prigogine   @   C u l t D

Einleitung

Der thematische Schwerpunkt der Arbeiten Prigogines liegt auf dem Problem „Zeit“. In ihrem Werk 1980 publizierten Werk La Nouvelle Alliance. Les Métamorphoses de la Science (deutsche Übersetzung: Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, 1981) setzen sich Prigogine und seine Co-Autorin Isabelle Stengers mit klassischen philosophischen und naturwissenschaftlichen Positionen zum Thema „Zeit“ auseinander. Sie stellen fest, dass die Bedeutung der Zeit sich weder ausschließlich auf ein formales Wahrnehmunsprinzip der Subjektivität noch ausschließlich auf eine Grundbedingung des Lebens reduzieren lässt.

Prigogines Forschungsergebnisse zeigen vielmehr, dass in der Zeit befindliche, irreversible Prozesse auch schon anorganische Systeme strukturieren. Diese Erkenntnis führt die Autoren zu einem neuen Naturverständnis, das es gestattet, bislang überwiegend den Geisteswissenschaften zugeordnete Themen in den Kategorienkanon naturwissenschaftlichen Denkens, das sich bislang wesentlich am Reversibilitätsbegriff der klassischen physikalischen Mechanik orientierte, aufzunehmen. Deshalb sehen Prigogine/Stengers weniger in den klassischen Theoretikern der Naturwissenschaften - von Newton über Einstein bis hin zu Boltzmann - ihre Vordenker, als vielmehr in Philosophen wie Hegel, Bergson und Whitehead, die in ihrem Werk das bereits in der alltäglichen Erfahrung auftauchende Problem der Zeit zum Thema gemacht haben. So plädieren die Autoren für eine Öffnung der Grenze zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, und darüber hinausgehend generell für eine Revision der neuzeitlichen Basis des Denkens, der harten Gegenüberstellung von Subjekt ‘Mensch’ und Objekt ‘Natur’.

Insofern der menschliche Geist nicht als isoliertes Gegenüber, sondern vielmehr als höhere Entwicklungsstufe und damit als Teil fundamentaler Naturprozesse begriffen werden muss, entspricht der Werktitel, „Dialog mit der Natur“, der Forderung nach einer ganzheitlichen kommunikativen Allianz zwischen Geist und Natur. Dem Begriff „Kommunikation“ kommt dabei nicht nur betreffend das Wechselverhältnis zwischen Geist und Natur eine Schlüsselstellung zu. Er ist insbesondere geeignet, Verhältnisse in molekularer Größenordnung zu beschreiben. Unter bestimmten Bedingungen nämlich beginnen die Elemente eines gegebenen Systems miteinander zu kommunizieren: Zunächst besagt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, dass komplexe Systeme von sich her zur Unordnung, zur Erhöhung ihrer inneren Entropie, zum thermischen Chaos tendieren. Es wäre also zu erwarten, dass jedes komplexe System auf den Attraktor des thermischen Gleichgewichts zusteuert. Dies ist aber nicht unter jeder Bedingung der Fall. Unter gleichgewichtsfernen Bedingungen können sogenannte „fraktale“ oder „seltsame Attraktoren“ auftreten, die das betreffende System von diesem Weg abbringen. Es können Kräfteverhältnisse entstehen, die es in eine Zustandsform übergehen lassen, die von einer präzisen Ordnung gekennzeichnet ist. Es zeigt sich, dass in den instabilen Übergangszuständen dynamische Turbulenzen und dissipative Strukturen entstehen, bei denen Chaos und Ordnung eng miteinander verwoben sind.

Die Entstehung eines solchen Prozesses, bei dem ein System als Ganzes in einen neuen Ordnungszustand übergeht, hat eine Grundvoraussetzung: alle Elemente müssen wechselseitig miteinander kommunizieren, sich also gleichsam ‘absprechen’ können. Eine solche Form der Kommunikation, die bewirkt, dass eine zunächst scheinbar unbedeutende, regional begrenzte Schwankung - Prigogine/Stengers sprechen unter Berufung auf Lukrez vom „clinamen“ - spontan das gesamte System erfassen kann, das sich dann als Ganzes organisiert, kann nur aufgrund von Rückkopplungen beziehungsweise Autokatalyse-Vorgängen entstehen, in denen das Ergebnis einer Schwankung auf deren Anfangsbedingungen zurückwirkt, so dass auch die Umgebung der Schwankung von der Reaktion erfasst wird. (Mathematisch entsprechen solche Reaktionen nicht-linearen Funktionen.) Ein Beispiel für einen solchen Prozess der Selbstorganisation ist die sogenannte „chemische Uhr“: Ein System wechselt in rhythmischen Abständen seine Zustandsform (etwa die Farbe) und zeigt damit ein Verhalten, das auf der gleichzeitigen und zusammenhängenden Reaktion aller beteiligten Moleküle miteinander beruht. Jeder Prozess der Selbstorganisation wird von heterogenen Trajektorien bestimmt, so dass sich nicht voraussagen lässt, wohin sich die Positionen der Elemente des Systems verschieben werden. Stochastische Prozesse geben die Grundlage aller Kräfteverhältnisse (jeden dynamischen Verhaltens) ab. Das System verhält sich also nicht deterministisch und seine Zukunft kann nur als wahrscheinliche berechnet oder beschrieben werden. Wenn die Autoren formulieren, dass jede Erkenntnis unvollständig bleibe, so führen sie diese ihre Auffassung folglich nicht auf die Unvollkommenheit des menschlichen Verstandes zurück, sondern auf die Eigenschaften der Systeme selbst.

Prigogine/Stengers gehen davon aus, dass die skizzierte Art von Kommunikation, wie sie in der Nichtgleichgewichts-Thermodynamik statthat, grundlegend für biologische Netzwerke ist - und darüber hinausgehend für Netzwerke aller Art. Verbunden mit dem Gedanken, dass die Theorie der Selbstorganisation nicht nur auf Problemlösungen in den Naturwissenschaften angewandt werden sollte, geben die Autoren Beispiele für solche komplexen Systeme aus sozialen, ökonomischen, lebensweltlichen und anderen Bereichen an. Auch diese Systeme unterliegen dem Werden und dem Wandel, eben der Zeit, auf unberechenbare Weise.

Eckhard Hammel, 2001