8 Empirisch-konstruktivistische Ansätze

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8.02 Literaturtheoretische und 'übergreifende' Voraussetzungen. Die wichtigsten Ansätze

1. Die Literaturwissenschaft gilt als Prototyp einer hermeneutischen Wissenschaft, d.h. einer Disziplin, in der das ‘Verstehen’ als Methode der Textauslegung eingesetzt wird. Allerdings hat der Siegeszug der Naturwissenschaften dazu geführt, dass sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Reihe von ursprünglich hermeneutischen Disziplinen zu empirischen Wissenschaften gewandelt hat; dies gilt für die Psychologie, Soziologie, Pädagogik, in denen seither das intersubjektiv systematische Beobachten und Erklären im Vordergrund stehen. Die empirisch-konstruktivistische Konzeption einer Literaturwissenschaft postuliert, dass eine vergleichbare ‘Empirisierung’ auch für die Erforschung von Literatur möglich, sinnvoll und nützlich ist. Dadurch wird eine Vernetzung mit den empirischen Sozialwissenschaften angestrebt, die deren Empiriebegriff auch für die literaturwissenschaftliche Analyse zu adaptieren versucht und so die Literaturwissenschaft in einer empirischen interdisziplinären Kommunikations- bzw. Kulturwissenschaft etablieren möchte. (Groeben, 619)

2. Nach diesem Wissenschaftsverständnis gibt es auch im Bereich literaturwissenschaftlicher Analysen eine Fülle von Sätzen, deren Geltung nicht (nur) mit der Zugangsweise des Verstehens ‘geprüft’ werden sollte. Dazu gehören Sätze wie die folgenden:

(1) Ein bestimmtes Textgenre (z.B. der Kriminalroman) ist durch ein konstitutives Inhaltsmerkmal (z.B. Sieg des Guten über das Böse) und/oder Strukturmerkmal (z.B. Problemauflösung vom Schluss her) gekennzeichnet; und dieser Textinhalt bzw. dieses Strukturmerkmal wirken auf die Rezipienten in einer bestimmten Weise (z.B. ‘mit den Ungerechtigkeiten des Alltagslebens versöhnend’ bzw. ‘entspannend durch Spannungsaufbau und -lösung’).

(2) Die Literaturkritik (z.B. der 70er Jahre) hat das Werk eines bestimmten Literaten (z.B. Uwe Johnson) auf eine bestimmte Lesart (z.B. ‘Dichter des zweigeteilten Deutschlands’) festgelegt.

Solche Sätze können in unterschiedlichen Zusammenhängen vorkommen: in einer Gattungsexplikation oder Analyse literarischer Wirkung und Wertung sowie in der Erforschung von Institutionen des Literatursystems (z.B. der Literaturkritik). Die klassisch-hermeneutische Analyse versucht nun, die Geltung solcher Sätze dadurch zu belegen, dass ‘Daten’ aus der Textrezeption des analysierenden Wissenschaftlers angeführt werden. Dies erscheint aus empirisch-konstruktivistischer Sicht als methodisch unzureichend; denn Texte generell (und literarische allemal) können auf verschiedene Art und Weise rezipiert werden, so dass durch dieses Vorgehen keine zureichend intersubjektive Erkenntnis gesichert werden kann. Der Grund dafür liegt in der (kognitiven) Konstruktivität der menschlichen Informationsverarbeitung (auch und gerade von in literarischen Texten transportierten ‘Informationen’). Bei der kognitiven Verarbeitung von Informationen werden Bedeutungen eben nicht nur rezipiert, sondern auch aktiv geschaffen (konstruiert), bis der Text einen für den Leser kohärenten Sinn ergibt. (Groeben, 619f.)

3. Was bedeutet ‘empirisch-konstruktivistisch’? Die Kernannahme der aktiven Konstruktivität menschlicher Informationsverarbeitung ist innerhalb und außerhalb der Literaturwissenschaft entwickelt worden. Innerhalb der literaturwissenschaftlichen Theorie handelt es sich dabei vor allem um Modelle der Rezeptionsästhetik und Semiotik, die die Mehrdeutigkeit und Offenheit des Kunstwerks herausgestellt haben. Diese Polyvalenz des literarischen Texts kommt dadurch zustande, dass er durch eine Reduzierung rezeptionssteuernder Komponenten gekennzeichnet ist, durch die sich für den Leser verschiedene, aber in sich kohärente Bedeutungen ergeben können. Folglich ist der Rezipient ein notwendiger ‘Vollender’ des Kunstwerks (Eco), und seine (produktive) Rezeption wird zur ‘bedeutungskonstitutiven Instanz’ (Schmidt). Damit wird der essentialistisch-ontologische Textbegriff der klassischen hermeneutischen Textauslegung in Richtung auf einen ‘funktionalen’ Textbegriff überwunden, der immer die Bedeutung eines Textes für einen Rezipienten in einer bestimmten Situation bezeichnet. Gestützt wird diese Perspektive auch durch empirische Ergebnisse und Theorien in der (kognitiven) Textwissenschaft sowie Sprach- und Denkpsychologie. Hier konnte bereits für nichtliterarische Texte gesichert werden, dass die Rezeption immer aus einem aktiven Zusammenfügen von im Text übermittelten Informationen mit dem Weltwissen des Lesers besteht, d.h. einer Bedeutungskonstruktion, die für ihn ‘Sinn macht’. Diese Konstruktivität gilt für literarische Texte in noch stärkerem Maße. (Groeben, 620f.)

4. Die empirische Literaturwissenschaft zieht aus dieser Kernannahme eine radikalere Folgerung als die Rezeptionsästhetik, die an der hermeneutischen Methodik festhält. Dagegen fordert die empirische Position, die Textrezeption intersubjektiv-systematisch zu erforschen. Der Unterschied zwischen der hermeneutischen Methode des Verstehens und der empirischen Systematik soll an einem Beispiel verdeutlicht werden.

Gegeben sei die Hypothese, dass die ‘Helden’ in Kriminalromanen so geschildert werden, dass entweder ‘sympathetische’ oder ‘bewundernde’ Identifikation ausgelöst wird (bzw. werden soll). Eine hermeneutische Analyse würde nun – idealtypisch – so vorgehen, dass sie besonders symptomatische Beispiele von Kriminalromanhelden (zum einen ‘unvollkommene alltägliche Helden’, zum anderen ‘vollkommene Helden’) auswählt und an diesen verdeutlicht, dass ein entsprechendes Identifikations’angebot’ vorliegt. Die empirisch-systematische Inhaltsanalyse geht dagegen sehr viel analytischer vor. Zunächst wäre eine repräsentative Stichprobe von Kriminalromanen auszuwählen. Sodann zerlegt die Inhaltsanalyse die ausgewählten Kriminalromane in einzelne Analyseeinheiten und ordnet diese bestimmten von der Hypothese abgeleiteten Kategorien zu. Auf diese Weise wird geprüft, ob der Inhalt der Kriminalromane in der Tat (überzufällig) häufig die von der Hypothese postulierten Merkmale aufweist. Als Analyseeinheiten könnten z.B. (relativ formal) einzelne Abschnitte der jeweiligen Romane angesetzt werden; es sind aber gegebenenfalls auch inhaltlich-thematische Festlegungen möglich. Als Kernstück des inhaltsanalytischen Vorgehens ist die Ableitung der Kategorien anzusetzen, anhand deren in diesem Fall das ‘Identifikationsangebot’ der Texte systematisch erfasst werden kann.

Die einzelnen Analyseeinheiten werden systematisch den explizierten Bedeutungskategorien zugeordnet, und zwar von mindestens zwei Personen; die Intersubjektivität dieser Zuordnung ist durch eine Übereinstimmungsmessung auch quantitativ ausdrückbar. Anhand der Ergebnisse lässt sich feststellen, ob – wie theoretisch behauptet – vor allem Analyseeinheiten mit sympathetischer und bewundernder Identifikation auftreten oder nicht; die Zufälligkeit bzw. Überzufälligkeit der quantitativen Relationen wird durch sogenannte interferenzstatische Tests geprüft. (Groeben, 621f.) 

5. Darin kommt der zentrale Unterschied zwischen dem hermeneutischen und dem empirisch-systematischen Vorgehen zum Ausdruck. Die hermeneutische Methode besteht vor allem darin, ‘positive’ Beispiel für die jeweilige Hypothese herauszusuchen, anzuführen und in einer dem Einzelfall angemessenen Komplexität zu diskutieren. Demgegenüber ist die empirisch-systematische Methodik darauf ausgerichtet, auch die ‘negativen’ Daten, die nicht der Hypothese entsprechen, zu berücksichtigen – entsprechend Poppers Falsifikationsprinzip.

Damit ist in der empirischen Literaturwissenschaft eine Perspektive verbunden, die alle mit literarischen Texten in Verbindung stehenden Handlungsprozesse in den Mittelpunkt stellt. Als solche hat vor allem Schmidt die Handlungsrollen der Produktion, Rezeption, Verarbeitung und Vermittlung von Literatur eingeführt. Dabei repräsentieren er und seine Mitarbeiter jenen Strang der ‘Empirisierung’ der Literaturwissenschaft, der von der Theoriebildung ausgeht; komplementär dazu hat Groeben die Grundlegung der konstruktivistischen Wissenschaftskonzeption von der Entwicklung empirischer Methoden aus konzipiert. (Groeben, 622)

6. Handlungsrollen im Literatursystem. Die Forschung der Empirischen Literaturwissenschaft bezieht sich vor allem auf die genannten vier Handlungsrollen, wobei die Erforschung der Textrezeption wegen ihrer theoretischen Bedeutung besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Unter dem Aspekt der Produktion herrscht bislang noch die psychologisch ausgerichtete Erforschung der Persönlichkeit und Kreativität des Autors vor. Dabei konnte gesichert werden, dass sowohl die Genie-Irrsinn- als auch die Neurose-Theorie der Kreativität nicht als adäquat anzusehen sind. Literarische Kreativität entsteht nicht durch ‘Irrsinn’ bzw. ‘Neurose’, sondern höchstens trotz solcher Belastungen. Allerdings ist die kreative Persönlichkeit als eine paradoxale zu beschreiben, in der sich psychopathologische Belastungen und ‘gesunde’ Vitalität und Bewusstheit konstruktiv verbinden. Prozessanalysen der Produktion sind dagegen unter Rückgriff auf Berichte und Reflexionen von Literaten bisher eher unsystematisch (hermeneutisch) als inhaltsanalytisch empirisch vorgenommen werden. Das gleiche gilt für Analyse der Produktionsvoraussetzungen einzelner Werke. (Groeben, 622f.)

7. Die Kernannahme der kognitiv-konstruktiven Textverarbeitung konnte – bezogen auf die Rezeption literarischer Texte – durchweg empirisch bestätigt werden: so die von Schmidt aufgestellte These, dass die Rezipienten an literarische Texte nicht das sonst übliche ‘Wahrheits’kriterium anlegen und verschiedene in sich kohärente Bedeutungen generieren bzw. zumindest tolerieren.

Die Konstruktivität der Informationsverarbeitung macht es notwendig, die Rezeption als eine Text-Leser-Interaktion zu modellieren, für die der Leser ein erhebliches Gewicht besitzt. Dass Leser an literarischen Texten heraussuchen, was für ihre Lebensproblematik bedeutsam ist und es mit ihrem Welt- bzw. Alltagsverständnis zusammenfügen, hat sich immer wieder nachweisen lassen. Über die individuellen Lesemerkmale hinaus konnten als übergreifende Einflussfaktoren vor allem relativ formale Variablen gesichert werden wie Alter, damit zusammenhängende Lesekompetenz, verbale Intelligenz und die Deutschnote. Auch für die Geschlechtsvariable konnte ein Einfluss nachgewiesen werden. (Groeben, 623)

8. Doch auch der Textfaktor ist für die durchschnittliche Rezeption relevant. Einzelmerkmale allerdings, wie die Ich- oder die Er-Erzählform, die in der hermeneutischen Literaturwissenschaft ausführlich diskutiert werden, fallen nicht ins Gewicht. Komplexere Merkmale jedoch wie Äquivalenzen, Abweichungen oder Mehrdeutigkeiten spielen für den Poetizitätseindruck eine Rolle. Prosa wird z.B. durch zu viele Metaphern und Wiederholungen als ‘überpoetisiert’ empfunden, durch zu abstrakte Ausdrücke oder Fachsprache als ‘unterpoetisiert’. Textteile, die für die Rezeption zentral sind, lassen sich als Abweichungen/Parallelitäten auf den Niveaus der Phonologie, Grammatik und Semantik feststellen.  (Groeben, 623f.)

9. Unter dem Aspekt der Verarbeitung und Wirkung literarischer Texte unterscheidet die Empirische Literaturwissenschaft dezidiert zwischen Textinhalt/-struktur als Wirkungspotential und der davon beeinflussten, aber nicht vollständig determinierten Wirkung. Denn die (kognitive) Konstruktivität der Rezipienten hat eben zur Folge,  die Wirkungspotentiale von Texten in ihrer Richtung verändert bzw. sogar gebrochen werden können. Um die Textinhalte und -strukturen zu sichern, verwendet die Empirische Literaturwissenschaft die schon erwähnte Methode der Inhaltsanalyse. Mit ihr lassen sich Einzeltexte untersuchen, aber auch Textkategorien, historische Entwicklungen und die Frage nach der Widerspiegelung gesellschaftlicher Realität in der Literatur. (Groeben, 624)

10. Unter der Vermittlungsperspektive sind für die Empirische Literaturwissenschaft die Ergebnisse der klassischen psychologisch-soziologischen Forschung zur Lesemotivation von besonderer Bedeutung. Sie verweisen auf eine schichtspezifische Verteilung: Angehörige der Mittelschicht entwickeln eine stabilere Lsemotivation als Angehörige der Unterschicht. Elternhaus, Schule und die jeweilige Peer-group lassen sich dabei als zentrale Vermittlungsinstanzen nachweisen. Für die Instanz der Literaturkritik hat sich vor allem die Vernetzung mit anderen politischen bzw. weltanschaulichen Überzeugungen sichern lassen. (Groeben, 625)

11. Mit der Empirisierung der Literaturwissenschaft ist eine Veränderung der Schwergewichte literaturwissenschaftlicher Forschung verbunden, und zwar gleichgültig, ob man von einer Ersetzungs-, Ergänzungs- oder Integrationsrelation zur hermeneutischen Literaturwissenschaft ausgeht.

Die Empirisierung der Literaturwissenschaft bietet den Vorteil einer stärkeren Vernetzung mit den übrigen empirischen Sozialwissenschaften; und es spricht viel dafür, dass die Literaturwissenschaft nur im Rahmen einer solchen interdisziplinären empirisch-kommunikations-wissenschaftlichen bzw. -kulturwissenschaftlichen Konzeption ihr Gewicht wird bewahren können. (Groeben, 625f.)

12. Während sich die hermeneutisch orientierte Rezeptionsforschung um eine Verknüpfung von Werk- und Rezeptionsanalyse bemühte, hat die Empirische Literaturwissenschaft eine radikale Trennung von Werk und Aneignung vorgenommen. Wie die empirisch orientierte Literatursoziologie etwa Fügens, so will auch sie keine Aussagen über die ästhetische Qualität  von Texten machen, sondern ausschließlich ihre kommunikative Funktion untersuchen.

Die Empirische Literaturwissenschaft will kein empirisch verfahrender Zweig innerhalb der herkömmlichen Literaturwissenschaft sein, sondern die Disziplin dadurch neu begründen, dass sie die Verfahrensweisen der empirischen Sozialforschung auf die Analyse literarischer Kommunikation überträgt. Die Eigenständigkeit wird äußerlich durch die Großschreibung des Adjektivs ‘Empirisch’ zum Ausdruck gebracht. ‘Empirisch’ bedeutet dabei im Sinne des Kritischen Rationalismus und der analytischen Wissenschaftstheorie, dass Aussagen grundsätzlich durch Erfahrungen überprüfbar und falsifizierbar sein müssen. Damit verbunden sind der Anspruch auf Anwendungsorientierung und ein hohes Maß an Exaktheit in Begriffen und Definitionen, die zu einer starken Formalisierung der Sprache führt. (Schöttker, 552f.)

13. In Deutschland wurde die Empirische Literaturwissenschaft 1972 von Norbert Groeben begründet. Sie hat 1980 mit dem Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft vonSiegfried J. Schmidt ein umfassendes theoretischen Fundament bekommen, ist aber keineswegs abgeschlossen. Während die theoretischen Entwürfe durch Systematik und Genauigkeit beeindrucken und für die hermeneutische Literaturwissenschaft zweifellos eine Bereicherung darstellen können, haben die bisherigen Erträge empirischer Untersuchungen für den außenstehenden Betrachter eher begrenzten Wert, da sie vor allem der internen Theoriebildung dienen und kaum neue Einsichten in Textstrukturen oder Rezeptionsweisen vermitteln. Doch könnten Anspruch und Grenzen der Empirischen Literaturwissenschaft nur im Rahmen eines neuen Positivismusstreits geklärt werden. (Schöttker, 553)

14. Es gibt auch innerhalb der Empirischen Literaturwissenschaft unterschiedliche Positionen. Während die von Norbert Groeben begründete Richtung von der Psychologie ausgeht und sich als leserbezogene Rezeptionsforschung begreift, ist die von Siegfried J. Schmidt geprägte Schule stärker auf die Linguistik und die Kommunikationswissenschaften bezogen und als umfassende Handlungstheorie konzipiert. Ausgangspunkt ist hier nicht mehr das Verhältnis von Text und Leser wie bei Groeben, sondern das literarische Handeln auf den Ebenen der Produktion, Vermittlung, Rezeption und Verarbeitung. (Schöttker, 544)

15. Die Schmidt-Schule ist in den achtziger Jahren zum einen eine Verbindung zur soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns eingegangen, zum anderen hat sie sich an die Erkenntnistheorie des radikalen Konstruktivismus angelehnt, der von der Auffassung ausgeht, dass alle Formen menschlicher Wahrnehmung subjektive Konstruktionen und keine Repräsentationen der Wirklichkeit darstellen.

Die Empirische Literaturwissenschaft zeigt insgesamt, dass die Rezeptionsforschung hier eine empirische und theoretische Weiterentwicklung erfahren hat, während die Debatte in der hermeneutischen Literaturwissenschaft Ende der siebziger Jahre zum Stillstand kam. (Schöttker, 554)

16. Der Ansatz ist in den 70er Jahren ‘erfunden’ worden, um in einer spezifischen (wissenschafts-) historischen Situation als relevant erkannte literaturwissenschaftliche Probleme zu bearbeiten.

Die Literaturwissenschaften und speziell die Philologien (allen voran die Germanistik) schienen in den Jahren nach 1945 gewisse nationalistische Entgleisungen durch eine strikte Orientierung auf den Text kompensieren und einer politischen Inanspruchnahme durch eine Art Philologismus vorbeugen zu wollen. Als aber in den 60er Jahren die Selbstbeschränkung und Selbstverleugnung textimmanenter Positionen einer politisierten und gesellschaftskritischen Studentengeneration nicht mehr plausibel zu machen waren, griff die Disziplin formalistische, strukturalistische und materialistische Literaturtheorien auf, die schon früher die Einsicht vermittelt hatten, dass „Literatur“ unter inhaltlichen ebenso wie unter formalen Gesichtspunkten sinnvoll in Beziehung zu anderen gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen Faktoren analysiert werden kann. Daneben knüpfte man an geistesgeschichtliche, psychoanalytische und phänomenologische Konzeptionen an, bis in den 70er Jahren die Rezeptionsästhetik und verschiedene Ansätze zur Sozialgeschichte der Literatur neue methodische Standards etablierten. (Rusch, 215f.)

17. Zu Beginn der 70er-Jahre wird Literatur unter einer beständig wachsenden Anzahl unterschiedlicher Gesichtspunkte thematisiert, die – z.T. als eigenständige methodische Ansätze vorgestellt – relativ unvermittelt nebeneinander koexistieren.

Die Literaturforschung präsentiert sich seit den 70er Jahren als noch vorwissenschaftliches, in den Erkenntnisinteressen äußerst heterogenes, methodisch und theoretisch uneinheitliches Arbeitsfeld. Der desolate Zustand der Literaturwissenschaft hat denn auch zu Debatten über ihre Nutzlosigkeit oder Relevanz geführt und zu zahlreichen Therapievorschlägen angeregt. (Rusch, 216f.)

18. Erste Vorschläge zur Empirisierung der Literaturwissenschaft stammen bezeichnenderweise nicht unmittelbar aus der Disziplin selbst, sondern sind von Linguisten und Philosophen (Jens Ihwe und Siegfried J. Schmidt), einem Psychologen (Norbert Groeben) und einem linguistischen Semiotiker (Götz Wienold) in die Diskussion eingebracht worden. In den 70er- und 80er-Jahren haben sich dann zwei Konzeptionen Empirischer Literaturwissenschaft herausgebildet. (Rusch, 217)

19. Methodenorientierte Konzeption. Diese von dem Psychologen Norbert Groeben entwickelte Konzeption verfolgt das Ziel der Empirisierung der Literaturwissenschaft. Sie stellt sich ausdrücklich in den Dienst der literaturwissenschaftlichen Bemühungen um die Explikation von Sinn und Bedeutung literarischer Werke und bietet dazu empirische Verfahren an, die dem Methodenarsenal der experimentellen Psychologie und der Sozialwissenschaften entstammen. So wird z.B. die empirische Konkretisation von Interpretationen durch die „Konstruktion von Werksinn anhand empirischer Rezeptionsdaten“ in Aussicht gestellt. Diese soll vor allem der Objektivierung von Interpretationen dienen, zugleich aber auch einige zentrale wissenschaftstheoretische Defizite der Literaturwissenschaft beheben, denn sie weist nach Groeben „alle wissenschaftstheoretischen Charakteristika moderner empirischer Wissenschaften auf (u.a. Trennung von Theorie- und Beobachtungssprache, intersubjektive Verfahren der Realitätskontrolle, Adäquanzprüfung der theoretischen Konstrukte über ihren empirischen Wert, theoretische Erklärungen durch explikative Konstrukte etc.)“. (Rusch, 217)

20. >Kritik. Bedenklich ist, dass Groeben sein Programm sozusagen als hermeneutische Hilfswissenschaft einführt. Gerade dieses Gegenstandsverständnis scheint im wesentlichen der Grund für die fatale Lage der Literaturwissenschaft zu sein, die ihr vornehmstes Erkenntnisziel aus prinzipiellen Gründen verfehlen muss. Dieses Grundproblem durch den Einsatz empirischer Methoden zu flankieren, verspricht kein besonders aussichtsreiches Unternehmen zu werden. (Rusch, 217f.)

21. Theorienorientierte Konzeption. Sie wurde unter der Leitung von Siegfried J. Schmidt von der Arbeitsgruppe NIKOL entwickelt. In zwei Bänden legte Schmidt 1980 und 1982 einen Grundriss der Empirischen Literaturwissenschaft vor, der ein Paradigma postuliert, das sich ausdrücklich nicht in den Dienst hermeneutischer Literaturwissenschaft stellt.

Die NIKOL-Konzeption ist aus einer methodologischen Kritik literaturwissenschaftlicher Interpretationspraxis und der Kritik eines emphatischen Text- und Literaturbegriffs motiviert. Die Konzeption ist als eine vollständige Wissenschaft, ein eigenes Paradigma geplant. Sie expliziert ihre Meta-Theorie, ihre Begriffe von Erkenntnis und Wissenschaft, ihre meta-theoretischen Werte, z.B. Theoretizität, Empirizität und Politizität, und verpflichtet sich damit auf einen Wissenschaftstyp, der explizite Theoriebildung, erfahrungswissenschaftliche Methoden und die praktische Anwendbarkeit von Wissen anstrebt.

Die Empirische Theorie der Literatur ist eine kommunikations- und systemtheoretische Sozial-Psychologie der Literatur. (Rusch, 218f.)

22. Was bedeutet „empirisch“? Der Terminus „empirisch“ verweist auf eine bestimmte Tradition des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens und Handelns, in der die Rolle menschlicher Erfahrung für die Erkenntnis in besonderer Weise betont worden ist (Bacon , Hobbes, Locke, Berkeley, Hume, Kant, Mach).

„Empirisch“ bedeutet (im Rahmen des Radikalen Konstruktivismus): unter Bedingungen einer (aus Gründen der Rationalität) ala denknotwendig unterstellten, jedoch kognitiv unzugänglichen Realität mit den Mitteln menschlicher Kognition (Wahrnehmen, Beobachten, Experimentieren in/mit einer kognitiv-sozial konstruierten Wirklichkeit) herauszufinden versuchen, wie Probleme tatsächlich gelöst werden können. (Rusch, 219)

23. Was bedeutet „Wissenschaft“? Wissenschaft muss wenigstens in einem gewissen Maße durch die Öffentlichkeit kontrolliert werden können. Und natürlich sollte es – wenigstens im Prinzip – jedermann ermöglicht werden, die vorgeblichen Erkenntnisse der Wissenschaftler zu überprüfen, bevor er sich auf diese einlässt. Die wichtigsten methodologischen Prinzipien der Wissenschaften sind:

(1) Explizitheit, schließt ein: explizite Begrifflichkeit, Beschreibung der thematischen Phänomene, Erklärung der thematischen Gegenstände etc.

(2) Lehr- und Lernbarkeit, schließt ein: klare Darstellung von Theorien, Vermittelbarkeit in der Lehre, Nachvollziehbarkeit etc.

(3) intersubjektive Überprüfbarkeit, schließt ein: Beobachtbarkeit, Wiederholbarkeit, Kommunikabilität etc.

(4) Systematizität, schließt ein: planmäßiges, wohlüberlegtes, begründetes Vorgehen. (Rusch, 219f.)

24. Zur Charakterisierung dessen, was Wissenschaft bedeuten sollte, benötigt man also zunächst einmal gar nicht so etwas wie einen Begriff von Wahrheit, ein Konzept von Wirklichkeit oder Realität. Es genügt vollkommen, die Bedingungen zu spezifizieren, unter denen wissenschaftliches Handeln sozial und kommunikativ sinnvoll erscheint.

Wahrheit entsteht als Verpflichtung und Ziel von Wissenschaft erst als Derivat der kommunikativen Komponenten von Wissenschaft: Sätze können wahr oder falsch sein. Die sprachlich-begriffliche Identifikation von Phänomenen im Rahmen von Theorien kann gut oder schlecht gelingen.

Wirklichkeit wird problematisch erst dann, wenn man sie von etwas unterscheiden oder zu etwas in Beziehung setzen kann, das entweder unwirklich (fiktional) oder aber wirklicher als wirklich (wie z.B. die aubatomaren Elemente der Materie) sein soll.

Wissenschaft ist die Fortsetzung des Alltagshandelns unter verschärften Bedingungen. Empirische Wissenschaft heißt dann: wissenschaftliche Erkundung, Entwicklung und Bereitstellung von Handlungsoptionen, die tatsächlich befriedigende Beschreibungen, Erklärungen und Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf bestimmte Phänomenbereiche gestatten. Empirische Literaturwissenschaft verfolgt dieses Ziel im Hinblick auf den Bereich literarischer Phänomene. (Rusch, 220)

25. Was sind literarische Phänomene? Sie können näher charakterisiert werden als ästhetische Texte, als Sprachkunstwerke. Aber was sind denn ästhetische Texte? Das Standardverfahren zur Beantwortung dieser Frage sieht eine Definition durch die Angabe von Beispielen und deren Analyse vor.

Dem entgegen steht folgende Vermutung: Ästhetische Qualität ist kein Merkmal, das an Texten beobachtet werden kann! Oder: bestimmte Texte sind nicht an sich literarisch, sie haben nicht bestimmte naturwüchsige Eigenschaften, die sie zu literarischen Texten machen. D.h. es gibt nicht so etwas wie eine Text-Spezies „Literatur“, deren ‘Natur’ wir durch die genaue Untersuchung von Texten erforschen könnten. Aber warum sollte Literatur kein Gegenstand wie jeder andere sein?

(1) Anders als z.B. biologische Arten zeichnet sich Literatur gerade nicht dadurch aus, dass sie sich durch eine endliche Liste von Merkmalen bzw. Eigenschaften bestimmen lässt. Denn im Gegensatz zu natürlichen Spezies scheint es hier geradezu konstitutiv zu sein, dass sich von Zeit zu Zeit ihre Eigenschaften radikal und grundlegend, d.h. revolutionär, verändern. In der Kunst und Literatur stellt die Avantgarde die Begriffe von Kunst und Literatur ständig neu in Frage, verändert damit die ästhetische Praxis und die ‘Natur’ der Kunstwerke.

(2) Literatur wird von Menschen überhaupt erst hervorgebracht. Literarische Texte sind menschliche Kreationen, Resultate menschlichen Gestaltungswillens.

(3) Literarische Texte sind semiotische Gegenstände, denen von Autoren und Rezipienten Bedeutungen erst zugeordnet werden. (Rusch, 220f.)

26. Aus diesen Überlegungen kann man zwei wichtige Folgerungen ziehen:

(4) Literatur kann nicht ohne Berücksichtigung derjenigen analysiert werden, die sie gemeinsam erzeugen: die Autoren (als Hersteller von Texten, die als literarische Texte präsentiert werden) und die Rezipienten (die Texte als literarische Texte lesen und verstehen).

(5) Für Literatur sind die Leistungen der Akteure (Autoren, Rezipienten etc.) – und nicht die Merkmale von Texten – konstitutiv. Denn diese bestimmen, welche Merkmale Texte als literarisch qualifizieren. (Rusch, 221)

27. Zu Schmidts Theorie literarischen kommunikativen Handelns (TLKH). Als Gegenstandsbereich dieser Theorie werden literarische Handlungen (nicht Texte) bestimmt, in denen Akteure (in der Theorie „Aktanten“ genannt) mit solchen Texten umgehen, denen sie die Eigenschaft „literarisch“ zuschreiben. Dabei wird Literarizität (als eine Texten attribuierte Eigenschaft) abhängig gemacht von der Art und Weise, wie Aktanten mit Texten umgehen.

Produzieren oder lesen sie Texte nicht primär im Hinblick auf ihre erfahrungsweltliche Referenzialisierbarkeit, so handeln sie einer Konvention gemäß, die als ästhetische Konvention bezeichnet wird.

Produzieren oder rezipieren Aktanten Texte außerdem nicht unter dem Gesichtspunkt der Eindeutigkeit der Texte und Text-Komponenten sowie der ausgesagten Sachverhalte, sondern erwarten sie eine bzw. schreiben oder lesen sie im Hinblick auf eine Vielzahl möglicher Lesarten und Bedeutungsvarianten, so handeln sie gemäß der Polyvalenz-Konvention.

Unter diesen Voraussetzungen gelten nun Texte als literarisch, wenn sie von Aktanten als literarische Texte behandelt werden, d.h. wenn Aktanten im Umgang mit Texten den beiden genannten Konventionen folgen. (Rusch, 222)

28. Literarische Prozesse werden als integrale Komponenten von Gesellschaft aufgefasst, die sich zusammen und in Wechselwirkung mit anderen gesellschaftlichen Prozessen verändern.

Mit der Formulierung von Hypothesen über Prozesse geschichtlicher Veränderung geht die ETL weit über das in der Literaturgeschichte Übliche hinaus: Erstens werden tatsächlich auf der Basis expliziter Theorien Hypothesen über diachrone Prozesse angeboten und nicht Darstellungen literarhistorischer Begebenheiten geliefert. Zweitens versucht der ETL-Typ von Literarhistorie nicht, die Konstruktivität literarhistoriographischer Arbeit zu verschleiern. (Rusch, 224)

29. Probleme und Perspektiven. Wird Literaturwissenschaft als empirische Sozialwissenschaft betrieben, so entsteht in der Außenwahrnehmung leicht der Eindruck, dieser Literaturwissenschaft ginge es gar nicht mehr um die Literatur, sondern um soziale Prozesse, kognitive Schemata usw.

Replik: Erstens ist der Gegenstand der Empirischen Literaturwissenschaft Literatur. Es geht also ganz zentral darum, eine Literaturtheorie zu entwickeln, die uns die Beantwortung von Fragen nach der ‘Natur’ der von uns beobachteten literarischen Phänomen, nach der Literarizität der kanonischen Texte, nach den Voraussetzungen, Ursachen, Bedingungen und Folgen des Umgangs mit literarischen Texten usw. gestattet. Wenn sich nun zeigt, dass Texte als semiotische Objekte nicht aufgrund endogener bzw. immanenter Ursachen literarisch sind,, sondern aufgrund eines komplexen Ursachenbündels aus verschiedenen Faktoren, dann muss eine Theorie der Literatur diese Faktoren berücksichtigen. Es ist dann ganz selbstverständlich, dass sich der Status von Texten in diesem Ursachenfächer verändert. Der Eindruck ist also durchaus zutreffend, und es hat gute Gründe, dass Texte in einer Empirischen Literaturwissenschaft eine nicht so prominente Rolle wie in hermeneutischen Ansätzen spielen. (Rusch, 225)

30. Wie gehen nun Empirische Literaturwissenschaftler mit Texten um? Die Empirische Theorie der Literatur ist eine Theorie über die Bedingungen der Zuschreibung von Literarizität. Der Theorie zufolge gelten Texte als literarisch, wenn Akteure in spezifischer Weise mit ihnen umgehen, insbesondere in ihrem auf Texte bezogenen Handeln den postulierten Konventionen folgen.

Was muss jemand tun, wenn er der ästhetischen und der Polyvalenzkonvention folgt? Er muss zunächst einmal Kommunikate, Vorstellungen von dem im Text ausgesagten Sachverhalten, eine Lesart eines Textes (und seiner Komponenten) erzeugen. Aufgrund seiner Beobachtungen, seiner persönlichen Präsuppositionen, Dispositionen und Motivationen muss der Leser (der ästhetischen Konvention folgend) im Verlaufe seiner Lektüre mehrfach darüber entscheiden, ob er den Text unter dem Gesichtspunkt der Tatsächlichkeit der ausgesagten Sachverhalte oder unter dem Aspekt der Fiktionalität der ausgesagten Sachverhalte lesen möchte bzw. lesen kann. (Rusch, 225f.)

31. Von besonderem Interesse ist, auf welcher Basis Leser die Entscheidung treffen, einen Text literarisch zu lesen. Daraus ergibt sich für eine empirische Theorie literarischer Rezeption ein spezifischer Bedarf für solche textanalytischen Instrumente und Verfahren, die rezeptionsrelevante Textmerkmale auf grammatischer und semantischer Ebene zu beschreiben und mit den Literarizitätsentscheidungen von Lesern zu korrelieren gestatten.

Für die Beantwortung der Frage nach den Bedingungen und Voraussetzungen für die Vergabe des Literarizitätsprädikats braucht die Textanalyse nur so weit zu gehen, wie Rezipienten in ihrer Lektüre gehen. Und dies ist eine empirische Frage. (Rusch, 226)

32. Der Literaturbegriff. Die Innen-Außen-Differenzierung des Systems Literatur soll durch die Ästhetik- und Polyvalenz-Konventionen geleistet werden.

Es stellt sich die Frage, ob Rezipienten tatsächlich immer eine Mehrzahl von Lesarten realisieren, oder ob sie sich nicht vielmehr mit ihren spontan realisierten und subjektiv plausiblen Lesarten begnügen. Im Falle der starken Polyvalenz würde man es mit einem relativ kleinen Literatursystem zu tun haben, aus dem die allermeisten Fälle literarischer Kommunikation ausgeschlossen bleiben. Die ungenügende Differenziertheit des Polyvalenz-Konzeptes hat dem Missverständnis Vorschub geleistet, die ETL würde eine normative Elite-Ästhetik begründen. (Rusch, 226f.)

33. Durch Importe aus der Selbstorganisationstheorie und der theoretischen Soziologie Niklas Luhmanns sollten bestimmte Defizite der ETL beseitigt werden.

Die systemtheoretischen Anleihen bei Luhmann haben die schon bekannten Probleme aber nicht gelöst, sondern eher noch verschärft, wiel die handlungstheoretische Basis der Etl mit einer Soziologie inkompatibel ist, die handlungsmächtige Individuen bzw. Akteure nicht kennt. (Rusch, 228f.)

34. Siegfried J. Schmidt legt 1980/82 seinen Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft vor. Das Projekt der Empirischen Theorie der Literatur ist innerhalb der interdisziplinären Arbeitsgruppe NIKOL entstanden, zu der Mathematiker, Wissenschaftstheoretiker und Linguisten gehören. Diese Grenzüberschreitung prägt das erkenntnistheoretische Programm, aus dem u.a. das Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft (kurz: SPIEL) hervorgegangen ist. Wichtige Grundlagen sind die analytische Wissenschaftstheorie Joseph P. Sneeds und der Konstruktivismus Humberto Maturanas sowie Übernahmen aus der linguistischen Sprechakttheorie. Die ETL versucht auf diese Weise, ein nicht-hermeneutisches Paradigma anzubieten. (Zens, 194)

35. Die ETL versteht sich als eine Theorie der literarischen Kommunikationshandlungen. Ausgangspunkt ist die „empirische Hypothese, dass es in unserer Gesellschaft ein Handlungssystem gibt, das traditionellerweise als ‘Kunst’ bezeichnet wird und das theoretisch als ein System Ästhetischer Handlungen konstruiert werden kann [...]. Innerhalb dieses Systems Ästhetischer Handlungen lässt sich ein Teilbereich ausgliedern, der selbst wieder Systemcharakter besitzt und traditionellerweise als ‘Literatur’ bezeichnet wird. Dieser Bereich wird [...] konstruiert als ein System von Handlungen, die auf solche sprachliche Objekte abzielen, die von den Handelnden gemäß der von ihnen vertretenen Normen für ‘literarisch’ gehalten werden.“ (Hintzenberg u.a. 1980, 13)

Die Theoriekonstruktion erfolgt in verschiedenen Schritten. Zunächst werden ‘Voraussetzungstheorien’ entworfen, auf deren Grundlage die spezifische Theorie des Literatursystems gebildet wird. (Zens, 194f.)

36. Als Grundlegung formuliert Schmidt eine allgemeine ‘Theorie der Handlung’ (TH). Voraussetzung für den Sachverhalt ‘Handlung’ ist jemand, der bereit und in der Lage ist zu ‘handeln’. Schmidt nennt diese Instanz Aktant. Aktanten können individuell, kollektiv oder institutionell sein. Auch kollektive oder institutionelle Aktanten bestehen letztlich aus individuellen, die im Gefüge einer Gruppe oder Institution handeln. „Aktanten müssen immer gesehen werden als historisch lokalisierbare Instanzen, die einen ‘Sozialisationsprozess’ durchlaufen haben und in einer bestimmten Situation mit bestimmten Absichten ‘handeln’.“ (Schmidt 1991, 39)

Handlungen werden von einem oder mehreren Aktanten in einer Handlungssituation ausgeführt. Diese Handlungssituation wird durch die ‘kopräsenten’ (auch anwesenden) Objekte, die ‘kopräsenten’ Aktanten und gleichzeitig ablaufenden Handlungen bestimmt. Handlungen können beabsichtigte (‘Resultate’) und unbeabsichtigte (‘Konsequenzen’) Folgen haben. Die Definition von Handlung (H) lautet: „H ist eine Handlung von Aktant A genau dann, wenn H eine Veränderung oder Aufrechterhaltung eines Zustands ist, die von A in einer Situation im Rahmen seines Voraussetzungssystems gemäß einer Strategie intentional realisiert wird“. (Ebd.. 51) (Zens, 195f.)

37. Die ‘Theorie der Handlung’ wird zu einer ‘Theorie der kommunikativen Handlung’ (TKH) spezifiziert. In ihr wird der Aktanz zum ‘Kommunikationsteilnehmers’. Es interagieren zumindest zwei Aktanten. Eine kommunikative Handlung ist notwendig dialogisch.

Kommunikationsmittel sind zunächst nur physische Wahrnehmungsangebote. Als Kommunikatbasis sind sie das materiale Substrat, dem die Kommunikationsteilnehmer in unterschiedlichen kognitiven Operationen ‘Bedeutungen’ zuordnen, die auf vorgängige, gespeicherte Bedeutungsstrukturen Bezug nehmen. Sprachliche kommunikative Handlungen sind ein (medien-)spezifizierter Teilbereich kommunikativen Handelns. Kommunikationsmittel sind hier natürliche Sprachen; die sprachlichen Kommunikatbasen sind, was umgangssprachlich Texte genannt wird. Kommunikate sind Texte in ihrer kommunikativen Funktion. (Zens, 196)

38. Das dem Literatursystem übergeordnete System Kunst wird mit Hilfe der ‘Theorie ästhetisch kommunikativen Handelns’ (TÄKH) beschrieben. Diese geht von einem System Kunst aus, das durch spezifische Handlungen organisiert wird. Die Annahme eines Kunstsystems erfordert Kriterien zur Außen-Innen-Differenzierung und internen Strukturierung. Als typische handlungsorientierende Regeln führt Schmidt zwei Konventionen ein. Konventionen sind soziale Regularitäten, die aus der Notwendigkeit entstehen, im sozialen Leben Koordinations- und Kooperationsprobleme lösen zu müssen. Konventionen ermöglichen den handelnden Individuen, gemeinsames Wissen oder auch gemeinsame Intentionen anzunehmen und auf dieser Grundlage zu agieren. Konventionen werden nicht notwendig als solche bewusst; soziales Leben basiert jedoch darauf, dass sie absichtlich oder habituell befolgt werden.

Die Abgrenzung des Systems ästhetischer Kommunikationshandlungen erfolgt bei Schmidt über die Ästhetik-Konvention und die Polyvalenz-Konvention. Die Ästhetik-Konvention wird zunächst negativ definiert: in allen Kommunikationssystemen außer dem Kunstsystem gilt, dass ein Bezug zur Wirklichkeit oder zur Vorstellung von Wirklichkeit herstellbar sein muss. Es wird erwartet, dass Aussagen ‘wahr’ sind oder zumindest ‘referenzfähig’. Der praktische Nutzen von Aussagen wird an dieser Referentialität festgemacht. Ästhetische Kommunikation hingegen findet unter der Konvention der gesellschaftlichen Zweckfreiheit statt. Positiv bedeutet das, dass die Kommunikationsteilnehmer nach Regeln agieren, die sie ‘für ästhetische halten’. Konsequenzen dieser Ä-Konvention sind die Erhöhung der Unsicherheit und Unbestimmtheit von Handlungserwartungen, aber auch die Erweiterung von Handlungsspielräumen, die in dem Maße zu einer gesteigerten Erklärungsbedürftigkeit von Kunstwerken führt wie die von der Konvention tolerierten ästhetischen Normen an Allgemeinverständlichkeit verlieren.

Auch die Polyvalenz-Konvention wird zunächst negativ bestimmt. Für Kunst gilt gerade nicht, dass Kommunikatbasen eindeutige (monovalente) Kommunikate zuzuordnen sind. Auch die P-Konvention vergrößert die Freiheit ästhetischer Handlungen, Toleranz und Überraschung(serwartung). Texte können polyvalent produziert, rezipiert und verarbeitet werden. Verschiedene Rezipienten ordnen dem Text unterschiedliche Bedeutungen zu. (Zens, 196ff.)

39. Schmidt unterscheidet drei Grundfunktionen ästhetischer Kommunikation: eine kognitiv-reflexive, eine moralisch-soziale und eine hedonistisch-emotionale. Der Leser erfährt in der Rezeptionshandlung die Konfrontation eines Modells möglicher Wirklichkeit (des Kommunikats) mit einem Modell wirklicher Wirklichkeit (seiner Erfahrungswelt). In ihrer Differenz liegt ein kognitives Potential literarischen kommunikativen Handelns, insofern die Reflexion über Wirklichkeit und Wirklichkeitswahrnehmung zum Ausgangspunkt von Handlungen wird. Neben der Erkenntnis von Fiktionalität aktualisiert die Rezeption soziale Normvorstellungen, die Handeln in der Erfahrungswelt leiten können. Nicht weniger wichtig ist die Unterhaltungsfunktion. Die genannten Funktionen bezeichnen Leistungen für das Individuum, sie machen keine Aussage über die Funktion des Systems Kunst für die Gesamtgesellschaft. Diese gesamtgesellschaftliche Funktion ist vielmehr durch die differenzierenden Konventionen markiert: die jeweils gültigen ästhetischen Normen, die Zweckfreiheit und polyvalente Ausdeutbarkeit. (Zens, 198)

40. Der eigentliche Kernbereich des Konzepts ist die ‘Theorie des literarisch kommunikativen Handelns’ (TLKH), die Literatur als den ausdifferenzierten Teilbereich von Kunst beschreibt, der durch die Verwendung sprachlicher Medien gekennzeichnet ist. Zu unterscheiden sind vier Handlungsrollen und ihre Relationen. Es sind dies die Rollen Produzent, Vermittler, Rezipient und Verarbeiter literarischer Texte. Alle Handlungen finden unter der Voraussetzung literarischer Massenkommunikation statt, d.h. unter der Voraussetzung einer medialen Kommunikation, die die unvermittelte literarische Individualkommunikation weitgehend verdrängt hat. Mittels vier an diesen Handlungsrollen orientierten spezifischen Teiltheorien soll der Gegenstandsbereich umfassend erschlossen werden. Damit nimmt Schmidt u.a. Anregungen der Rezeptionsästhetik auf, die den Primat der Produktion in Frage gestellt hatte, ohne jedoch wie diese mit einem Primat der Rezeption zu antworten. (Zens, 198f.)

41. Die Übernahmen aus der Kognitionstheorie Maturanas, den Arbeiten des Entwicklungs- und Sprachpsychologen Ernst von Glasersfeld sowie des ‘frühen’ Kybernetikers Heinz von Foerster formieren sich zum erkenntnistheoretischen Programm des Radikalen Konstruktivismus, welches auch die Siegener Arbeiten zur Literaturwissenschaft seit Mitte der 1980er Jahre zunehmend grundiert. Ist alle Wahrnehmung konstruierend, so hebe dies letztlich auch die Scheidung von fiktionaler Kunst und realer Wirklichkeit auf. Kunst unterscheidet sich dann nur noch in ihren Verfahren, nicht in ihrer Konstruktivität von anderen Welt-Beschreibungsmöglichkeiten. (>Kritik) Etwas ins Dunkel gerät bei diesen Ausführungen allerdings, dass die Konstruktion einer Realität sich in ihren handlungslogischen Konsequenzen wesentlich von der Konstruktion einer Fiktion unterscheidet. (Zens, 199)

42. Traditionelle Werkinterpretationen sieht Schmidt nicht als Aufgabe der Literaturwissenschaft, sondern vielmehr als Gegenstand, der selbst analysiert werden muss. Die Textbetrachtung, die sich auf die Suche nach der ‘objektiven’ und ‘richtigen’ Bedeutung macht, kann aus konstruktivistischer Sicht keine wissenschaftliche Aufgabe sein. Mit der Aufgabe eines ontologischen Werkbegriffs und einer darauf gestützten Interpretationspraxis formuliert Schmidt also noch einmal einen ebenso zentralen wie konsensuellen Gedanken des scientific turn. In der ETL ist die Unterscheidung von Text und Kommunikat eine Voraussetzung, um bedeutungskonstruierende Prozesse statt bedeutungsfixierter Werke zum Thema zu machen. (Zens, 199)

43. Schmidt orientiert sich letztlich an einem ‘Naturwissenschaftlichen Paradigma’, dem des biologischen und psychologischen Kognitivismus. Für den Konstruktivismus existieren die Instanzen Autor und Text nicht als erfahrbare Gegenstände, sondern allein als Zuschreibungsordnungen des jeweiligen Lesers. Die Erkenntnisleistung des Lesers bestimmt Schmidt daher auch nicht als die Erschließung einer wie auch immer gearteten objektiven Wirklichkeit, sondern als einen selbständigen Akt des Erlebens und Erfahrens, der Realität erst erfindet. „Rezipienten erzeugen Lesarten [...] ohne Original“ (Schmidt 1988, 151), formuliert Schmidt in Übereinstimmung mit poststrukturalistichen Ansätzen. Der literarische Text erscheint als ein bloßer Reiz , der vom Leser aufgenommen und interpretativ verarbeitet wird. Für den Konstruktivismus verkörpert der empirische Leser daher die einzige Instanz, die überhaupt noch den Ausgangspunkt für wissenschaftliche Aussagen zulassen kann, Aussagen allerdings, die sich nicht auf die Struktur und Geschichte literarischer Texte richten, sondern nur noch auf die Beobachtung des Beobachters Leser. (Geisenhanslüke, 63)

44. Übergang zur modernen Medienwissenschaft: Neue Medien übernehmen die Funktion der Wirklichkeitserzeugung, die in traditionellen Erklärungsmodellen den Subjekten vorbehalten war.

(>Kritik) Der Ansatz krankt an der Verkürzung literaturwissenschaftlicher Fragen auf biologisch und psychologisch begründete Kognitionszusammenhänge. (Geisenhanslüke, 63)


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