken, schleppt sich die Dicke schlurfend und schnaufend durch den Sand. Indien ist mittlerweile weit weg vom dünnen asketischen Baba Ghandi. Viele sind weiß Gott nicht mehr schlank bis dünn, wenn man von denen absieht, die schleppen, Rikschas ziehen, in die Pedale treten, den ganzen Tag auf- und abgehend Perlen und Krimskrams auf der Straße, am Strand feilbieten oder aus wogenden Wellen Fischernetze einholen. Oder von den hunderten Millionen, die auf dem Feld oder in Fabriken schuften. Sie haben sicher noch nie bei Mc Donalds gegessen oder Tali, dass auf Plastikeinwegtellern ins Büro kommt, falls sie das überhaupt schon einmal gesehen haben. Sie sind nicht in der Lage, den ganzen Tag kauend durch die Gegend zu latschen. Dal, Reis und ein bischen Gemüse sind weit entfernt von Massen an triefenden Zuckerwaren, nussigem Konfekt und Gebäck wie auch von Coca Cola, Limonade, Kartoffelchips und cremigem Eis. Im Dorf oder hier am Strand zaubert der Anblick signalroten Wassereises leuchtende Sternchen in die Augen der Kinder und auch so mancher Erwachsener.

Hunderte Millionen sind weit entfernt von Fettleibigkeit, damit einhergehende Diabetes, Herz- Kreislauferkrankungen und weitere dunkle Seiten des Wohlstands, die das Land heimsuchen, gerade in den höheren Kasten, bei denen, die rasch zu Wohlstand gelangen. Sie brechen die „gottgegebenen“-, gesundheitsfördernden Regeln der Ernährung bis zum Erbrechen könnte man meinen. Wobei diese Regeln, auf Nahrung und Klima bezogen, nicht nur fein abgestimmt und gesundheitsfördernd, sondern auch wohlschmeckend und äußerst bekömmtlich sind. Die anderen werden sich das auch in Zukunft kaum leisten können. Im Gegenteil, sie werden unter der Last von immensen Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln, die von Börsenspekulanten und politisch korrekten Biodieselfahrern in Europa und den USA künstlich vorangetrieben werden, irgendwann vor Schwäche zusammenbrechen. Oder sie sind derart verschuldet, dass sie sich wie unzählige Bauern mit Insktiziden das Leben nehmen oder, wie hier in Orissa, an Kabeln und Oberleitungen festhalten, bis sie verglühen. Und auch die Flucht in Alkohol, der billig und schwarz gebrannt zu haben ist, dabei selten auch nur halbwegs rein, kostet jährlich etwa 100.000 arme Inder das Leben. Ganz abgesehen von der Aidsrate, die weltweit ihresgleichen sucht, von Menschenhandel, Kinderausbeutung, … Doch das zeigt kein Reiseführer. Und wenn ich in der Fischverarbeitung, den Fabriken und Manufakturen, den Werften fotografiert hätte, um zu veröffentlichen, aufmerksam zu machen, auf Zustände, die in unseren Breiten undenkbar sind, so hätte über kurz oder lang kein Weißer mehr Zugang gefunden oder es wäre mit unendlicher Bürokratie verbunden, wie bei Alang, wo die Ozeanriesen aus aller Welt von barfüßigen Männern, nur mit Lendentuch bekleidet, zerlegt und verwertet werden, während giftige Dämpfe ihre Lungen zerfressen, ihr Blut vergiften, blanker Stahl tiefe Wunden hinterlässt, die nicht versorgt nur schwer heilen in der Hitze. … Es steht mir nicht zu, diese Zustände mit meinem Maß zu messen und zu krakeelen. Schließlich kommen die Ozeanriesen aus aller Welt, auch aus Europa.

Und wenn ich schon auf die dunklen Seiten dieses faszinierenden Landes eingehe, auf die Kehrseite von Wohlstand und Entwicklung, dann darf das Thema „Plastik“ nicht fehlen. Wie habe ich mich gefreut, als in Varanasi und Kalkutta Tee aus Tontassen angeboten wurde anstatt aus Plastikbechern. Schmeckt besser und kann man auch als aufgeklärter Europäer ohne Bedenken aus dem Fenster fahrender Züge werfen. Anders die Plastikbecher für Tee, Plastikflaschen für Wasser, das wir Europäer hier in Massen verbrauchen, die Plastiktüten, die Verpackungen aller möglicher Lebensmittel, die früher in Papiertüten verkauft wurden, in mitgebrachte Metallschälchen abgegeben wurden oder die Milch, die vom Esel, später vom Motorrad aus riesigen Messingmilchkannen in kleine Alukannen geschöpft und verkauft wurde, anstatt in Plastiktüten verschweißt.

Wunderschöne Landschaft mit majestätischen Bäumen, deren Äste voller Plastiktüten hängen. Klare Wüstennächte, deren Stille vom klackernden Knacken erkaltender, gegen Felsen gewehter Plastikflaschen durchbrochen wird. Oder eine Windhose, ein Bach, Fluss, Uferstreifen voller Plastikteebecher und Folienfetzen. Eigentlich wird ja alles gesammelt und wiederverwertet. Wenn ich meine Plastikflaschen hier an den Straßenrand werfe, sind sie kurz darauf fort. Die beiden zerlumpten Jungs mit den mannshohen Plastiksäcken habe ich vor zwei Tagen um die Ecke biegen sehen. Doch wer geht schon in die Wüste, an Uferstreifen in die Wälder Müll und Plastik einsammeln, ins Nirgendwo aufs Land. Und wie sehen die Picknickplätze der etwas wohlhabenderen Mittelständler aus? „Müllplätze“ ist für unser Verständnis häufig noch geprahlt. Die Verpackungsmittelindustrie hat keine indischen Wurzeln. Teetassen waren und sind glücklicherweise vielerorts noch aus Ton. Teller und Schälchen bestehen traditionell bei den Straßenhändlern aus Blättern, die von vorbeikommenden Kühen gefressen werden. Plastikbesteck gab es nicht. Gegessen wurde und wird mit den Fingern.

Techniken werden übernommen, Produkte produziert und vermarktet, ohnedass ein Bewusstsein für die Entsorgung der Reste, den Müll geschaffen wurde. Da hilft nachträglich auch keine der unzähligen Regierungskampagnen wie „Green Delhi“ usw.. Und das scheinen alle Länder der Erde gemein zu haben: Politiker mit der Umsicht eines Autisten und dem Reaktionsvermögen eines toten Schweins - unendlich weit entfernt von den Bedürfnissen der Menschen, der Natur. Schauspieler, Marionetten, Kasper der Großkonzerne, in die sie später, nach Erwerb ihrer staatlichen Altersbezüge in Rekordzeit, wechseln, um noch einmal richtig abzusahnen. Ohne Weisheit, ohne Gewissen, ohne Herz und Seele.

Ich habe gut Reden. Sitze gesättigt nach einem Frühstück, dessen Preis zehn Inder satt gemacht hätte, auf einer Terrasse im Schatten, vom Wind umweht, während die dünnen Jungs dort unten bei annähernd 35°C ihr Tuch um den Kopf wickeln, ein kleines Brett flach darauf legen und dann zehn bis zwölf Ziegelsteine in Zweierreihen nach oben stapeln, um sie zwei, drei Stockwerke nach oben zu tragen, während Frauen in Saris aus festem, verwaschenen Tuch Wannen voller Sand oder weiterem Baumaterial auf dem Kopf balancieren und Männer auf Verschalungen von Betokonstruktionen herumturnen, die später einmal ein Haus tragen sollen, in dem sie sich garantiert keine Wohnung leisten können. Helme und Sicherheitsschuhe kennen sie anscheinend nicht, doch wenigstens sind ihre Körper mit Hose und Hemd gegen die Sonne geschützt.

Warum ich in so ein von Plastik vermülltes Land fahre, ein Land, wo Arme bis aufs Blut ausgebeutet werden, während Tempelspenden in die Milliarden gehen – Euro natürlich? In ein Land, wo Kranke auf der Straße sterben, weil die 20,00 Euro für einen einfachen, medizinischen Eingriff einfach nicht da sind, während ein reich Geschmückter die Fahrradrikscha wechselt, weil sein Fahrer aufgrund von Entkräftung zusammengebrochen ist? Vielleicht wegen dem, was dann folgt. Denn liegt der Rikschafahrer röcheln auf der Straße, kommen sie, seine Kollegen, heben ihn auf, fahren ihn in seine Hütte,wenn er denn eine hat und pflegen ihn gesund, wenn das noch möglich ist. Wenn ich in Not war, hat mir stets jemand geholfen. Und wenn ich manchmal für indische Verhältnisse zuviel bezahlt habe, ist das meine eigene Schuld. Muss ich ja nicht. Doch das hält sich alles in Grenzen.

Sobald ich indischen Boden betrete, werde ich ruhig. Ich höre mein Herz wieder schlagen, spüre das Pulsieren meines Blutes, alles entspannt sich. Ich kann lächeln oder schauen, wie ich will, doch mir ist weder nach „cool“ noch nach „ernst“. Immer bleibt ein Quentchen Humor in meinen Mundwinkeln kleben. Die Menschen und ihr Land nehmen mich auf, nehmen mich an. Nirgendwo auf der Welt habe ich eine solche Toleranz kennen gelernt, eine solche Wertschätzung. Was mir hier an Liebe und Lebensfreude auf der Straße entgegenwallt, äußert sich in Deutschland in gleichem Maße, jedoch als offene Verletzung oder in Misstrauen, Ablehnung und Skepsis.

Hier kann ich sein, wenn ich für mich sein kann, mit mir im Reinen bin und das geschieht wie von selbst. Es ist das Land, mit dessen Luft ich Zufriedenheit und Lebensfreude einatme, wie schlecht sie auch immer sein mag mit ihren Auspuffgasen und den Dämpfen verbrennenden Plastiks. Dieses Land durchwärmt mich, macht das Herz groß und öffnet die Seele. Jemand, der dieses Geschenk nicht annehmen kann, wird hier verkümmern oder durchdrehen. Mich krempelt es vollkommen um bis das Leben mir wiueder schön und lebenswert erscheint.

Es ist nie ein Schock gewesen, nach Indien zu kommen. Der Schock wartet bei der Rückkehr. Hier brauche ich nicht von einer kleinen, freundlichen Berliner Insel zur anderen zu hüpfen, besser gesagt durch Gewässer zu schwimmen, die voller nesselnder Quallen, Haie, giftiger Fische und Seeungeheuer sind. Ich werde nicht gehetzt, gedrückt, dazu gedrängt, in die Zukunft zu schauen, vorzubauen. Denn was nutzt es, wenn du früh oder auch reich an Jahren stirbst, ohne je etwas Freiheit gespürt, gelebt zu haben. Nicht die Jahre zählen, das Leben in den Jahren zählt. Hier bin ich bereit zu sterben, jede Minute, jede Sekunde, denn ich bin erfüllt und nicht gedrängt, noch das und das zu erledigen oder mich mit irgendwelchem Plumpaquatsch zu beschäftigen. Wenn Freiheit das höchste Gut ist, wird in Deutschland immer noch nach dem Motto „Arbeit macht frei“ gelebt. Und was dahinter steckt, ist mit Worten kaum zu beschreiben in seiner Unglaublichkeit.

In Indien muss ich nichts zur Schau stellen, keinen Bauch einziehen. Aufrecht gehe ich hier von selbst, außer in den kleinen Häusern natürlich. Dieses Land mit seiner Ruhe nimmt mich in seine Arme, wiegt mich, bis alles abgefallen ist, die Hektik, die Hetze, der Stress, der Druck, mit/ unter dem in Deutschland gelebt, gearbeitet, verwaltet und teilweise auch kommuniziert wird. Ich fühle mich wie bei einer riesigen Mutter, die mich in den Sclhaf wiegt, mir meine Alpträume des Lebens nimmt, mich streichelt, beruhigt und dabei stets anlächelt. So könnte ich endlos schreiben, die geneigten Leser in Metaphern voller Zärtlichkeit ertränken... Doch „Halt“, ich bin Erzähler.

Die Menschen hier mögen Geschichten und so mancher Fremde hat meine Hand gehalten, während ich erzählt habe. Sie spüren genau, wenn ich traurig bin, muntern mich auf, lenken mich ab, geben Ratschläge, ganz einfache oder schauen mich einfach lächelnd an. Da gab es keine Stadt, wo ich allein war, mich allein gefühlt habe, obwohl ich fremd bin und auch bleiben werde. So ist das, wenn man woanders hingeht. Doch finde mal Menschen, die dein Leben interessiert. Die an deinem Leben teilhaben wollen, wenn du zwei, drei Wochen in Brandenburg, im Schwarzwald oder an der Nordsee Urlaub machst. Und das, obwohl oder vielleicht auch weil eine gemeinsame Sprache da ist. In Indien setze ich mich an den Strand und schon sind Menschen da, mit denen ich rede. Über ihr Leben, ihre Arbeit, ihre Träume, über mein Land, meine Arbeit, meine Interessen. Wenn sie erfahren, dass ich lehre, mit behinderten Menschen arbeite, Kindern und Erwachsenen das literarische Schreiben zu vermitteln suche, habe ich das Gefühl, sie würden mich gleich in den Arm nehmen. Während Sozialarbeiter, Pfleger, Krankenschwestern, Lehrer und Trainer in Deutschland kein sonderliches Ansehen genießen, ausgebeutet werden und für immer weniger Geld immer mehr leisten müssen, ist es für die Inder (und hier kann ich nach acht Indienaufenthalten ohne Ausnahme sprechen) das Größte, wenn man etwas für und mit Menschen tut. Entsprechend wird man behandelt, mit Achtung und Ehrerbietung, Freundlichkeit und Gastfreundschaft. Bin ich Ingenieur, Banker oder IT-Spezialist, bleibt es beim „Good, nice, good job“. Das ist völlig ungewöhnlich für mich. Das heißt jedoch nicht, dass ich weniger bezahlen muss oder sonstige Vergünstigungen bekomme, typisch Inder...

Heute Morgen saß ich am Meer und sollte einem Mann erzählen, wie es möglich war, von Westberlin nach Westdeutschland zu fahren, auf dem Transitweg durch die DDR, denn das kann sich hier kaum jemand vorstellen. Ich war sehr erstaunt über eine solche Frage und musste mit den Fingern im Sand zeichnen, um die Situation und den Weg, die Grenzen und Kontrollen zu veranschaulichen. Und ich bin sicher, dass dieser Vater es seiner Familie, seinen Kindern erzählen wird.

Das ist etwas anderes als: „Haben Sie gut geschlafen?“, „Wie wird das Wetter?“, „Wie steht es mit dem Stuhlgang?“. Kindern gelingt spontane Kontaktaufnahme. Und hier in Indien sollte man wieder ein Stück weit Kind werden, womit ich offen, rein, neugierig, gierig auf Neues, auf Leben, auf Erfahrung meine, nicht kindisch. Vielleicht verhält es sich so wie mit:
Inder! - Kinder!
Das reimt sich schließlich und ist wunderschön.

Wer Urlaub machen möchte, ohne gestört zu werden, ohne Kontakte zu knüpfen, was ab einem gewissen Maß ja auch anstrengend werden kann, der sollte nicht nach Indien kommen oder in ein abgeschlossenes Resort ziehen bzw. mit einer Reisegruppe fahren, die rasch von einem Kulturereignis zum anderen kutschiert wird und in Hotels der gehobenen Klasse nächtigt und isst. Für derartig interessierte Landesbesucher sind familiengeführte Gasthäuser, Alleingänge in Räume der Alltagswelt, Fahrten 2. Klasse in der Bahn, der Lebensader Indiens, in öffentlichen Bussen über Land wenig empfehlenswert. Das heißt, dass ihnen mehr als 95 Prozent des Landes verborgen bleiben werden. Sie werden auch nicht begreifen können, dass man vielerorts für fünf Euro am Tag recht gut leben kann, was Schlafen, Essen, Trinken, Rauchen und die eine oder andere Nascherei einschließt. Doch jedem Tierchen sein Plaisierchen – schließlich ist der Mensch auch nicht mehr als ein „denkendes Tier“.

9. März 2012ff

Ich bin von meinem Freund Rohit in Delhi gefragt worden: „Was denkst du über Indien, Stefan?“ Ich weiss keine genaue Antwort. In Indien hat einfach alles mit Gefühl zu tun. Denken über Indien? Ist das überhaupt möglich? Denken spielt hier kaum eine Rolle. Informationen, Statistiken, Zahlen, Reportagen und Berichte gibt es massenhaft. Fernsehen und Internet sind voll davon. Und Gefühle mitteilen? Gefühle können sicher nur ansatzweise über Medien transportiert werden, wenn sie schon nur unzureichend über Metaphern und Bilder beschrieben werden können. Nur zu oft gleitet das ab in dumme Phrasen, in billige Endlosschleifen wie ein dahingeworfener „Liebling“, ein plakatives, geistlos dahergesagtes „Ich liebe dich“, „mein Schatz“ oder schlimmeres, dumpfes Nachgeplapper.

Wenn ich von Indien erzähle, vermag ich höchstens schemenhaft einen Ausschnitt zu vermitteln, ähnlich dem Blick von einer hohen Brücke auf eine Flusslandschaft im Novembernebel. Wenn ich Reportagen sehe, im Internet lese, so sind das lediglich Ausschnitte des indischen Lebens, Szenen wie aus einem Familiealbum. Ich vermag, ihnen meine Erlebnisse und Bilder zuzuordnen, die ich mitgenommen habe nach Deutschland, doch wie viele Zuschauer waren schon einmal in Indien? Wie mag das auf sie wirken? Wie ein Familiefotoalbum von Fremden? In Indien gibt es 22 offizielle Sprachen, alle denkbaren Glaubensgemeinschaften, das Spektrum aller Hautfarben von Weiß bis schwärzer als in Afrika, mehrere tausend Meter hohe Berge, ewiges Eis, Wüsten, Meer, Dschungel und Hitze über 50 Grad Celsius von absolut trocken bis tropisch nass. Indien ist ein Subkontinent, wie es ihn auf der Erde nur ein Mal gibt. Es gibt zig Berichte über Luxuszüge, die weder ich, noch mehr als 90 Prozent der Inder sich leisten können. Das ist wie mit den Berichten über die Königshäuser Europas. Es gibt daneben Berichte über Slums, Armut, Kinderarbeit, Frauen, modernes Leben, Wirtschaft, Gifte in Farben, Genmanipulation, die sicherlich sehenswert sind. In der Berichterstattung vermisse ich das, was für mich dieses Land ausmacht, die Feinheiten, die Details, die kleinen Dinge, die Begebenheiten am Rande der Straße, die Blicke, Berührungen und Gerüche, grob gesagt „das, was Besuchern an tiefen Erlebnissen mit den Menschen übeall in Indien widerfahren kann, was sie erleben können, könnten“.

Indien ist und bleibt ein Land für mich, in das ich hineingleite. Wenn ich aus dem Flugzeug steige, berühren meine Füße den Boden dieses landgewordenen Tempels, der alle Religionen unter einem Dach vereint und in beispielhafter Weise eng nebeneinander leben lässt. Immer wieder gibt es Unruhen, Stress, Streit und auch Ausschreitungen, die, wenn sie blutig genug sind, über die Nachrichtenbildschirme nach Deutschland getragen werden. Doch gemessen an der Enge, die beispielsweise im Fischervillage hier herrscht, wo Christen neben Hindus und Moslems Hütte an Hütte, Raum an Raum oft zu sechst auf vier Quadratmetern leben, passiert erstaunlich wenig Negatives. Die Farbenpracht dieses Landes, schon allein die bunten Saris der Frauen, die der Gewürze, des Gemüses, des alltäglichen Schmucks vermögen bildlich festgehalten zu werden, doch keine Reportage vermag die Gerüche zu vermitteln, sowohl die frisch zubereiteten Dals, der Gewürzmärkte, der Reisfelder, Plantagen oder auch die der Kloaken, Müllberge und verseuchten Flüsse.

Was soll ich dir sagen, mein lieber Rohit, der du Indien kennst, nicht jedoch den Vergleich mit Europa zu ziehen vermagst? Was denke ich über Indien? Mir bleiben Bilder, Fotos, Begebenheiten, Landschaften, ein Weg der Bilder, den du als Fotograf zu gehen verstehst, vermagst. Und dann sollte da das typisch deutsche „Warum?“ sein. Das fehlt. Das habe ich mir hier schon seit dem ersten Aufenthalt fast vollständig abgewöhnt. Warum?

Das „Warum?“ ist wie ein Spinnennetz der Gedanken, es fordert einen immensen Energieaufwand, da durchzukommen, es zu durchzudenken, ohne sich darin zu verfangen. Es belastet. Das „Warum?“ prügeln sie in Deutschland Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in den Kopf, vom Kindergarten an. „Warum?“ ist abstrakt – bleibt abstrak in seinen Antworten. Im „Warum?“ können sich Politiker in ihren Reden drehen, bis keiner mehr weiß, wo oben und unten ist und eigentlich keine klare Aussage getroffen wurde. „Warum?“ kann vielfältige Erklärungen und Sichtweisen nach sich ziehen. Eine „Warum?“-Frage kann einen den ganzen Urlaub beschäftigen, ohne eindeutig beantwortet zu werden. Ich persönlich sehe darin eine stetige Belastung und eine Gefahr. Manches ist eben wie es ist. Und wer Leben, Land und Menschen nach seiner Einstellung, Kultur und Philosophie beurteilt, wer urteilt, wird immer einen Grund finden, auf andere herabzuschauen oder in fremde Länder einzumarschieren, Durcheinander zu bringen und Tod.

Warum also „Warum?“? Um etwas zum Guten zu verändern? Keine Wahl der Welt hat je grundsätzlich etwas für die armen Massen verändert außer zum Schlechten und für den Geldbeutel oder die Position der Regierenden, die von der Wirtschaft nicht zu trennen sind. Und wenn jemand behauptet, das oder das sei besser geworden, dann wage ich zu behaupten, dass das der Krümel ist, den man dem Löwen hingeworfen hat, damit er ruhig bleibt. Und das Volk ist der Löwe, überall, nur eben meist, ohne sich dessen bewusst zu sein. Der Krümel, das bischen, was die Menschen überleben lässt und davon abhält, aufzustehen und sich zu wehren, ist im Vergleich zum Gesamteinkommen in den Staaten verschwindend gering. Doch davon an dieser Stelle genug! Alles was ich sage, ist sowieso schon einmal gesagt worden. Indien schafft Raum zum Philosophieren und Nachdenken. … und selten nur habe ich geträumt wie hier. Doch nun zurück zum sichtbaren Indien. Zurück zu Geschichten und Bildern.

11. März 2012f

Am Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, weckt mich der Geruch von gebratenem Fisch. Das ist mir dann doch etwas zuviel um diese Zeit. Indische Mägen scheinen unverwüstlich. Reisbällchen in Kokoscreme mit Currysauce, Dal mit Roti oder fettige Parathas mit pikanter Sauce, das verstehe ich noch, wenngleich es häufig sehr scharf ist, doch Bratfisch? Während ich zum Strand gehe, sehe ich überall Menschen mit Zahnbürsten und Meswakstöckchen putzend, kauend und schäumend am Staßenrand, auf Baustellen und in Höfen stehen. Manchmal reden sie auch noch beim Zähneputzen. Ich bin erleichtert, dass mich die meisten hier kennen und in Ruhe gehen lassen, während die neuangekommenen, indischen Touristen nicht verstehen können, dass ich so früh keine Fotoshootings mag, doch manche stellen sich einfach vor mich und legen los. Da brauche auch ich dann keine Skrupel zu haben, wenngleich Touristenportraits reichlich überflüssig sind – völlig uninteressant und annähernd ausdruckslos.

Gestern Abend war der Strand voll von Menschen. Der Samstag nach Holi in der traditionellen Ferienwoche. Durch die CT-Road schoben sich hupende Autokaravanen, Busse, Tuctucs. Dazwischen schlängelten sich Motorräder und Fahrräder durch. Ich saß vor meinem Stamminternetladen auf einem niedrigen Schemel, atmete Staub und Abgase und sah dem Treiben direkt vor meinen Füßen zu. Vollbeladene Jeeps, von Staub bedeckt und durchweht, besetzt mit über 20 Leuten. Landrover, vollklimatisiert, mit hochgefahrenen Scheiben und klapprige Kleinbusse ohne Scheiben, wo noch ein paar Leute am Türrahmen hingen.

Ich musste mir den Staub aus dem Mund spülen. „Saturday Nightfever in Puri“. Mein Wasser-, Zigaretten-, Keks-, Seifen-, und was weiß ich noch alles -Verkäufer lachte. Sein Gesicht war noch schwarzrot von den Holifarben. Kleine spitze Zähne zeigte er in seinem Mund, der betelnuss- und tabaksaftverfärbt war, das kleine, sympathische Schlitzohr. Immer berechnet er ein paar Rupien mehr und schafft es mit seinem Scharm immer wieder, dass ich das erst später bemerke.

Bei mir ist es ruhiger. Die kleine Nebenstraße liegt zurückgesetzt. Vor dem Haus auf der staubigen Straße lebt ein Hund, das heißt mehrere, doch einer ist außergewöhnlich. Er sieht kräftig aus, doch Fell hat er kaum noch. Sein nackter Schwanz steht ab wie der eines Geckos, nur ohne Schuppen. Mittags verkriecht er sich in den Schatten unter parkenden Tuctucs wie ich in meinem Zimmer im Bett, während der Ventilator melodisch klappert und ich in die Träume des Nachmittags gleite. Zuweilen kratzt er seine braune Haut, jedoch ohnedass ich Wunden erkennen kann, von weitem. Doch an einem Tag steht er vor mir und ich sehe Centgroße, blutige Abzesse. Dann wiederum keucht und hustet er, als würde sein letztes Stündlein geschlagen haben. Pradip, die gute Seele des Hauses sagt, er würde bald sterben. Die Menschen lassen ihn. Futter bekommt er wie alle anderen. Gleich den Hündinnen, die schon häufig geworfen haben, die unten am Bauch ein hängendes Euter tragen, dass beim Gehen hin- und herwackelt wie beim Fettelchen, der kastrierten Katze meiner Freundin. Doch der nackte Hund hat an seinen Artgenossen anscheinend kein Interesse, wiewohl auch sie ihn zu meiden scheinen. Am Strand habe ich ihn auch schon getroffen, allein mit der Schnauze in den Abfallhaufen, die hier kaum jemanden zu stören scheinen.

Bei den Tieren ist es hier ähnlich wie bei den Menschen unterschiedlichen Glaubens. Da liegt vormittags immer eine Katze auf dem Fensterbrett in dem alten Haus auf dem Weg zum Strand, was zugebaut wurde vom Tempel und modernen Hotels. Die vom Monsunregen verwaschene Fassade hat einen Grauton angenommen und zeigt am Fundament Moosbewuchs und Risse. Das Dach trägt kleine Bäumchen, wie die Vorsprünge über den Fenstern. Die Katze räkelt sich in der Sonne vor hölzernen Fenstergittern, von denen Reste hellblauer Farbe blättern. Ein Hund döst gut einen Meter vor ihr in gleicher Höhe auf der Mauer und gähnt. Wenn man in den schmalen Vorgarten schaut, sieht man einen alten Korb, der umgedreht an der Hausmauer lehnt, gleich neben dem Fenster der Katze. Darunter liegt eine der eben beschriebenen Hündinnen und säugt ihre Welpen. Ein Universum auf gut zwei Quadratmetern. Ein Mal bin ich länger stehen geblieben. Da fingen die Hunde an zu knurren und zu bellen. Ein paar Meter daneben, auf dem hohen, schicken hellgrün, gelb getünchten Hotel toben Affen über das Dach, rütteln an den Verschlüssen der Zisternen, saugen an Rohren und Schläuchen. Sie haben Durst. Manchmal hausen sie im Rohbau geradeüber im zweiten Stock. Auf der Terrasse hier waren sie ein Mal, das heißt an der Brüstung. Doch nicht immer ist es so einfach, sie zu verjagen.

Ich sitze am Meer. Der Bratfischgeruch ist mir längst aus der Nase geweht worden. Auch heute wieder ungewöhnlich viele Menschen. Gleißend silbernes Licht spiegelt sich auf der Oberfläche. Weiter vorn schlagen mannshohe Wellen auf den Strand. Keiner geht da weit hinaus. Überall stehen Gruppen, planschen Familien im seichten Wasser, lachen. Ich sitze im feuchten Sand. Kleine Krabben schauen aus ihren Löchern, fast durchsichtig, so jung. Später färben sich erst die Scheren rot, dann der Panzer oder braunweiß, in gestreiftem Muster. Neben mir schaut eine aus dem Bau. Mein Bein bewegt sich unmerklich, weg! Ich habe sie probiert im Village. Das Fleisch der Scheren mag ich eigentlich, doch sie sind zu klein hier, jedoch den ganzen Körper samt Eingeweiden? Das fühlt sich weich und gar nicht gut an im Mund, wenngleich der Geschmack recht mild ist.

Vor mir schreitet ein Weißgekleideter vorbei. Weißer, langer Bart und Ghandibrille, ein weißes Handtuch wie bei uns die Frauen ihr Kopftuch um den Kopf gebunden. Die kleine Krabbe direkt neben mir verschwindet in ihrem Bau.

Ein kleines Stoffbeutelchen am Handdelenk, in dem die Hand unermüdlich die Mala knetet, den Mund stets in Bewegung vom Mantra. Sie sind weiß gekleidet und kommen meist aus Osteuropa. Auf dem Weg zum wahren Hinduismus preisen sie Hare Krishna und eilen den Strand entlang. Indische Besucher sehen ihnen häufig äußerst skeptisch hinterher. Als vergangenes Wochenende die Krishna- Mädchen verschwanden, waren auch die indischen Gigolos nicht mehr zu sehen. Es war ein Treffen außerhalb und auch Ronaldinho, von uns so wegen des Fußballtrikots getauft, das er ständig trägt, ward nicht mehr gesehen. Was da wohl so vor sich geht? Die farblose Hare Krishna- Tröte, die abends mit Megaphon am Strand stets einige Inder zu fesseln vermag, walkt heute allein am Strand. Etwas Europa scheint ihr also geblieben zu sein. Und sei es die Geschwindigkeit. Ich habe sie auch schon auf dem Fahrrad gesehen, von weitem hörbar, ihr Megaphon. Ein entrücktes Grinsen begegnet meinem Blick. Doch auch beten und bekreuzigen geht hier am Strand im heiligen Puri. Das praktizieren eine russische Mama und ihre junge Tochter.

Tuckernde Dieselmotoren hämmern im Morgendunst. Die Sonne bricht jedoch nur zeitweise durch, die Wasseroberfläche in gleißend silbernes Licht zu tauchen. Um 7:00 Uhr hat sich der Strand gefüllt, während draußen auf dem Meer Dutzende Fischerboote über Schleppnetzen in den Wellen taumeln.

Überall Photoshooting im Morgenlicht. Seitdem Fotohandys erschwinglich sind, machen die Strandfotografen kaum noch ein Geschäft. Die Inder blicken mich an, wie ich schreibe. Einige schauen mir über die Schulter. Einer fragt: „Poetry?“ „No, shortstories!“ Doch so ganz richtig ist das ja nicht. Aber Bilder schreiben, das hat bisher kaum einer verstanden.

Erste, kleine Marienkäfer landen auf meiner Haut, die von der feuchten Salzluft ganz weich und glatt ist. In den ersten Tagen läuft die Nase, man hustet viel, bis alles da drinnen sauber ist, und sauber bleibt auch die Haut, wenn man nicht zu viele Hände schüttelt.

Die Sonne lässt den Morgendunst verdampfen. Und wieder steht da einer neben mir, steht einfach da, sagt nichts, kaut, sagt nichts, rotzt Tabaksaft in den Sand. Wenn ich schreibe, werde ich nur selten gestört. Wenn ich aufblicke schon. Ich bringe es nicht übers Herz, die Menschen hier böse anzuschauen. So schauen sie zurück und kommen dann. Ein Junge bittet um ein Autogramm. Ein Mann, der von Siemens zum Techniker fortgebildet wurde, lädt mich nach Jamshepur ein. Seine Frau nickt. Ich weiss nicht einmal, wo das liegt. Den beiden und ihren Kindern geht es gut. Sie leben in einer Colony, also vielleicht gehobener Lebensstandart, eine Wohnung in ruhiger Lage.

Auf dem Rückweg komme ich wieder an der Katze und den Hunden vorbei. Sie liegen unverändert wie vor eineinhalb Stunden. Ich gehe frühstücken, europäisch frühstücken, mit Obst, Joghurt, Müsli, Eiern, Tomate und Toast.

Nach ausgiebigem Mittagschlaf gehe ich zurück an den Strand, laufe auf hartem, feuchten Sand, den die Flut reingewaschen hinterlassen hat. Da sitzen sie wieder und verrichten ohne Scham ihr Geschäft. Teilweise so selbstverständlich, dass sie dabei telefonieren und mich angrinsen, während die Häuflein unter ihren Rosetten in die Höhe wachsen. Die Kinder des Village spielen in großen, tiefen Pfützen mit selbstgebastelten Booten aus Holz oder Styropor. Nur wenige von ihnen lassen sich durch meine Anwesenheit stören. Ein Boot kehrt mit großen Fischen zurück. Ein dürrer, fast schwarzer Mann im Lungi schleppt auf der Schulter eine Art Seehecht, der annähernd zwei Meter lang sein muss, vom Durchmesser eines wohltrainierten Fußballeroberschenkels. Was dieser Fisch wohl wiegen mag? Dann schießt das Boot in einer auslaufenden Welle heran, den Motor so weit nach oben geschwenkt, dass kein Bodenkontakt entsteht. Und nach einem guten Kilometer an weiteren Booten vorbei, die fest im Sand des Strandes liegen, stehe ich an einem endlosen, etwa 50 Meter breiten Strand, der, wenn ich noch ein paar Hundert Meter weiter gehe, menschenleer sein wird, ein Traum. Ein holy Man und ein Hund, der eine halbe Kokosnuss, die noch voller Fruchtfleisch ist, im Maul trägt und mich anknurrt, sind die einzigen, die ich treffe.

Ich gehe vorsichtig ins warme Wasser, das nicht die geringste Abkühlung verspricht. Ich schwitze einfach weiter, werde kurz darauf von einer Welle umgerissen und bin froh, dass der Strand voller Exkremente ein Stück weit entfernt liegt, als mein Kopf ins Wasser eintaucht. Es ist ein schönes Gefühl, von den Wellen getragen zu werden, doch vor die zweite Sandbank werde ich nicht schwimmen, wenngleich mir einige Touristen und ein Inder versichert haben, dass Schwimmen hier ungefährlich sei. Ich habe einen Höllenrespekt vor der Kraft des Wassers und dem Getier, was es beherbergt.

Mein Nachbar hier im Hostel, der seit einigen Jahren in Indien ist, weil er Deutschland, er kommt aus Stuttgart!, nicht mehr ertragen kann, antwortete auf die Frage nach den gefährlichsten Situationen in Indien, das sei beide Male im Meer gewesen. Ein Mal in Indien, ein Mal außerhalb, doch in Asien, Indonesien. Er sei zu weit hinausgeschwommen und von einer Qualle erwischt worden. Das seien Höllenschmerzen gewesen, Fieber danach. Eine gehörige Portion Glück gehörte dazu, dass er es überhaupt zurück geschafft habe. Er hatte Wochen mit den Verletzungen zu tun. In Indonesien müssen es fünf unterschiedliche Arten gewesen sein, die kleine Giftpfeile auf ihn abgeschossen haben. Das sähe man an den unterschiedlichen Narben, kleinen, braunen Punkten an seinem Körper. Als sich dann auch noch eine Stelle am Fuß entzündete, habe es ziemlich auf der Kippe gestanden, mit ihm. Und auch jetzt kämen immer wieder Nachwirkungen, denn die Pfeile seien ja noch drin. Also nicht ohne Grund, mein Respekt. Und hier ganz besonders, weil ich fast allein bin am Strand. Schön einerseits, absolut ruhig, doch auch nicht ungefährlich.

Als ich zurückgehe, kommen schon mehr Kinder auf mich zu, einige Jugendliche, von denen Raj Kumar ein richtig gutes Englisch spricht. Sie begleiten mich ein Stück am Strand, während mir der 15-jährige Junge erstaunlich kluge Fragen stellt, die weit über: „What´s your name? Where do you come from? How tall you are?“..., hinausgehen. Und er möchte wissen, wann ich wiederkomme. Bald, morgen, übermorgen. „Um drei?“ „Nein, eher nach vier.“ Dann ziehen sie winkend von dannen.

Zum Abschluss des Abend, ich bin völlig geschafft, esse ich bei Radju. Etwas abgelegen in einer Nebenstraße liegt dieses Eckrestaurant, in das auch ich ohne Empfehlung nicht hineingegangen wäre. Schon auf hundert Meter gesehen, hielte es keiner unserer Hygieneverordnungen stand. Der Blick in die Küche auf die wackeligen Holztische und den Boden steigert auch meinen Apetit nicht gerade, doch ich vertraue Pradip und den anderen, die es mir empfohlen haben und bereue es nicht. Der kleine, runde Radju in schmuddeligem Unterhemd und „Röckchen“ zaubert ein fantastisches Pfannengemüse und abgestimmt gewürztes Fishcurry auf den Tisch. Ich esse mit Apetit und genieße. Kurz darauf muss ich zurück, muss bald ins Bett, so erledigt bin ich für den heutigen Tag. Ich schlafe dann auch tief und traumlos bis zum nächsten Morgen.

Heute ist rasieren dran. Nach Frühstück mit frischen Backwaren gehe ich zu meinem Barbier. Natürlich verlaufe ich mich wieder einmal und lande in einer kleinen Kolonie mit diesen typischen, einstöckigen Ghandihäusern auf kleinen Grundstücken. Hier ist es ruhig und friedlich, die Palmen rauschen im Wind. Träge, bunt gekleidete Frauen sitzen herum. Hunde und Katzen dösen, und in so manchem Garten liegt jemand, der schnarcht. Leuchtende Blumen, meist in Rot und Purpur, grüne Bäume und Hecken. Dazwischen Zäume aus Altmetall von der Eisenbahn. Das ist schon weitaus entspannter hier als in dem kleinen Slum, in den ich am Abend nach meinem letzten Versuch, den kürzesten Weg zu finden, geraten bin.

Angst habe ich dort nicht gehabt, doch die aufgeregte Kinderschar, die immer größer wurde, und mich teilweise stolpern ließ, weil sie mir vor den Füßen herumhüpfte, die vielen Schmuddelhände, die ich schütteln musste und die Kleinen, die manchmal regelrecht an mir hingen, können schon auch sehr, sehr anstrengend sein. Wenn ich denen auch nur die kleinste Kleinigkeit gegeben hätte, und viele von ihnen betteln nach „Rupies, Schoolpens, Candy,...“, hätten sie mich in ihrer Aufregung umgerissen. Da Stromausfall war, hatte ich Schwierigkeiten, den Weg zu erkennen. Doch die Erwachsenen haben ihn mir schließlich erklärt. Immer ruhig bleiben, die Kinder ermahnen, was antiautoritär chancenlos ist und niemal schneller gehen rate ich denen, die in ähnliche Situationen kommen sollten. Völlig durchgeschwitzt habe ich dann wenigstens wieder zurück zur Hauptstraße gefunden.

Nein, da ist es zwischen den kleinen Häusern und Gärten schon richtig angenehm, obgleich auch hier großes Interesse an meiner Person besteht, doch ich habe keine Lust, zu ihnen zu gehen, die mich heranwinken. Der Bart kratzt. Dann finde ich meinen Barbier. Der liegt fast genau nördlich von meiner Herberge. Geradeaus, einmal rechts, links und wieder rechts. Irgendwann klappt es, dann finde ich mich zurecht. Ich muss nur genug laufen. Die Jungs erkennen ihren bestzahlenden Kunden natürlich sofort. Doch ich warte, wie alle anderen, lege meine Tasche in ihren Laden und gehe nebenan eine Thumbs Up, eine indische Cola trinken, die trotz Übernahme des Giganten immer noch erfrischender schmeckt und nicht so süß ist. Das kriegen sie natürlich ganz genau mit. Dann bieten sie mir eine Zigarette an, weil sie gesehen haben, dass ich vor dem Laden des Händlers geraucht habe, doch so viel muss nicht sein. Während ich auf dem hellblauen Holzschemel vor der Tür warte, beobachte ich das Straßenleben in der aufkommenden Mittagshitze und bin wieder einmal völlig fasziniert: Was die nicht alles auf dem Kopf durch die Gegend schleppen. Von Backsteinen, Schüsseln voller Baumaterial, Fischen, Körben voller Obst und Gemüse habe ich ja schon erzählt. In Jaisalmer habe ich Nähmaschienen auf Köpfen gesehen und hier trägt wahrhaftig eine Frau ein etwa 40 Zentimeter langes Stück Eisenbahnschiene auf dem Haupt. Ich staune noch, als die Jungs mich hineinwinken, und verlasse 20 Minuten später gereinigt, geknetet, glattrasiert und frisch ihren Laden.

Als ich mittags verspätet Obstsalat esse, können sie nicht wechseln. Auch mein „Wasweißich-Händler“ kann nicht wechseln, doch alle sagen:“Tomorrow!“ Also bin ich nach einer Woche kreditwürdig? Und das bei den geschäftstüchtigen Hindus? Na ja, sie merken schon, dass ich mich wie Zuhaus fühle.

Puri, 13. März 2012

Es ist heiß und stickig. Gestern den ganzen Tag Wolken, heute am Vormittag auch. Nachts Mückenterror und nur wenig Wind. Ich war wach in der Nacht, draußen, bis die Mücken mich hineingetrieben haben. Man hört sie nicht, sieht sie nur selten, doch dann beginnt das Jucken. Wer einigermaßen mit Mückenstichen klar kommt, ist den Juckreiz nach gut einer Stunde wieder los. Doch manchmal bleiben auch Blasen zurück. Wenn sie sich nicht infizieren, sind sie schnell verheilt. Außerhalb von Puri, in den Dörfern, oder am Chilika Lake sowie im Umland grassiert vielerorts Malaria und Dengue- Fieber. Von hier gibt es auch unter den langfristigen Gästen keine Berichte über derartige Infektionen. Wenn sie denn auftreten, ist das ein „Geschenk“ mit lebenslangen Folgen und oftmals tödlichem Ausgang, denn die medizinische Versorgung rangiert hier auf einem ganz anderen Niveau als in Berlin und die Hitze tut ihr Übriges.

Pradip hat mir einen Verdampfer gegeben. Das Öl riecht angenehm und ist hoffentlich keine chemische Keule. Seitdem waren keine Mücken mehr im Zimmer, wenn es arbeitet. Doch wer ist schon gern in einem Raum, wenn der angenehme Abendwind über die Haut streicht oder die Nacht langersehnte, vergleichsweise Kühle bringt. In der Odomos-Creme, die Mücken nehmen schon von Weitem Reißaus, ist Nervengift DEET, bestimmt verwandt mit DDT. So genau weiß ich das nicht. Doch anderes scheint wenig wirkungsvoll. Und das Süßungsmittel „Aspartam“ in Cola light ist schließlich auch Gift.

Regelmäßig essen, bloß immer regelmäßig essen bei der Wärme. Doch keine Lust mehr auf dieses europäische Frühstück, das sicherlich kein deutsches ist. Seit Tagen gab es bei mir morgens weder Toast noch Omelette, noch Müsli in Fruchtsalat mit Joghurt, weder Marmelade noch Pfannkuchen, die ich auf der ganzen Reise noch nicht probier habe. Ich sitze vor der Bäckerei und warte. Sie machen erst um sieben auf. Dann noch etwas warten, bis die frischen, warmen Weizenfladen da sind. In der stickigen Luft fast ohne einen Windhauch wird die Haut nicht trocken. Die vorbeiziehenden Menschen, alte Frauen, die in ihren bunten Saris zahnlos ununterbrochen quasseln. Und wieder die, die Schleppen und Lasten auf Fahrradrikschas vorbeischieben. Ich könnte ewig hier hocken und beobachten. Ein Weizenfladen kostet 3 Rs 50 Paisa. Seit langem habe ich wieder einmal Paisamünzen in der Hand. Köstlich sind die Handtellergroßen, noch warmen Brote mit eigens importiertem Olivenöl und frischen Tomaten vom Händler nebenan. Und danach kleine Reisschrotfladen mit scharfer Kokossauce. Das tut so gut, wie der Espresso danach. Kaffee hier in Puri, guter Kaffee, sozusagen ans Bett gebracht. Ein Hoch auf die Italiener im Haus und auf Pradip, die gute Seele. Er besorgt auch noch Papaya, Bananen und Orangen. Obst gibt es hier in den Läden nur sehr beschränkt. Da muss man zum Markt oder weiter rein in die Stadt. Das ist relativ weit und stressig. Ich bin vollgestopft, doch es geht mir weitaus besser als nach labbrigem Toast mit Eiern, wobei ich nur einen Bruchteil vom Restaurantpreis bezahlt habe. Leider war das der letzte Kaffee. Die Vorräte sind erschöpft.

Am Strand wird es ruhiger. Während mich gestern noch drei Reverends angesprochen haben, bleibe ich heute fast für mich, sehe den Fischern zu, die zurückkommen und kleine Kingfishs, unterarmlange, schlanke, blausilber glänzende Makrelenarten und ein paar größere Fische aus den Netzen und dem Kiel des Holzboots holen. Auch ein paar Taschenkrebse und Riesengarnelen sind dabei, wobei letztere mit zwei großen Fischen an indische Touristen gehen, ordentlich bezahlt. Die Frau im roten Sari zuckt zusammen, als der eine Fisch in der Tüte zu zappeln beginnt. Ganz frisch eben. Im Gegensatz zu der faltigen Alten, die sich die Makrelen geschnappt hat. Sie sind sehr gehaltvoll, doch mir schmecken die Kingfishs mit ihrem festen Fleisch weitaus besser.

Ich bringe meine Hose zum Schneider. Heute Abend hat sie neue Taschen. Als ich zurück auf die Terrasse komme, ist unser Schlepper vom ersten Tag da. Puri war ziemlich überfüllt vor Holi. Ich bin ihm noch immer dankbar, dass er uns zu Pradip gebracht hat. Sonst wäre ich sicherlich auch schon weiter gezogen. Die Terrasse ist ein Geschenk des Himmels bei der Hitze.

Das Tschillum kreist. Irgendwann werde ich kein Marihuana mehr riechen können. Sie sind hier, um sich vollzudröhnen, viele Europäer, den Tag zu verträumen und was sonst noch? Ich verstehe das so wenig wie Urlaubsbesäufnisse. Doch es kommt wohl auf die Gesellschaft an. Vielleicht auch etwas aufs Alter? Früher war das bei mir auch um einiges anders. Doch Indien ist bis auf ein paar Feiern mit Freunden ein Land, wo mir Abstinenz rein gar nichts ausmacht. Deutschland, Berlin häuft täglich so viel Mist im Kopf an, vor allem was die Menschen und das Miteinander dort betrifft. Da reicht die körper- und seeleneigene Schwemme oft nicht mehr aus. Da muss ich dann schon das eine oder andere Mal nachspülen.

Der Schlepper erzählt von Religion. Er mache Puja. Heute wird gefastet. Na ja, bei der Hängewampe, die er da mit sich rumschleppt, macht das gar nichts. Sein Fasten meint jedoch neben Tee und Wasser auch Tschillum. Na dann mal los. Die Jungs am Tisch bekommen rasch große Augen, die Gespräche werden langsamer, bis sie ganz einschlafen und alle nur noch vor sich hinstarren oder eindösen.

Der Schlepper ist kein offensichtlicher, gieriger Geschäftemacher. Auf seine Art ist er sicher recht clever. Er hält einen Vortrag darüber, dass man Freundschaft und Geschäft, bzw. Geld immer trennen sollte. Es macht Spaß, ihm zuzuhören,wenngleich ich nicht viel Neues erfahre. Doch so ist es immer, wenn Kiffer sich unterhalten. Der Gehalt an neuen Gedankenanstößen oder Gedanken ist weitaus niedriger als bei einem Spaziergang in der Straße, die man seit Jahrzehnten jeden Tag durchläuft.

Die zugeballerten, selbsternannten Sadhus, die überall bettelnd in Touristenorten rumlungern mit ihren Vorträgen, die ich fast wortgleich in irgendwelchen Ratgeber- und Esoterikschwarten nachlesen kann, hätten mich vielleicht in spätpubertären Jugendjahren fasziniert. Jetzt erscheinen sie mir langweilig. Ich habe mit vielen klugen Menschen in Indien gesprochen. In Tempeln, Moscheen oder einfachen Werkstätten. Viel gegeben haben mir die, die im Leben stehen, die arbeiten, ob sie nun schweißen oder unterrichten, heilige Bücher lesen und die Gärten des Tempels pflegen oder Lkw fahren. Das spielt keine Rolle. Es waren stets die, die etwas getan haben.

Hier am Meer, außerhalb des Ortes wo kaum noch ein Mensch ist, geht täglich ein düster dreinblickender Typ an mir vorbei, lediglich mit orangem Lendentuch bekleidet, in der einen Hand einen Stock, Haare und Bart im Wind wehend. Er schaut mich nicht an und legt sicherlich Dutzende von Kilometern am Tag zurück. Was ich an ihm mag, ist seine aufrechte Haltung, dass er nicht redet, nicht die Hand aufhält. Denn wahre Sadhus haben das nicht nötig. Und die gibt es natürlich auch, wenngleich man sie selten trifft, denn was sollen wahre Sadhus in Touristenorten?

Unser Schlepper bring uns in den Genuss weiterer Ausführungen, verdammt jetzt erst einmal Medikamente und Chemie. Wenn einer krank werde, dann mache er Puja. Und früher habe es Ayurveda gegeben. Bis zu einem gewissen Punkt muss ich ihm recht geben, wenn ich sehe, wie viele Leute in die Medical-Stores rennen und sich Hammermedikamente besorgen. Da wird eine leichte Erkältung mit Antibiotikum bekämpft und die Verwunderung ist groß, wenn sie drei Wochen später wieder krank sind. Doch das braucht mir keiner zu erzählen als wäre es die Entdeckung des Perpetuum Mobile.

Dann ist „Familie“ dran. Drei Töchter hat er und einen Sohn. Neben der Aussteuer, dem Schmuck, Fußringen und -Kettchen, Armreifen und -Bändern, Ketten usw. aus Silber und Gold, kostet eine Hochzeit für seine Mädchen mit drei- bis fünfhundert Fressern etwa zwei Lakh, das sind 200.000 Rupies, also über 30.000 Euro. Das habe er nicht. Nein, reich ist er nicht. Doch clever genug, in seinem kleinen Haus zu bleiben und das Land, den Familienbesitz jetzt nicht zu verkaufen. In guten Lagen in Puri verdoppeln sich die Grundstückspreise in zwei Jahren. Sie erreichen den Preis, der in deutschen Kleinstädten in guter Lage, also in den geförderten Einfamilienhausghettos gezahlt werden muss. Damit meine ich jedoch keinesfalls verlassene Regionen in Sachsen- Anhalt, Niedersachsen oder Mecklenburg-Vorpommern. Grundstücke sind hier in Puri ein Riesengeschäft. Und gebaut wird bis zum Kollaps. Wenn ich in zwei, drei, fünf Jahren wiederkomme, steht vor der Terrasse sicher ein zwei-, dreistöckiges Haus. Doch ich habe ein bischen Hoffnung, dass meine Arbeitsecke mir weiter den Ausblick bietet und die Nähe zu den Raben, die sich mehr und mehr an meine Anwesenheit gewöhnen. Mittlererweile fressen sie knapp zwei Meter vor mir die Reisreste der Familie von nebenan, während der fast nackte Hund unter einer Fahrradrikscha im Staub schläft.

Die Mittagshitze ist vorbei. Ich habe diese ganzen Reden reichlich satt, verabschiede mich und gehe zum Strand. Ich werde die lachenden, planschenden Pilger hinter mir lassen, um zwischen Fischerbooten im Slalom um menschliche Hinterlassenschaften nach Norden zu wandern, wo ein fast menschenleerer, kilometerlanger, relativ sauberer Strand wartet. Kein Hupen, keine Reden, kein Motorengeräusch. Begegnungen mit ein, zwei Menschen und einem Hund pro Stunde, rauschende Brandung weitab geschäftiger Straßen. Die Taschenkrebse verschwinden in den Löchern, wenn ich komme. Als wüssten sie, dass ich im Moment keine Gesellschaft möchte. Doch was sollte ich ihnen schon erzählen. Ihnen dem Plastikmüll und den weißen Muscheln, die an einem Ast ihre Heimat gefunden haben, deren schwarzes Innenleben sich schleimig nach außen schlängelt. Zu lange haben sie in der Sonne gelegen, vom Wasser verwaist. Ich werfe sie zurück in die Brandung. ...

15. März 2012f

Was für ein Morgen! Hier in der Nachbarschaft herrscht Aufruhr. Erst toben Affen im Rohbau auf dem Nachbargrundstück herum. Zähnefletschend schauen sie zu mir herüber. Auch Doggy kann sie mit seinem Gebell nicht vertreiben. Sie wissen genau, dass er sie nicht erreichen kann, doch wenigstens machen sie keine Anstalten, zu uns herüber zu kommen, die Terrasse zu erobern, den Müll zu durchwühlen, die Wäsche von der Leine zu klauen wie alles Essbare in ihrer Reichweite, um dann in die Ecken zu pissen und zu scheißen.

Ein Junge mit einer Luftpistole kann sie nur kurz erschrecken mit dem „Piff! Piff!“ Denn schnell haben sie bemerkt, dass keine Kugeln in dem Teil stecken. Doch erstaunlich, als er die ersten Male auf sie schießt, gehen sie hinter Brüstungen und Mauern genau so geduckt in Deckung wie Menschen das auch getan hätten.

Als kurz darauf nebenan ein gellendes Geschrei losgeht, stehen alle Nachbarn auf der Straße. Die kurzhaarige Nachbarin regt sich auf bis zur Ekstase. Ich verstehe zwar kein Wort, doch es betrifft ihren Mann, wenn ich mich nicht irre. Das Geschrei flaut ab, schwillt an, und alle gaffen. Bei Streitigkeiten in Indien wird erst einmal geredet. Dann steigert sich die Lautstärke bis zum Geschrei, und sollte es, was selten vorkommt, handgreiflich werden, schreiten meist Freunde, Nachbarn oder Familienmitglieder ein. Offene Gewalt habe ich nur ein, zwei Mal erlebt. Und auch dann ist nach einer Viertelstunde alles vorbei, wenn die Streithähne oder -Hühner getrennt wurden. Was immer folgt, ist endloses Palaver mit dem oder dem, doch das verläuft eher ruhig.

Als habe er das Ende des Krachs bemerkt, geht der nackte Hund keuchend am Haus vorbei, während sich die gaffende Menge verstreut. Auch die Affen sind verschwunden, auf Beutezug weiter in Richtung der Hotels am Strand. Ich gehe ebenfalls aus dem Haus, den bekannten Weg zum Strand.

Die Hundewelpen liegen wie durcheinandergewürfelt auf dem Bauch der Mutter in der Sonne. Alle schlafen. Die kleine Frau im gelben Sari liegt mit geschlossenen Augen auf einer Betonbank am Strand. Ich frage mich seit einer Woche, ob sie kein Zuhaus hat, doch die Wahrheit werde ich nie erfahren. Also wieder einmal ein vergebliches „Warum?“. Der Strand ist leerer als in den vergangenen Tagen. Gestern sei eine Russin beim Schwimmen ertrunken, eine von der Hare-Krishna-Bande, hat in der Zeitung gestanden, „erfasst von einer gigantischen Welle“. Na ja, wer das glaubt. Vielleicht war es ja auch ein „Miniaturtsunami“. Jetzt hat sie jedenfalls die Chance, wiedergeboren zu werden und ein schöneres Leben als richtige Hindu-Frau führen zu können, ein besseres. Doch das hat nichts mit der Leere hier am Strand zu tun. Bei den einfahrenden Fischerbooten ist von Leere nichts zu spüren. Um die drängen sich wie immer wachsende Menschentrauben, die den Fang begutachten und zuschauen, wie die Fischer kleine Fische aus dem Netz schütteln. Ich gehe zurück, erst zum Bäcker und danach Reismehlklöpschen mit Kokossauce essen, das beste Chutney, was ich jemals hier hatte.

17. März 2012f

Ich habe mich eingewöhnt. Die Einheimischen lassen mich in Ruhe und grüßen meist freundlich. Schon wieder Gezeter und Geschrei am Morgen. Die Hitze nimmt zu, der Stresspegel steigt. Gellende Frauenstimmen lassen mich aus dem Schlaf hochfahren. Ich bin verschwitzt wie immer, doch der Chai schmeckt, und die Verabschiedung von Siro steht an. Alles chaotisch. Alles klappt. Alles wie üblich in Indien.

Später gehe ich wie jeden Tag zum Strand. Es ist so warm, dass ich schon um 7:00 Uhr Sehnsucht nach Schatten habe. Das Meer verspricht ebenfalls keine Abkühlung. Nur der Wind danach auf nasser Haut. Doch das erst heute Nachmittag weitab vom Wochenendtrubel.

Ja, wieder einmal Wochenend in Puri. Ich bleibe nur kurz am Strand. Ein kleiner, nackter Junge mit Zahnbürste ist aus einem Hotel ausgebüchst und wird rasch wieder eingefangen. Die Katze schläft auf dem Dach, nicht mehr vor dem vergitterten Fenster. Der Strand ist weitaus leerer als vergangenes Wochenend, nicht einmal mehr die Hälfte Besucher. Eines der beiden Dromedare für Touristen wandert unermüdlich am gehassten Salzwasser entlang. Die wohlgenährten Reichen klettern über eine Leiter hinauf, freuen sich wie Kinder, wenn „sie an der Leine“ geführt werden.

Wochenend in Puri! Der Vorbote gestern war ein Inder, der sich so besoffen hatte, dass er nicht mehr von den Stufen bei meinem kleinen Händler hochkam, vollgekotzt von oben bis unten. Also nicht nur Ganja sondern alles was dröhnt. Doch davon bin ich hier weit entfernt.

Den Vormittag über arbeite ich am Computer. Mein schattiger, windiger Arbeitsplatz mit Blick in die kleine Straße gefällt mir noch immer sehr. Nach ein paar Stunden will ich mich kurz ausruhen und wache wieder einmal eine Stunde später auf. Die Sonne brennt unbarmherzig vom wolkenlosen, blauen Himmel. Der Strand muss noch warten.

Auffrischender Wind in Böen jagt über Meer und Stadt. Schon am frühen Nachmittag wird es erträglicher. Die Klimaanlage im Internetcafé spuckt derart trockene Luft aus, dass ich mit dem russischen Hare Krishna-Mädchen neben mir im Duett huste. Doch er will das Ding nicht abschalten, der junge, freundliche Inder in Jeans und T-Shirt, der die ganze Zeit telefoniert.

Ich flüchte bald, gehe am Strand entlang, an einem Kilometer Boote vorbei. Wenn ein Boot drei Meter Platz in der Breite einnimmt und sie zur Hälfte in Zweierreihen liegen, passiere ich vier- bis fünfhundert Boote, bevor ich den freien Strand erreiche. Selbst die Kinder und die Hunde lassen mich heute in Ruhe. Von den Dutzenden hockender, kackender Fischer grüßt der eine oder andere. Ich bin angekommen in Puri.

Im Village funktioniert die Müllabfuhr scheinbar nur schleppend. Wenngleich die engen Gassen sehr sauber waren, als ich da durchgegangen bin, habe ich keinen der ewig Fegenden mit ihren Handkarren bemerkt. Vielleicht war es die falsche Zeit, doch ich vermute, aller Abfall wandert ins Meer. Wenn er vorher halb verbrannt wird, ist das sicher eine Erleichterung für das geschundene Paradies dort unter Wasser. Immer wieder kommen Frauen mit Tonnen und schütten Unrat an den Strand. Ich gehe an Hunde-, Ziegen-, Hühner- und Schildkrötenkadavern vorbei, von Wellen umspült, bis sie die Flut holt, während Kinder davor im Wasser spielen und an einfachen Leinen, die mit mehreren Haken und Blei versehen sind, kleinen Fische aus der Brandung ziehen. Ein kleiner Junge fängt drei mit Zebrazeichnung auf silbrigen Schuppen auf ein Mal.

Dann bin ich an den Booten vorbei, einen halben Kilometer weiter, am endlosen, menschenleeren Strand, fast menschenleer. Eine ältere Frau sammelt Holz, Treibholz. Sicher schleppt sie 30 Kilo auf ihrem Kopf, gebündelt und mit einer Leine umwickelt. Im Vorbeigehen sehe ich mehrere dieser Bündel oben am Strand im trockenen Sand liegen. Die tiefschwarze Frau ist voller Falten in Gesicht, an den Händen, der relativ flache Bauch hängt in Hautfalten, die Brüste leere Schläuche, ausgesaugt von harter Arbeit und unzähligen Tonnen geschleppten Strandguts und sicher auch von Kinderscharen.

Rasch die Badehose an, dann kommt er auch schon, der Bettler mit seinem Stab und dem verchromten Töpfchen. Er setzt sich neben mich, brabbelt, streckt die Hand aus und murmelt „panch, panch, panch!“ Fünf Rupies will er, doch ich ignoriere, muss ignorieren, sonst ist er jedes Mal da, wenn ich komme. Ich nehme meine Sachen, gehe zehn Meter weit, setze mich und warte. Nach einer Weile steht er auf, geht weg. Ich stapfe vorsichtig ins aufgewühlte Meer. Weiter als bis zu Badehose gehe ich nicht hinein. Die Wellen sind so stark, dass sie mich umwerfen, wenn ich nicht aufpasse. Doch die Strömung zieht nordwärt gegen den Strand. Ich kann also etwas schwimmen und planschen, werde jedoch in wenigen Minuten mehrere hundert Meter strandabwärts gezogen. Wenn der Sog aufs Meer hinausginge, hätte ich keine Chance.

Nass liege ich im Sand. Der Wind kühlt meine Haut. Das Wasser muss annähernd 30 Grad haben, keine Abkühlung wie andernorts. Die Sonne sinkt im Dunst über Meer und Strand. Ich ziehe mich um, gehe an den Booten vorbei zurück. Nach einer guten halben Stunde habe ich den letzten kleinen Kahn hinter mir gelassen. Ich bin vorbei am Village. Hier beginnt eine andere Welt. Samstagabend ist es besonders voll hier. Unzählige Touristen sind von auswärts gekommen, sitzen am und im Wasser, vergnügen sich. Ich trinke Tee, während sich dicke Inder im nahegelegenen Strandrestaurant „Moonfish“ vollaufen lassen, Betelnuss- und Tabakrotz in die Gegend speien, heimlich Schnapps aus mitgebrachten Flaschen in die Cola kippen. Mir reicht der Blick über den Zaun.

Ich bleibe bei meinem Teehändler, auch ein Vollalki, der ohne seinen Sohn nicht einmal eine Kokosnuss köpfen könnte, ohne sich seine Finger abzuhauen. Ich kenne ihn seit meinem ersten Morgen hier. Ein kleiner Junge in dem Verschlag neben dem Teekocher hat Angst vor mir. So groß, so weiß! Als ich seine Hand nehme, zuckt er zusammen.

Ich gehe essen. So langsam kenne ich mich auch mit der bengalischen Küche ein wenig aus. Das traditionell scharfe Essen bekommt mir ausgezeichnet, wenngleich die Fishcurrys und -Chillies, das Mixgemüse sowie alle bisher probierten Saucen frischen Schweiß von meiner Stirn tropfen lassen. Doch mit Lemonrice und Roti ist das alles sehr schmackhaft. Wenn das Essen scharf ist, weiß ich, dass sie sich nicht den Touristen angepasst haben. Schön! Hauptsächlich esse ich in drei Restaurants. Und nie bin ich enttäuscht worden. Nur dass sie die getrockneten Erbsen im Mischgemüse einfach nur mit aufkochen, ohnedass sie vorher in Wasser eingeweicht wurden, ist mir nichts. Diese immer noch harten Dinger werden aussortiert. Schon frische Erbsen mag ich seit meinen späten Kindertagen nicht mehr.

Die Nacht ist erholsam. Ich habe mich an das Klima gewöhnt, bin nicht mehr die ganze Zeit müde und am Morgen stets ab 6:00 Uhr auf. Die Mittagszeit wird grundsätzlich verschlafen. Ich habe das Privileg, dass mich keiner weckt, auf dass ich weiterschufte.

Ein Sonntag, der ruhig aus dem Dunst steigt. Die Bauarbeiter gegenüber begutachten ihre Arbeit, während der Dunst sich langsam auflöst, die Morgensonne durchbricht. Der starke Wind ist geblieben, fährt in die roh zusammengezimmerten Hütten der Arbeiter, facht das Feuer an, dass sie in einem einfachen Backsteinquadrat entzündet haben. Das Frühstück duftet bis nach hier oben. Kaum einer der Arbeiter scheint abneds nach Haus zu kommen. Sicherlich leben sie weit außerhalb von Puri. Sie arbeiten lange hier auf den Baustellen, manchmal bis in die Nacht. Freie Tage gibt es nicht. Doch hektisch oder schnell habe ich hier noch keinen schuften sehen.

Das feuchtwarme Klima drückt nieder, lässt den Energiepegel rasch abfallen. Kein Wunder, dass hier keine weltverändernden Erfindungen gemacht wurden. Das braucht Energie, Konzentration und Ruhe. Gegen all das drückt dieses Klima, schiebt es weg, bis man nur noch schlafen möchte, während der Geräuschpegel der Straßen lediglich mittags und dann wieder nach 22:00 Uhr absinkt.

Nach einer Stunde am Meer kann ich nicht mehr durch meine Brille schauen, so beschlagen und versalzen ist sie. Selbst hier hinter der Straße, einige hundert Meter vom Strand entfernt, beschlägt das Display meines Computers, zieht die salzigfeuchte Schicht auf dem Bildschirm allgegenwärtigen Staub an. Jeden Tag putzen, jeden Tag fegen, jeden Tag Wäsche waschen, jeden Tag mindestens drei Mal duschen und das schon jetzt, wo der „Backofen“, wie Pradip die Sommermonate nennt, noch weit entfernt ist. Und danach, während des Monsuns, trocknet hier nichts mehr richtig, verschimmelt Baumwolle, wird alles muffig. Na ja, das werde ich so schnell nicht erleben.

Ich gehe zum Barbier, und suche dann einen Laden, wo ich Fotos ausdrucken kann. Da gerate ich in einen kleinen, niedrigen Chailaden, wo ich ganze fünf Sekunden allein bin mit dem Besitzer. Der hatte mich so oft herangewinkt, dass ich heute einen Tee dort trinke. Kurz darauf sitzen elf Kinder und zwei Frauen dort auf den Bänken. Ich verstehe kein Wort und bin bald wieder verschwunden. Sicher wollten sie auch wieder nur Geld vom vermeintlich reichen weißen Europäer. Ich finde nach langer Suche nur einen Laden, der geöffnet hat, und wo ich verstanden werde. Die Ausdrucke sind nicht perfekt, doch einigermaßen, doch ich muss lange warten, denn dieser Stromausfall war nicht in den Zeitungen angekündigt.

Der ewig rülpsende Stier kommt vorbei, während ich auf die Rückkehr des Stroms warte. Er rülpst eigentlich nicht sondern brüllt. Vor dem Laden gegenüber, wo ich immer Tomaten, heute morgen auch Joghurt und eben eine Cola gekauft habe, bleibt er stehen. Der Händler legt ihm Kartoffeln auf die Stufen. Als die in dem mächtigen Körper verschwunden sind, brüllt er nochmals, bekommt noch ein paar Kartoffeln und trottet dann in das stinkende, fast ausgetrocknetee Flussbett. Ich gehe zurück.

Pradip freut sich. Die anderen Bilder sind für die Arbeiter gegenüber auf der Baustelle, von Holy mit Siro. Wie sie sich gegenseitig mit Farbe bekleistern, lachen und fröhlich sind. Die werde ich ihnen nachher geben.

 

2012, Geschminkte Gesichter in Puri
arrow abbildung arrow