Stefan Thielke

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15. März 2006 ff

Begegnung in Jaisalmer - eine Legende

Am Horizont erhob sich ein goldener Berg. Das Abendlicht flimmerte in glühender Hitze über der Wüste Thar. Reiter mit gepanzertem Brustkorb umgingen vereinzelte Dornenbüsche. Sonst wären die Spitzen durch ihre Beinkleider tief ins Fleisch gedrungen. Die dünnen Zweige waren so hart, dass die Lagerfeuer rund um die 99 Bastionen der goldenen Stadt auf dem Berg ewig zu glühen schienen.

Acht Jahre schon harrten sie aus, Jaisalmer in ihre Gewalt zu bringen und dem mogulischen Reich einzuverleiben. Die Stadt aus goldgelbem Sandstein, deren Reichtum als Knotenpunkt der Karawanenwege zwischen dem Arabischen Raum und Karatschi ständig gewachsen war, wurde von den Rajputen gehalten, bis das letzte Reiskorn, der letzte Krümel Mehl das letzte Trockengemüse und Obst verzehrt war.

Die Menschen in der 80 Meter hoch gelegenen Festungsstadt über der Wüste würden sich niemals ergeben. Als Nachkommen von Wüstenräubern, von Rittern denen Ehre über allem stand, wussten sie, was auf ihre Frauen, Kinder und sie selbst zukommen würde. Sie versammelten sich in voller Rüstung auf dem Hof des Forts.

Der Maharadscha, Herrscher über die Familienclans, legte seinen reich verzierten Brustpanzer an und setzte den Helm auf. Über der Stadt lag der Rauch verkohlender Leichen.

Die Frauen hatten ihre Kinder umgebracht, die wenigen Holzbalken aus den Dächern der prachtvollen, mit Steinmetzarbeiten übersäten Häusern gerissen. Schweigend schritten sie mit erhobenem Haupt, die Leichen ihrer Kleinen auf dem Arm, in die Flammen der Scheiterhaufen.

Die Krieger sowie alle Jungen die stark genug waren, eine Waffe zu tragen und die Alten, die noch nicht zu schwach waren, ein Schwert oder einen Dolch zu halten, folgten dem Maharadscha, der auf einem der letzten überlebenden Dromedare in Richtung Haupttor ritt. Knarrend öffneten sich die mit Eisen beschlagenen Flügel. Kurze Zeit später sog der Wüstensand das Blut aller Rajputen sowie unzähliger mogulischer Belagerer in sich ein.

Das geschah 1324. Jaisalmer wurde wieder bevölkert, blühte auf als Handelsstadt. Oft belagert und umkämpft, blieb die Stadt jedoch trotzdem abgelegen genug und von der Herrschaft Delhis annähernd unberührt.

Auch nachdem Badur 1526 Delhi und Merwa erobert hatte, bewahrten sich die verbliebenen Rajputen im westlichen Rajasthan eine gewisse Eigenständigkeit. Viele von ihnen führten ein halbnomadisches Leben, waren angesehene Musiker, Barden, die an den Höfen der Maharadschas und bei den Hochzeiten reicher Familien spielten. Sie sangen alte Legenden, bewahrten sie so für die kommenden Generationen und hatten keine Sorgen, sich zu ernähren, zu kleiden, bis die Neuzeit kam und mit ihr die Eisenbahn, die die Seehäfen Mumbay und Kolkota verband. Jaisalmer als Handelsposten mitten in der Wüste wurde verlassen. Die rajputischen Barden zogen weiter und hatten als gefragte Musiker auf den unzähligen Hochzeiten noch immer ein gutes Auskommen.

Dann erfassten Radio und Fernsehen auch die letzten Winkel des Subkontinents. Das Ende der Erzähler war besiegelt. Die Melodien wurden von den elektronisch vervielfältigten Bollywoodproduktionen verdrängt, die selbst Touristenbeine zum Tanzen brachten. Sie konnten froh sein wenn sie, in prächtige Gewänder gekleidet, die Hochzeitsgesellschaft vergrößern durften und so einige Tage Essen und Trinken bekamen.

Und es begab sich zu der Zeit, da Europa zusammen wuchs. Die Mauer in Deutschland war gefallen wie der eiserne Vorhang. Im fernen Indien gingen die Familien der Barden und Erzähler langsam ihrem ärmlichen Ende als Bettler und Tagelöhner ohne Perspektive entgegen. Und als in einer Musikerfamilie die Kasse leer war, die Schulden drückten, musste der Vater seine Tochter an einen reichen, muslemischen Herren verkaufen, als Zweitfrau. Wie dem Vater und der Mutter auch die Augen weh taten, sie konnten nicht genug weinen über den Verlust. Doch nie hätten sie ein Brautgeschenk für die Tochter aufbringen können. Sie konnten Manini nicht einmal mehr ernähren.

Meditation
Foto + © Stefan Thielke

Das Herz hat seine eigenen Wege. Manini war seit ihrer Kindheit in einen anderen Mann verliebt. Diese Liebe verebbte so wenig wie die ihrer unglücklich verliebten oder -verheirateten Schwestern vor ihr.

So war in einem längst vergangen Jahrhundert die Maharadschatochter Sushila vom heutigen Pakistan heimlich im Schutz der Dunkelheit Dutzende von Meilen auf dem schnellsten Kamel des Hofes nach Jaisalmer zu ihrem Liebsten geritten. Jede Nacht spielten sie Schach. Und nie vermochte er, sie zu schlagen. Im Morgengrauen ritt sie zurück und schlich auf leisen Sohlen in ihres Vaters Palast. Am Hof war man verwundert über ihre Schläfrigkeit und nannte sie heimlich Somila (tranquil).

Eines Abends stand Sushila auf dem Balkon ihrer Liebe und sah durch das Fenster eine Frau neben ihm. Die beiden schliefen Hand in Hand. So weinte sie und kehrte nie zurück, bis nach Jahren eine Handelskarawane gen Jaisalmer in ihrer Stadt Halt machte.

Als Mann verkleidet, ritt Sushila mit ihnen, verschaffte sich Zugang zum Palast des Prinzen und forderte ihn zum Schach. Und wie sie so spielten, war es ihm, als kenne er sie. Doch sie ließ sich nichts anmerken und spielte weiter.

Er rief nach Tee, und ihre Hände zitterten, als genau die Frau, die Sushila neben ihm im Bett gesehen hatte, die zarten Gläser mit dem dampfenden, aromatischen Cay brachte. Sushilas Hände zitterten so sehr, dass sie sich den brühend heißen Tee über ihren Arm schüttete. Da sprang der Prinz auf und rief: "Schwester, so gib unserem Gast rasch ein nasses Tuch, auf das er sich nicht verbrühe."

Prinzessin Sushilas Herz hüpfte und vergaß den Schmerz. Sie sprang ebenfalls auf und löste lachend ihren Turban. Und wie der Prinz die fallenden, rabenschwarzen, langen Haare sah und ihr ins Gesicht blickte, musste er ebenfalls lachen. In den kommenden Jahren gebar Sushila ihm in regelmäßigen Abständen gesunde, kräftige Kinder, ...

Die gesunden, kräftigen Kinder waren die einzige Gemeinsamkeit von Manini und ihrer Märchenschwester Sushila aus längst vergangenen Jahrhunderten. Manini, die als Zweitfrau verheiratet worden war, konnte ihre alte Liebe nicht vergessen. Während der muslemische Ehemann friedlich auf der Matratze schnarchte, nahm sie eines nachts den Dolch und schnitt seine Kehle durch. Mit dem blutigen Messer in der Hand fand man sie am nächsten Morgen neben dem Toten kauern und führte sie ab.

Ihre Tochter und ihr Sohn, Halbwaisen, deren Mutter als Mörderin im Gefängnis saß, fanden Aufnahme bei der verarmten Familie Maninis, die in Jaisalmer am Hang eines Hügels gegenüber der goldenen Festung eine Lehmhütte bewohnte.

Auf der Dachterrasse eines Hotels mitten zwischen diesen Hütten habe ich den Jungen und seine Schwester kennen gelernt. 680 Jahre nachdem die Wüste das Blut der belagerten Rajputen aufgesaugt hatte, das Blut ihrer Vorfahren, nur etwa 500 Meter entfernt, unterhalb des goldenen Bergs, während Frauen und Kinder hinter den Mauern der Festung verbrannten.

© Stefan W. Thielke