9 Systemtheoretische Ansätze

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9.03 Die wichtigsten Ansätze

1. Niklas Luhmann ist von Haus aus kein Philologe. Sein Ziel ist nicht die Analyse einzelner Künste und Kunstwerke, sondern die Entwicklung einer großangelegten Universaltheorie, die das Funktionieren von Gesellschaft im allgemeinen erklären soll. Luhmanns Augenmerk richtet sich hierbei allerdings in erster Linie auf die moderne Gesellschaft der europäischen Neuzeit und Gegenwart. In ihr hat sich nach Luhmanns Auffassung ein grundsätzlicher Differenzierungsprozess vollzogen, in dessen Verlauf verschiedene soziale Systeme entstanden, die aus einzelnen Kommunikationsakten bestehen und die sich durch eine weitgehende Eigengesetzlichkeit und Unabhängigkeit von anderen Systemen auszeichnen. Die Wissenschaft, die Religion, die Politik oder auch die Kunst stellen z.B. derartige Systeme dar. Ihre Hauptleistung ist es, die unübersichtliche (gesellschaftliche) Wirklichkeit der Moderne durch Komplexitätsreduktion durchschaubar und handhabbar zu machen. Zu diesem Zweck werden hauptsächlich binäre Codes benutzt, d.h. simple Filter- oder Sortierverfahren, die eine Beurteilung gesellschaftlicher Phänomene nach einem für das jeweilige System relevanten Kriterium ermöglichen. In der Wissenschaft werden so z.B. nach Luhmann alle Kommunikationsakte nach dem wahr/falsch-Kriterium beurteilt. Für die Religion gilt hingegen die Leitdifferenz immanent/transzendent. Von einer Autonomie der sozialen Systeme in der Moderne lässt sich nun nach Luhmann insofern sprechen, als die einzelnen Systeme hier erstmals stabil genug sind, um nur ihr eigenes Kriterium gelten zu lassen. So kann ein Wissenschaftler ungestraft irgendeine blasphemische oder atheistische Theorie vertreten, solange sie nur wahr im Sinne des Wissenschaftssystems ist.. Und die Forschung z.B. ökonomischen Erwägungen unterordnen zu wollen, wäre aus der Sicht der Systemtheorie ein Schritt in die Vormoderne, ein Ausdruck von Rückschrittlichkeit. (Schneider, 229f.)

2. Für die Philologie ist die Systemtheorie insofern interessant, als man sich fragen kann, ob auch die Kunst ein eigenes soziales System mit relativer Autonomie darstellt. Luhmann selbst hat diese Frage bejaht. (>Kritik) Doch sein Vorschlag, den binären Code schön/häßlich als systemkonstituierende Leitdifferenz aufzufassen, hat in den zuständigen Fachwissenschaften überwiegend ablehnende Reaktionen hervorgerufen. Als Alternativen wurden von systemtheoretisch orientierten Literaturwissenschaftlern statt dessen die Begriffsdichotomien interessant/langweilig oder auch gelungen/misslungen vorgeschlagen. Eine Einigung über diese Frage ist unwahrscheinlich, zumal spekuliert werden könnte, ob nicht die Kunst das einzige soziale System ohne Leitdifferenz darstellt. (Schneider, 230)

3. Vorläufig ist es eine vordringliche Aufgabe der noch relativ jungen Systemtheorie, den ihr eigenen Autonomiebegriff mit anderen Konzepten abzugleichen. Denn nur so lässt sich eine Verengung des systemtheoretischen Literaturbegriffs vermeiden, für den z.B. jede Art von politisch engagierter Gegenwartskunst einen die Autonomie der sozialen Systeme Politik und Kunst verkennenden Atavismus darstellt. Dass künstlerische Autonomie heute soviel wie Einflusslosigkeit bedeuten kann, ist allerdings ein von der Systemtheorie in aller Deutlichkeit herausgearbeitetes Faktum. (Schneider, 230f.)

4. Die Grundlagen heutigen systemtheoretischen Denkens wurden seit den 40er Jahren in verschiedenen mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen erarbeitet, z.B. durch den Biologen L.v. Bertalanffy. Das Potential des Ansatzes für eine Vereinheitlichung der Wissenschaften wurde schon früh erkannt.

Als System werden dabei ganz unterschiedliche Phänomene aufgefasst. Das Spektrum reicht von chemischen und thermodynamischen Zusammenhängen über alle Stufen von Leben bis hin zu Fragen der Ökologie und den Erscheinungsformen von Gesellschaft und Kultur.

Im Zentrum stehen Konzepte der Selbstreferenz, der Selbstorganisation und der Autopoiesis, die als dynamische Grundprinzipien aller Formen von Evolution vorausgesetzt werden. In erkenntnistheoretischer Hinsicht steht die Entwicklung der S. in engem Zusammenhang mit der Formulierung und Etablierung des radikalen Konstruktivismus. (Reinfandt, 521)

5. In der Lit.wissenschaft werden systemtheoretische Konzepte in einem engeren, theoretisch-methodisch ausdifferenzierten Sinne seit den 70er Jahren diskutiert. I. Evan-Sohars Polysystem Theory begreift Lit. als komplexen Zusammenhang einer Vielzahl von konzeptuellen, d.h. auf Normen und Werte bezogenen Systemen. Die in Deutschland entwickelten Konzeptionen einer systemtheoretischen Lit.wissenschaft beziehen sich in erster Linie auf die von T. Parsons eingeleitete und von N. Luhmann fortgeführte Übernahme systemtheoretischer Konzepte in die Soziologie.

Dabei sind zwei Richtungen zu unterscheiden. So hält die von S.J. Schmidt begründete Empirische Theorie der Lit. (ETL) an einem handlungstheoretischen Modell fest und konzipiert das Lit.system als Gesamtmenge von beobachtbaren Kommunikationshandlungen, die sich auf konkrete Individuen in vier sozialen Rollen, nämlich Lit.produzent, Lit.vermittler, Lit.rezipient unsd Lit.verarbeiter, beziehen lassen. Andere Modelle hingegen versuchen, der in Luhmanns Theorie vollzogenen Emanzipation der Kommunikation von Handlung gerecht zu werden, und beschreiben das Sozialsystem Lit. als einen dynamischen Zusammenhang sich autopoietisch reproduzierender Kommunikationen. Dabei gelten folgende, auch in der ETL weitgehend unumstrittene Grundannahmen: (a) Im Zuge des Strukturwandels vom vor- bzw. nichtmodernen Prinzip der stratifikatorischen zum modernen Prinzip der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft kommt es zur Ausdifferenzierung von jeweils auf eine bestimmte Funktion ausgerichteten sozialen Systemen wie z.B. Wirtschaft, Recht, Wissenschaft oder Politik; die Etablierung dieser Funktionssysteme ist gegen Ende des 18. Jhs. abgeschlossen. (b) Jedes der so ausdifferenzierten Systeme muss eine Mehrheit von Systemreferenzen unterscheiden, nämlich (i) seine Beziehung zum übergeordneten sozialen System der modernen Gesellschaft insgesamt (Funktion), (ii) seine Beziehungen zu anderen Systemen in seiner Umwelt (Leistungen) und (iii) seine Beziehungen zu sich selbst (teilsystemspezifische Reflexion). Auf dieser letzten Ebene bestimmt ein System durch Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung und die damit einhergehende Regulierung des Verhältnisses von Funktion und Leistungen seine Identität. (Reinfandt, 521f.)

6. Eine Theorie, die Lit. als soziales System vorstellt, muss somit bei der Funktion ansetzen, denn nur eine spezifische, von keinem anderen sozialen System bediente Funktion kann die Ausdifferenzierung eines Sozialsystems Lit. rechtfertigen. Luhmann, Schmidt u.a. sind dabei dem Blickwinkel des mit der modernen Gesellschaft konfrontierten Individuums verhaftet.

Die enge Bindung von Kunst und Lit. an das Bewusstsein psychischer Systeme legt es nahe, auf der Ebene der Leistungen nicht nur die vielfältigen Beziehungen des Lit.systems zu anderen sozialen Systemen zu berücksichtigen, sondern auch die Beziehungen des Lit.systems zu psychischen Systemen als Leistungen aufzufassen. (Reinfandt, 522)

7. Die Frage nach den spezifischen Besonderheiten liter. Kommunikation muss dann auf der Ebene der teilsystemspezifischen Reflexion weiterverfolgt werden. Dabei ergeben sich vor dem Hintergrund der Luhmannschen Theorie folgende Fragen: (a) Welche Kommunikationen lassen sich dem Lit.system zuordnen, und wie erfolgt die bereichsspezifische Attribution im Vorgang der Kommunikation selbst? Abstrakt betrachtet kämen als symbolisch generalisierbares Kommunikationsmedium z.B. Schönheit bzw. die Möglichkeit von Ordnung (Luhmann) oder Interessantheit (Plumpe, Werber) in Betracht, woran sich dann als entsprechende Codes schön/hässlich oder interessant/langweilig anschließen. Letztlich geht es auf dieser formal-funktionalen Ebene jedoch primär um die binäre Schematisierung an sich, die einen positiven Präferenz- und einen negativen Reflexionswert zur Verfügung stellt. Angersichts der Textbezogenheit lit. Kommunikation bietet sich darüber hinaus eine Konkretisierung an, die darauf abzielt, dass die Kontinuität liter. Kommunikation insbes. dadurch gewährleistet und stabilisiert wird, dass Texte als (Kunst-) Werke aufgefasst und kommuniziert werden. Es erscheitn somit sinnvoll, den Werkbegriff als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium des Kunst- bzw. Lit.systems zu operationalisieren. (Reinfandt, 522f.)

8. Wie wird die inhaltsneutrale, rein funktional auf die Fortsetzung liter. Kommunikation bezogene Ebene des Codes inhaltlich, d.h. durch Programme gefüllt? Von zentraler Bedeutung ist dabei der in Luhmanns Theorie entworfene Sinnbegriff, der sich zunächst rein funktional auf ein bestimmtes System, die mit ihm verbundene spezifische System-Umwelt-Differenz und die Fortsetzung der systemspezifischen Operationen bezieht. Durch die Selbstreferenz des Systems kommt es allerdings zu einem paradoxen re-entry, der die System-Umwelt-Differenz als durch das System produzierten und im System beobachteten Unterschied verdoppelt. Auf diese Weise wird operativ geschlossenen autopoietischen Systemen ‘Umweltkontakt’ möglich, indem sie der Umwelt Sinn zuschreiben, den sie selber produzieren.

Der in Luhmanns Theorie zentral stehende funktionale Sinnbegriff, der nur einer Beobachtung zweiter Ordnung zugänglich ist, bezieht sich ausschließlich auf die Möglichkeiten und Bedingungen der Fortsetzung systemspezifischer Kommunikation. Wesentliches Merkmal ist hier die Etablierung eines systemspezifischen symbolisch generalisierbaren Kommunikationsmediums und des dazugehörigen Codes. Demgegenüber kommt es auf der Ebene der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung des Systems zur inhaltlichen Umsetzung der Konsequenzen des funktionalen Sinnbegriffs.

Während der funktionale Sinnbegriff ohne Vernichtung des Systems nicht negierbar ist, lässt sich mit Hilfe des inhaltlichen Sinnbegriffs etwa über eine Beobachtung der Abfolge von Programmen eine Binnenperiodisierung der Evolution des modernen Lit.systems vornehmen.

Eine systemtheoretische Lit.wissenschaft bietet die Möglichkeit einer Einbeziehung der historischen bzw. soziokulturellen Voraussetzungen von Lit. bei gleichzeitiger differenzierter Berücksichtigung des Lit.spezifischen in Abgrenzung von anderen gesellschaftlichen Bereichen. Beide Konzepte werden in ein einheitliches begriffliches Konzept integriert, das sich zudem zeitgemäß im Rahmen einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie bewegt. (Reinfandt, 523)

9. (>Kritik) Im Gesamtverbund der Lit.wissenschaften haben systemtheoretische Ansätze nach wie vor mit Vorurteilen zu kämpfen, die ihnen einerseits aus traditioneller Sicht Abstraktion und Lebensfeindlichkeit und andererseits aus dekonstruktivistischer Sicht Totalisierungsstreben und Erklärungswahn vorwerfen. Demgegenüber rückt auf systemtheoretischer Seite nach anfänglicher Abgrenzung zunehmend die Frage nach Parallelen und Verknüpfungsmöglichkeiten mit anderen Grundlagentheorien wie z.B. Dekonstruktion und Hermeneutik in den Mittelpunkt des Interesses. (Reinfandt, 523)

10. Die Luhmannsche Systemtheorie in ihrer heutigen Form blickt auf eine 30jährige Theoriegeschichte zurück. In Auseinandersetzung mit Parsons’ strukturell-funktionaler Theorie als funktionell-strukturelle Theorie konzipiert und von Anfang an im Anschluss an die Allgemeine Systemtheorie mit der System/Umwelt-Differenz startend, ist sie Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre erheblich revidiert worden. Mit der Übernahme des Autopoiesis-Konzeptes aus der kognitiven Biologie und beobachtungstheoretischer Annahmen aus dem Bereich der Second Order Cybernetics hat sie an Kontur und Erklärungskraft gewonnen. Als Theorie mit fachuniversalem Anspruch gehört sie nicht zu den netten, hilfsbereiten Theorien, die sich aufwandlos an bisherige Positionen anschließen lassen. (Müller, 208)

11. Systemtheorie ist eine Theorie ohne Zentrum, polyzentrisch und infolgedessen auch polykontextural angelegt. Systemtheorie ist zirkulär angelegt, d.h. sie beobachtet sich selbst als einen ihrer Gegenstände, z.B. begreift sie die Theorie der Differenzierung zugleich als Resultat von Differenzierung. Sie behauptet nicht, die richtige Beschreibung der heutigen Weltgesellschaft zu liefern, wohl aber „Universalität der Gegenstandserfassung in dem Sinne, dass sie als soziologische Theorie alles Soziale behandelt und nicht nur Ausschnitte“. (Luhmann 1984, 9)

Soziale Systeme bestehen, der Theorie zufolge, nicht aus Menschen, unteilbaren Individuen und ihren Interaktionsspielen, sondern aus „Kommunikationen und aus deren Zurechnung als Handlung“. (Ebd., 20)

Die funktionale Zugriffsweise, die stets Vergleichbarkeiten herstellen soll, ist mit der Verfremdung herkömmlicher Selbstverständlichkeiten und Normalitäten verknüpft. (Müller, 209f.)

12. Die Priorität des Funktionsbegriffs bedeutet zugleich die Favorisierung eines nicht intentional zurechenbaren Sinnbegriffs. Soziale und psychische Systeme selegieren stets aus einem prinzipiell nicht abschließbaren Verweisungshorizont von Sinn. Es gibt keine substantielle, keine geschlossene Sinnkonzeption; das Kommunikations-Ereignis, das Bewusstseins-Ereignis führen immer nicht verwirklichte Möglichkeiten ohne Verweisungs-Ende mit sich, sind insofern im strengen Sinne des Wortes kontingent, weil sie stets auch anders ausfallen könnten. Kommunikative Ereignisse (Sozialsystem) und Bewusstseinsereignisse (psychisches System) sind also bestimmt durch kontingente Selektivität, durch strukturierte Kontingenz, da sie stets aus der komplexen Umwelt auswählen müssen, ohne von der Umwelt streng kausal oder wie auch immer determiniert zu sein. Sie sind auf Anschlussfähigkeit angewiesen.

Soziale Systeme und psychische Systeme sind selbstreferentielle, autopoietische Systeme, deren Geschlossenheit paradoxerweise Offenheit erzeugt; das charakteristische Merkmal autopoietischer Systeme ist, dass sie die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren können. Sie bestehen aus dem fortlaufenden Prozessieren von Differenzen, aus einer fortlaufenden Kombination von Selbst- und Fremdreferenz. Dabei beschreibt Luhmann Kommunikation (soziales System) als dreistelligen Selektionsprozess, der Information, Mitteilung und Verstehen kombiniert.

Unter Sinn kann man das stete Prozessieren der Differenz von Aktualität und Möglichkeit verstehen. Dabei sind drei Sinndimensionen zu unterscheiden: Die Sachdimension gibt vor, was der Fall ist; die Sozialdimension gibt vor, wer etwas thematisiert; die Zeitdimension gibt vor, wann etwas geschieht. Limitationen sind erforderlich, die auf Dauer Möglichkeiten ausschalten und zugleich Anschlussmöglichkeiten bereitstellen. (Müller, 211f.)

13. Systeme können Subsysteme bilden, die Umweltkomplexität systemisch behandeln, ohne dass das Gesamtsystem oder jedes einzelne Teilsystem jeweils eingreifen müssten. Die Teilsysteme differenzieren sich über binäre Codes aus – z.B. wahr/falsch im Wissenschaftssystem, schön/hässlich im Kunstsystem; sie besitzen spezifische Programme – Theorien/Methodologien im Wissenschaftssystem, Reflexiontheorien wie z.B. Ästhetiken im Kunstsystem; sie erbringen für andere Systeme Leistungen; so ist z.B. in der Moderne Kirchenkunst Kunst (Code schön/hässlich), erbringt aber für das Religionssystem (Code immanent/transzendent) eine Leistung.

In der Moderne beobachtet Wissenschaft als funktional differenziertes, autopoietisches, geschlossen-offenes Teilsystem im wesentlichen Beobachtungen, betreibt also Beobachtungen zweiter oder höherer Ordnung. Beobachten als differenzmarkierendes Bezeichnen ist an einen blinden Fleck gebunden. Stets benutzt der Beobachter eine Unterscheidung, die er mit dieser Unterscheidung nicht bezeichnen und somit auch nicht beobachten kann. Beobachtung zweiter Ordnung kann den blinden Fleck der Beobachtung erster Ordnung beobachten, weiß um die Relativität der eigenen Beobachtungsoperation, kann aber ihren eigenen blinden Fleck beim Beobachten nicht beobachten. Es gibt daher keine ersten oder letzten Beobachtungen im strengen Sinne des Wortes. (Müller, 212f.)

14. Systeme mit ihrem steten Spiel von Selbst- und Fremdreferenz bilden sich durch Differenzierung von der Umwelt aus, die intern verarbeitet wird. Dieser Schematismus erlaubt die Ausbildung von Teil- oder Subsystemen, für die der Rest des Systems wiederum Umwelt wird. Das Kunstsystem gehört z.B. in die Umwelt des Wissenschaftssystems und umgekehrt. Auf diese Weise vervielfachen sich in der Moderne die Perspektiven, ohne dass man eine Zentralperspektive annehmen und ohne dass man einem Teilsystem eine hierarchisch angeordnete Führungsrolle einräumen könnte. Kein Teilsystem besitzt Gesamtautorität.

Die Teilnehmer in den jeweiligen Systemen überschätzen jedoch regelmäßig ihre Möglichkeiten. Vertreter des politischen Systems z.B. verknüpfen häufig den subsystemspezifischen Machtcode mit dem in der Moderne kein eigenes System bildenden Moralcode und stilisieren sich so zu Vertretern des alle Teilsysteme übergreifenden Gesamtinteresses. (Müller, 213)

15. Teilsysteme sind abhängig und unabhängig zugleich. Das Kunstsystem ist z.B. abhängig vom Rechtssystem oder auch vom Wirtschaftssystem.

Diese Form von funktional differenzierter Gesellschaft hat es nun nicht immer gegeben. Evolutionsgeschichtlich kann man grob drei Stufen unterscheiden. Zunächst haben sich segmentäre Differenzierungen gebildet, Systeme auf der Basis von Verwandtschaft und eng begrenzter Lokalität. Asymmetrische Strukturen entwickeln sich in stratifikatorisch organisierten Gesellschaften mit den Differenzierungen Stadt/Land, Zentrum/Peripherie, Ganzes/Teil; dabei war diese hierarchisch durchorganisierte Gesellschaft noch in einem Repräsentanten abbildbar und mit religiösen Kosmologien oder mit ontologischer Metaphysik verknüpfbar. Demgegenüber hat die in Europa ausgebildete und von Europa ausgehende moderne Gesellschaft einen neuen Differenzierungstypus evoluiert. Die moderne funktional differenzierte Gesellschaft ist durch Funktionssysteme ohne Zentrum und durch ein hohes Maß an Unregulierbarkeit gekennzeichnet. Segmentäre und stratifikatorische Differenzierung besteht weiter fort, ist aber der funktionalen Differenzierung nachgeordnet. Im Teilsystem Wissenschaft wird das Funktionieren der modernen Gesellschaft beschrieben. Die wissenschaftliche Erkenntnis der modernen Gesellschaft ist dabei zugleich Produkt der Evolution der modernen Gesellschaft.

Pluralismus, Relativismus und Historismus markieren das Strukturschicksal der Moderne. Substanzannahmen, metahistorische Wesensannahmen, Anthropologien, Erfahrungsbegriffe sind nicht recht mit funktionaler Differenzierung verträglich. (Müller, 213ff.)

16. Die Theorie sozialer Systeme lässt sich auf die Spezifikation einzelner Teilsysteme ein. Die einzelnen Systembeschreibungen sind vergleichend angelegt.

Bezieht man die evolutionstheoretischen Annahmen auf Kunst, so ist zu vermuten, dass Kunst in Form von Ritualen usw. in segmentären Gesellschaften nahtlos mit den jeweiligen Reproduktionsmechanismen verknüpft war; in stratifikatorisch organisierten Gesellschaften erfolgte eine Ausdifferenzierung, jedoch ist Kunst noch eng mit Religion, Politik etc. verbunden und ermöglicht im Rahmen von Mehrfachcodierung Formen symbolischer Repräsentanz. Im Hinblick auf das Publikum greifen Exklusionsmechanismen, z.B. ständische.

Neue Verhältnisse stellen sich ein, wenn sich Kunst als Teilsystem ausdifferenziert. Für das Kunstsystem als seit der Renaissance und verstärkt seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich ausbildendes Teilsystem ist zunächst ein Code notwendig, der nur für dieses System gilt. Es ist der asymmetrisch gebaute Code schön/hässlich, der hier subsystemspezifisch anzunehmen ist. Traditionell formuliert: Das Schöne wird aus seiner Bindung an das Wahre und Gute entlassen. Das bedeutet einen großen Komplexitätszugewinn, weil nun z.B. das hässliche Wahre und das schöne Böse ohne Aufwand zum Thema der Kunst werden können.

Der mit der Ausdifferenzierung verbundene ästhetische Terraingewinn ist mit erheblichen Verbindlichkeitsverlusten erkauft. So kann das Kunstsystem z.B. das politische System beobachten, Politisches im Kunstsystem thematisieren und versuchen, das politische System zu irritieren. In der Moderne gibt es aber keine politische Kunst, weil die Codes des politischen Systems und des Kunstsystems nicht identisch sind und sich nicht wechselseitig ersetzen können. (Müller, 215f.)

17. Der Leitcode reicht nicht aus, um Anschlusskommunikation zu gewährleisten. Es bedarf spezifischer Programme, die sich in Ästhetiken und Begleittheorien manifestieren können. Diese ermöglichen, dass Kunstwerke, in der Moderne auf sich selbst überholende Innovation eingestellt, für Künstler und Publikum anschlussfähig bleiben. Das Prekäre des Kunstsystems liegt u.a. darin, dass die Programme nicht so robust sind wie z.B. die im Wissenschaftssystem funktional äquivalent benutzten Theorien/Methodologien. Hinzu kommt, dass Kunstwerke selbst als Programme funktionieren können.

In der Moderne ist Kunst Weltkunst, ihre Funktion kann man als Verweis auf Weltkontingenz begreifen.

Ein Zeichen für die Beweglichkeit des Kunstsystems ist, dass seit der Frühromantik Begleittheorien in die Kunstwerke selbst eingebaut werden können.

Schlüsselt man im Anschluss an Gerhard Plumpe die Programmatik des Kunstsystems in der Moderne genauer auf, so lässt sie sich wie folgt systematisieren:

(1) Zunächst kann die System/Umwelt-Differenz als Medium dienen. Dann entstehen Werke, welche die Differenz von Kunst und Umwelt (z.B. Künstler/Bürger) thematisieren. Häufig wird dann Kunst zur positiv prämierten Gegen-Gesellschaft stilisiert; damit können sich auch Entdifferenzierungsträume verbinden, die z.B. das Programm einer ‘Neuen Mythologie’ auf ihre Fahne schreiben.

(2) Sodann können Realitätskonzeptionen aus der Umwelt des Kunstsystems als Medien für Formen dienen. Mit diesem Verfahren lassen sich Realismus- und Naturalismuseffekte erzielen.

(3) Das Kunstsystem kann selbst als Medium verwandt werden. Das kann sich sowohl auf die im Kunstsystem produzierten ‘fiktiven’ Welten als auch auf die Aufnahme, Variation und Umschrift künstlerischer Verfahren beziehen.

(4) Die Medium/Form-Differenz wird aufgehoben. So kann der Künstler in die Geräuschkulisse seiner Umwelt eingehen, oder aber er erklärt sich und die Gesellschaft tzum Gesamtkunstwerk.

(Müller, 217ff.)

18. Für das Publikum und für die Künstlerrolle gibt es zumindest prinzipiell keine Exklusionsregeln; jeder kann am Kunstsystem als Produzent oder Konsument teilnehmen. Faktisch funktionieren allerdings Exklusionsregeln; schnell bilden sich z.B. Experten heraus.

Den auf Innovation umgestellten Kunstwerken ist ihr Zeitkern deutlich eingeschrieben. Je höher die Innovationsgeschwindigkeit, desto höher die Veraltensgeschwindigkeit.

In der Moderne ist eine gewisse programmatische Erschöpfung eingetreten. Kennzeichen der Postmoderne scheint es zu sein, dass das für das Kunstsystem konstitutive Innovationspostulat mit seiner Unterscheidung neu/alt entdramatisiert worden ist. Dem korrespondiert ein starker Pluralisierungsschub. So wird Stilmischung als Selbstprogrammierung der Kunst akzeptiert und der gesamte Traditionsvorrat als Spielfeld freigegeben. (Müller, 219f.)

19. Systemtheorie als Unterscheidungstheorie beansprucht keine privilegierte, extramundane Perspektive. Sie plädiert für ein Kalkül des Prozessierens von Unterscheidungen, ohne dass es eine Autorität gäbe, die sagen könnte: Beginne mit dieser und keiner anderen Unterscheidung.

Systemtheorie postuliert daher einen „unauflöslichen Relativismus“ (Luhmann). (Müller, 220f.)

20. Luhmann entwirft ein evolutionäres Modell, dessen Kern die Abfolge unterschiedlicher Formen gesellschaftlicher Differenzierung ist. Archaische Gesellschaften sind segmentär differenziert, es gibt einzelne Parzellen wie Stämme oder Sippen, die nebeneinander existieren und den jeweiligen Personen einen festen sozialen Ort geben. Diese Form wird in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften überlagert von stratifikatorischer (also ‘schichtender’) Differenzierung mit gesellschaftlichen Ständen oder Klassen, die durch hierarchische Machtverhältnisse im stabilen Rahmen eines Staates übereinander geschichtet sind. Diese Formation wird schließlich in der Moderne abgelöst durch funktionale Differenzierung: Die Teilsysteme Politik, Wirtschaft, Recht, Erziehung usw. bilden effektive Strukturen zur spezialisierten Bearbeitung jeweils eines gesamtgesellschaftlichen Problems aus und entwickeln eine eigendynamische Selbststeuerung, durch die sie mit der Gesellschaft als Gesamtheit und den jeweils anderen Teilsystemen nur noch mittelbar verbunden sind. (Dörner, Vogt, 93)

21. Wichtig ist, dass die funktional ausdifferenzierten Teilsysteme jedem Mitglied der Gesellschaft prinzipiell den Zugang zu einer entsprechenden Rolle im System eröffnen; eiserne Stammes- oder Standesgrenzen existieren nicht mehr – wenngleich die Frage nach der Determination von Lebenschancen durch Klassenzugehörigkeit damit noch nicht geklärt ist. Die Teilsysteme entwickeln schließlich drei Ebenen gesellschaftlicher Verbindung: als Funktion, die sie für das Gesamtsystem erbringen; als Leistung, die sie an andere Teilsysteme abgeben; und schließlich als Reflexion auf sich selbst in Form etwa der Selbstbeschreibung und Legitimation. (Dörner, Vogt, 94)

22. Im Zuge der Umstellung des Gesellschaftssystems auf funktionale Differenzierung im 18. Jahrhundert konstituiert sich ein selbstreferentielles System ‘Kunst’ oder ‘Literatur’. Zunächst ist wichtig, dass literarische Kommunikation auf einen spezifischen Code umgestellt und von systemexternen Funktionen (z.B. Wahrheits- oder Nützlichkeitserwägungen, moralischer Kontrolle usw.) weitgehend abgekoppelt wird; Prozesse der Beeinflussung vonseiten anderer Teilsysteme, etwa in Form von politischen und moralischen Literaturskandalen oder Fällen von Zensur, bilden hier die Ausnahme von der Regel. Primäre Bezugsebene ist ‘das Literarische’. Als Reaktion auf diesen Prozess der Autonomisierung kommt es zu intensiver Selbstreflexion und zu Versuchen der Selbstbeschreibung, über die das System Literatur seine eigenen Regeln und Medien, vor allem aber die Grenzen zur gesellschaftlichen Umwelt bestimmt, z.B. bei Schiller.

Es ist allerdings zu differenzieren zwischen Kommunikationen, die stärker selbstreferentiell (Ästhetizismus) oder stärker gesellschaftsbezogen (Realismus) orientiert sind. Dessen Texte bleiben gleichwohl immer im Literatursystem situiert: Realismus will ja gerade im Medium der Literatur eine Sicht von Gesellschaft und eine Orientierung ermöglichen, die außerhalb des Literarischen in dieser Kohärenz und Überschaubarkeit kaum noch möglich ist. (Dörner, Vogt, 94f.)

23. Welche Funktion erbringt nun ein System ‘Literatur’ für die Gesellschaft, was ist das zu bearbeitende Problem? Luhmann zufolge besteht diese Funktion darin, dass Literatur und Kunst allgemein „Weltkontingenz“ herstellen, indem sie uns die Möglichkeit vor Augen stellen, dass die Wirklichkeit auch ganz anders sein könnte, als sie ist. Realität wird im Modus des ‘Als ob’ eingeklammert. Nach Siegfried J. Schmidt bearbeitet Literatur die im Ausdifferenzierungsprozess der Gesellschaft aufgerissenen Problemlücken: Vervielfachung von Wirklichkeitsvorstellungen, Eröffnung folgenfreier Erfahrungs- und Handlungsräume, integrative Ordnung von alltagsweltlichem Wissen, vor allem Hilfen bei der in modernen Gesellschaften immer schwierigeren Identitätsbildung und Orientierung werden ermöglicht.. In neueren Arbeiten sieht Luhmann in der modernen Literatur eine besondere Möglichkeit der Selbstreflexion des Lesers in bezug auf dessen alltagsweltliche Wahrnehmungsbeschränkungen.

Im System Literatur bilden sich spezifische Handlungsrollen oder sie werden in neuer Weise marktgerecht professionalisiert: als eigenständiger Produzent; als differenzierte Berufsgruppe der Drucker, Verleger, Sortimenter; als bildungsbürgerliches und in sich ebenfalls differenziertes Publikum; schließlich in der neuen Gestalt des professionellen Rezipienten, des Kritikers, der wertende und geschmacksbildende Funktionen wahrnimmt. (Dörner, Vogt, 95)

24. Systemtheorie als Gattungstheorie steht im Mittelpunkt des Ansatzes von Dietrich Schwanitz. Er hebt zum einen ab auf moderne Erzählformen, welche die Differenz zwischen System und Umwelt bzw. Erzählung und Wirklichkeit in die Kommunikation selbst hineinholen und somit auch thematisieren können, z.B. in Don Quichote. Im Drama dagegen sieht Schwanitz die Differenz zwischen Interaktion und Gesellschaft als gattungsbegründendes Prinzip. Das Drama entsteht als neuzeitliche Gattung mit der höfischen Interaktionskultur im späten Mittelalter, die sehr intensiv auf Regeln des Verhaltens aufmerksam wird. Im Drama wird die Interaktion der obersten Adelsklasse als repräsentativ für die ganze Gesellschaft modelliert: der Hof wird zum Modell der Gesellschaft, das Drama zum Modell des Hofes. Eine solche ‘repräsentative’ Relation ist im Zuge der funktionalen Differenzierung von Gesellschaft nicht mehr haltbar, Struktur und Themenfokus der Dramen verschieben sich, etwa hin zum Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Sphäre. (Dörner, Vogt, 95f.)

25. Jede Beobachtung vollzieht nach Luhmann eine Unterscheidung, indem sie die eine – statt der anderen – Seite dieser Unterscheidung bezeichnet. Was beobachtet wird – sei es ein Text, eine Gattung, ein Stilmittel oder ein soziales System – ist mithin abhängig von der Unterscheidung, deren sich die beobachtende Operation bedient. Das bedeutet zugleich, dass jede Beobachtung einen ‘blinden Fleck’ aufweisen muss. Dieser blinde Fleck ist sie selbst; denn sie kann sich nicht selbst beobachten. Was dann noch möglich ist, ist die Beobachtung von Beobachtungen, das Unterscheiden von Unterscheidungen. Konsequent ist Systemtheorie als Projekt des rekursiven Beobachtens, der ‘Beobachtung zweiter Ordnung’, ausgelegt, die es mit der Unterscheidung von Unterscheidungen zu tun hat.

Als Unterscheidungstheorie weiß die Systemtheorie zugleich, dass es einen privilegierten Beobachterstandpunkt nicht geben kann. Denn auch auf die Beobachtung von Beobachtungen trifft der Sachverhalt zu, dass sie die Unterscheidung, die sie verwendet, nicht auf sich selber anwenden kann. (Stanitzek, 650f.)

26. Die Systemtheorie ist eine soziologische Theorie, welche die Gesellschaft als umfassendes soziales System sowie einzelne Bereiche – unter ihnen Kunst und Literatur – als soziale Systeme zu beschreiben sucht. Unter dem Dach der Systemtheorie findet man ferner präzise Hinweise zur Theorie der Kommunikation, der Medien und der Evolution. (Stanitzek, 651)

27. Zitieren heißt beobachten, ein Zitat trifft eine Unterscheidung, nämlich die von Text und Kontext. Man hätte sie auch anders treffen können. Immer ist diese Unterscheidung die Leistung eines Beobachters, der seinen Gegenstand konstruiert. Das gilt für jeden Textbezug: Texte sind Konstruktionen von Beobachtern, die mit Unterscheidungen operieren, die sich mit wiederum anderen Unterscheidungen beobachten lassen. Immer handelt es sich um eine Selektion aus einem Repertoire möglicher Unterscheidungen.

(Stanitzek, 651f.)

28. Die Systemtheorie Luhmanns versucht, ihre Gegenstände vor dem Hintergrund ihrer Unwahrscheinlichkeit zu begreifen: Sachverhalte, so selbstverständlich sie wirken mögen, als unwahrscheinlich zu setzen, um sich sodann zu fragen, wie sie gleichwohl möglich sind. (Stanitzek, 653)

29. Systemtheorie fasst kommunikative Ereignisse als die elementaren Einheiten, in denen sich Gesellschaft vollzieht, indem Kommunikationen an Kommunikationen anknüpfen und weitere Kommunikationen veranlassen. Die Einheit einer Kommunikation ist jeweils die Einheit dreier Selektionen: einer Information, als Auswahl aus einem Bereich möglicher Informationen; einer Mitteilung, als Wahl der Kundgabe dieser Information; eines Verstehens, dessen Selektionsleistung in der Bestimmung der Differenz von Information und Mitteilung besteht. Minimalbedingung für das Eintreten des Ereignisses Kommunikation ist also, dass Information und Mitteilung als Differenz verstanden werden können. (Stanitzek, 653)

30. Die Unterscheidung von Mitteilung und Information lässt sich im Fall des Beispieltextes – einer Zeile von Lichtenberg – nur treffen, wenn man von einer speziellen Modulierung der Kommunikation ausgeht, nämlich: dass hier die Mitteilung über sich selber informiert, und zwar nicht darüber, dass sie stattfindet, sondern wie sie stattfindet. Hier macht nämlich – anders als sonst – der Satz auf sein Medium, auf die Buchstaben aufmerksam, aus denen er besteht. Die Information liegt in der Form der Mitteilung; und die Unterscheidung von Mitteilung und Information wird als Unterscheidung der Form getroffen. Es handelt sich um eine Kommunikation, die auf die Beobachtung von Form hin lenkt.

Nichts anderes ist gemeint, wenn Systemtheorie von Kunst oder von Literatur als sozialem System handelt: dass Kommunikationen an Kommunikationen anknüpfen, in denen auf Form hin orientierte Beobachtungen sich rekursiv aufeinander beziehen, so dass Formen damit rechnen können, als solche einen – ‘ihren’ – Unterschied zu machen.

Analog zu anderen sozialen Systemen, die aus kommunikativen Ereignissen bestehen und sich in kommunikativen Ereignissen fortzeugen, lässt sich auch die Kunst begreifen: Ihre Elemente sind als Kommunikationen in einen Prozess eingebunden, in dem sie in der rückgreifenden Beobachtung vorausgegangener Formen ihr abweichendes Profil bestimmen und im Vorgriff unterstellen können, mit dieser Kontur für künftige Beobachtungen einen Unterschied zu machen.

Wenn es in diesem Kommunikationssystem um Form geht, ist damit das, was man sonst der Form als ‘Inhalt’ entgegenzusetzen pflegt, keineswegs ausgeschlossen. Themen und Motive kommen aber im Kommunikationszusammenhang der Kunst letztlich nur im Hinblick auf Form in Betracht. (Stanitzek, 655f.)

31. Ein System, in dem die Lichtenberg-Zeile als Kommunikation von Form beobachtet wird, muss ein codiertes System sein. Es geht um gelungene Form, und diese ist als ‘Wert’ nicht adäquat begriffen, sondern wiederum nur als Moment einer Unterscheidung: ‘gelungen/misslungen’, ‘überzeugend/verfehlt’, ‘schön/hässlich’ oder wie immer man die beiden Seiten dieser Unterscheidung auszeichnen möchte. Sie fungiert als Code des Kunstsystems, als Leitunterscheidung, die von jeder Kommunikation im System getroffen werden muss. Eben darin hat das System seine Einheit; nur indem es sich auf den Code – wie implizit auch immer – zurückbezieht, unterscheidet es sich selbst und bestimt so im Prozess der Kommunikation auf autonome Weise, wo seine Grenzen liegen, d.h.: was es selbst und was – im Unterschied dazu – seine Umwelt ist. Nur in dieser Differenz hat das System seine Identität (im Unterschied zu anderen sozialen Systemen, etwa zur Wissenschaft, deren Kommunikationen mit ‘wahr/falsch’ codiert sind). (Stanitzek, 656f.)

32. Kommunikation ist – im durch den Code geschlossenen System – ein offener Prozess. Unter der Voraussetzung des Codes entfaltet sich das Spiel eines Kommunikationsprozesses mit großer Beobachtungssubtilität und entsprechendem formbezogenen Unterscheidungsreichtum: Unterscheidungen von Gattungen, von Stilen und Stilepochen, von Werken und Autoren. In diesem Spiel werden mit diesen Unterscheidungen auch allererst die Kriterien erzeugt, nach deren Maßgabe die Annahme (oder Ablehnung) erfolgt. Solche Kriterien sind als Programme vom Code wohl zu unterscheiden. Denn der Code ‘gelungen/verfehlt’, ‘schön/hässlich’ informiert ja seinerseits nicht darüber, was denn nun als gelungen und schön überzeugt und was nicht. Z.B. folgt Schleiermachers Urteil über Lichtenberg einem Programm, dem zufolge man Form mit Hilfe der Unterscheidung ‘Ganzes/Teile’ zu beobachten hat. Nur was ein Ganzes bildet, kann als gelungen gelten.

Ein anderes Programm arbeitet mit der Unterscheidung ‘Schriftlichkeit/Mündlichkeit’: Die Qualität der Zeile besteht dann darin, dass hier der Aphorismus die Verpflichtung auf ein an Mündlichkeit gebundenes Stilideal aufkündigt. Der Rückverweis auf den Schriftcharakter leistet zugleich eine Vereinsamung des Textes als Text, dessen Unverständlichkeit den Betrachter herausfordert, nämlich die Beobachtung von Beobachtungen erzwingt und gestattet. (Stanitzek, 657f.)

33. (>Kritik) Literaturwissenschaftler haben gegen die Systemtheorie Luhmanns einen  grundsätzlichen Einwand erhoben: Statt als Kommunikationen seien die Elemente des Sozialsystems Literatur als „literarische Handlungen“ anzusetzen und auf Individuen zurückzurechnen, welche wechselseitig ihre „Handlungen intentionsgerecht interpretieren“.

(>Verteidigung gegen Kritik) Es ist selbstverständlich möglich, z.B. darüber zu kommunizieren, ob und inwiefern bestimmte Formen einen individuellen Stil charakterisieren. Das geschieht aber als Kommunikation im Kommunikationssystem, und Luhmann hält daran fest, dass ein Kommunikationssystem ein autonomes System ist, das nur aus Kommunikationen besteht, keineswegs aus Menschen. Menschliche Individuen – Systemtheorie spricht von ‘Bewusstsein’ bzw. psychischen Systemen – gehören vielmehr in die Umwelt eines solchen Systems. Sie können, mitsamt ihrem Selbstverständnis, ihren eventuellen Intentionen oder Bedürfnissen, nur in der Kommunikation von der Kommunikation konstruiert werden, nicht in sie ‘eingehen’.

Auch der Autor eines Textes ist in dieser Hinsicht in keiner anderen, dem Leser gegenüber privilegierten Lage. Auch für den Autor kommen die ‘eigenen’ Notate nur als Kommunikation in Betracht, er ist also darauf verwiesen, Mitteilung und Information zu unterscheiden und daraus seine Schlüsse zu ziehen. Der Text ist Moment eines Kommunikationsprozesses geworden, und nur in ihm lässt sich ausmachen, was ‘gemeint’ sein könnte; der Rückgang auf der Kommunikation vorausliegende etwaige Intentionen hilft nicht weiter. (Stanitzek, 659f.)

34. Systemtheorien der Gesellschaft gehen im Gegensatz zu Handlungstheorien nicht von der mikrosoziologischen Ebene der Akteure aus, sondern nehmen übergeordnete Strukturen und Regelungsmechanismen an. Ein System besteht aus einer Menge interdependenter (untereinander abhängiger) Elemente und Relationen. Veränderungen eines Elements oder einer Beziehung wirken direkt oder indirekt auf alle anderen Systemelemente ein. Innerhalb eines Systems herrschen bestimmte Regeln, die für genau dieses System typisch sind und es von anderen abgrenzen. Das System ist durch diese Grenze vom Nicht-System, der Umwelt (die aber wiederum als in Systemen organisiert verstanden werden kann) geschieden. Systeme können hinsichtlich ihrer internen Organisation analysiert werden, hinsichtlich ihrer Wechselwirkung mit externen Faktoren. Systeme nehmen Impulse anderer Systeme auf.

Auf die Kritik an der einseitigen Betonung von Systemstabilität und Gleichgewicht in frühen Konzepten antwortet die Systemtheorie mit Vorstellungen von Strukturwandel, lernfähigen Systemen und einer prozessuralen Dimension, die das Entstehen und Vergehen von Systemen als in der Zeit verlaufende funktionale Ausdifferenzierung (und Entdifferenzierung) fasst: neue systemische Zusammenhänge entstehen durch Spezialisierung, durch neue und veränderte Problemlösung. (Zens, 189)

35. In der strukturell-funktionalen Systemtheorie ist die Struktur der Funktion vorgeordnet, grundsätzliches Systemziel ist die Strukturerhaltung; die Leistungen, die beispielsweise einzelne Subsysteme (Untersysteme) bringen, werden auf diesen funktionalen Bezug zur Sicherung der gegebenen Grundstruktur hin befragt. Im Mittelpunkt steht die Beschäftigung mit der internen Organisation. Die Perspektive kann jedoch dahingehend erweitert werden, dass die Adaptation (Anpassung) des Systems an Umwelterfordernisse berücksichtigt wird.

Funktional-strukturelle Konzepte drehen die Perspektive um: der Funktionsbegriff regiert den Strukturbegriff. Wichtiger Grundzug funktionaler Analysen ist das Schließen von Wirkungen auf Ursachen. Die Struktur sozialer Systeme folgt also den funktionalen Erfordernissen des spezifischen Problems, das gelöst werden soll. Nicht die einzelnen Strukturelemente eines Systems, sondern deren Relationen untereinander und die Beziehungen zwischen System und Umwelt rücken in den Vordergrund. Die Orientierung an der Funktion hat den Vorzug, funktionale Äquivalente strukturell unterschiedlicher Elemente erfassen zu können. (Zens, 189f.)

36. Die Reflexivität komplexer Systeme wird in der Annahme selbstreferentieller Systeme gefaßt, die auf das Autopoiesis-Konzept des Neurophysiologen Humberto Maturana zurückgeht. Autopoiesis meint Selbsterzeugung, autopoietische Systeme reproduzieren sich kontinuierlich aus ihren Bestandteilen. Sie sind operational geschlossen und in ihrem selbststeuernden Prozess von Umwelteinflüssen und -reizen unabhängig und unveränderbar. Umwelt wird nicht als solche wahrgenommen, sie wird durch den Selektionsfilter des Systems in Passform gebracht und absorbiert. Das autopoietische System kann nur durch die eigene Brille sehen, es beobachtet die Welt entlang eines binären Codes. Wenn für das System Kunst die grundlegende Codierung ‘schön/hässlich’ angenommen wird, so klassifiziert dieses System alles danach, – auch Geldscheine werden nicht nach ihrem ökonomischen Tauschwert einsortiert, sondern als ‘schön/hässlich’. (Zens, 190)

37. Der Anspruch, eine universale, möglichst weitreichende Theorie zu formulieren, die viele disparate Gegenstände erfassen kann, mündet zwangsläufig in Abstraktion. Es herrscht weitgehender Konsens darüber, dass es Systeme nicht wirklich gibt, dass es sich bei jeder System-Annahme um eine theoretische Konstruktion handelt, die es erlaubt, einen Sachverhalt, einen Gegenstand unter bestimmten komplexen Fragestellungen zu betrachten, die sich aber auf ihre Angemessenheit hin überprüfen und gegebenenfalls verwerfen lassen müssen. Die meisten Konzepte wenden sich gegen eine Ontologisierung des Systembegriffs. Luhmann nimmt hier jedoch einen anderen Standpunkt ein und strebt „die Analyse realer Systeme der wirklichen Welt“ (Luhmann 1984, 30) an. (Zens, 190f.)

38. Bei Luhmann bleiben alle Vorstellungen von Handlung oder Akteur außen vor; er denkt Systeme als Kommunikationsstrukturen, deren einzige, immer gleiche Funktion die Reduktion von (‘Welt’)-Komplexität ist. Aufgabe der Systeme ist die Differenzierung zwischen System und Umwelt; durch diese Trennung wird die Umweltkomplexität vermindert, welche das System in seiner Integrität bedroht: das potentiell verstörende Andere der Umwelt wird wegselegiert oder in systemeigene Elemente transformiert. Luhmann gründet seine Überlegungen auf die Beschreibung lebender Systeme als autopoietischer Regelwerke.

Die Elemente (kleinste Einheiten) sozialer Systeme sind Kommunikationen. Kommunikationen sind Ereignisse, keine dauerhaft zugänglichen Objekte. Sie bestehen aus Information, Mitteilung, Verstehen und sind gegenüber Individuen emergent, d.h. nicht auf deren Handeln zurückzuführen. In Luhmanns Perspektive entsteht das soziale System also nicht durch die Vergesellschaftung von Individuen, sondern durch kommunikative Vernetzung von Selektionsofferten. (Zens, 191)

39. Die Systemdifferenzierung verläuft entlang der Auseinanderentwicklung von bereichsspezifischen binären Codes. Das politische System selegiert beispielsweise Kommunikation nach einer anderen Opposition als das ökonomische, das Rechts- oder Kunstsystem. Die Kommunikationsorganisation über differente Codierung steckt auf diese Weise Geltungsbereiche ab; das einzelne System ist durch Selbstbeschränkung und Delegation entlastet. Mit diesen Selektionsofferten ist noch keine Wertung verbunden, sie sind Wahrnehmungsweisen. Die konfliktorische Auseinandersetzung läuft unterhalb von Leitdifferenzen auf der Ebene der Programmierung ab.(Zens, 191)

40. Luhmann selbst hat systemtheoretische Reformulierungen literaturwissenschaftlicher Positionen vorgelegt. Er konzentriert sich dabei auf die Ausdifferenzierung von ‘Kunst’ als spezifisch geregeltem Bereich und die Betrachtung des einzelnen Kunstwerks im Rahmen dieses Systems ‘Kunst’. Die Ausdifferenzierung der Kunst als autopoietisches Teilsystem der modernen Gesellschaft geschieht unter dem „Sondercode schön/häßlich“ (Luhmann 1986, 620), d.h. die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst (der Umwelt des Kunstsystems) wird durch die Applikation der Leitdifferenz schön/nicht-schön gezogen. Dieser binäre Code markiert die selbsterzeugende, unveränderliche Grundstruktur des Systems, abweichende Elemente der jeweils kommunizierten Kunstbegriffe (Kunst als Innovation, Provokation usw.) oder Divergenzen zwischen den einzelnen Kunstformen werden von dieser Reduktionsformel nicht erfasst, sie wären auf der (untergeordneten) Ebene der Programmierung zu berücksichtigen, berühren aber nie die Grundstruktur des Systems. (Zens, 192)

41. Die Elemente des Kunstsystems sind die einzelnen Werke, nicht als materiale Entitäten, sondern als „Programm für zahllose Kommunikationen über das Kunstwerk“. (Ebd., 627) Das Werk vereinheitlicht die auf es bezo