5 Dekonstruktion 1 und 2

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5.05 Literaturtheoretische Grundannahmen

1. Auch die Interpretation von Texten, die nach Einheit und Zusammenhang sucht, richtet ihrer Perspektive – nach Auffassung der Dekonstruktion – letztlich auf metaphysische Bezugspunkte. (Baasner, 120)

2. Kein Textverständnis könne sich den – mit den Aspekten des Spiels, der Vieldeutigkeit, der Übertretung von Grenzen, der Verschiebung von Bedeutungen verbundenen – Unsicherheitseffekten entziehen, also sei das Beharren auf einer eindeutigen, sicheren Auslegung unhaltbar. (Baasner, 121)

3. Die neostrukturalistische Absicht, sich mit Bereichen außerhalb der wissenschaftlichen Vernunft (meist bezeichnet als ‘das Andere’ schlechthin) zu beschäftigen, bevorzugt eine Verbindung zu literarischen Texten. Dort wo auch andere Theorieansätze Polysemie unterstellen, hat die Dekonstruktion den geringsten Widerstand zu befürchten. (Baasner, 121)

4. Alle Texte verweisen immer schon auf andere Texte – indem ihre Signifikanten deren Signifikanten bezeichnen und keineswegs ein festlegbares, außer ihnen gesichertes (präsentes) Signifikat –, es zieht sich in dieser Art von wechselseitiger Beziehung der Zeichen eine Spur (trace) durch die Sprache. Eigentlich ist es eine beliebige Vielfalt von Spuren, die die Vielfalt der unkontrollierbaren Beziehungen im Spiel darstellt. Die wechselseitigen Verweise lassen keinen festen Bezugspunkt zu – es sei denn, er würde gewaltsam ‘logozentrisch’ gesetzt, und ein solches Verfahren soll ja ausgeschlossen bleiben. Nichts kann unverrückbar präsent sein, alles unterliegt dem Spiel der Bedeutungsverschiebung.

Diejenigen, die Lektüren durchführen, sind den Texten ohne feste Leitlinien aufgeliefert. (Baasner, 123f.)

5. Das Derridasche Konzept der Dekonstruktion hat eine Reihe von Auswirkungen auf die Begriffe der Literaturwissenschaft. So problematisiert es jegliche Ordnung, die zwar nicht aufgehoben, aber stets als beweglich aufgefasst werden muss. Feste Einteilungen in Kategorien der Literaturgeschichte, Gattungsmuster usw. sind dann nicht mehr angemessen, da sie jeweils ihren metaphysischen Referenzpunkt einschließen. Texte sind kaum nach literarisch und nichtliterarisch zu unterscheiden, da die ‘Spur’ keine Unterschiede kennen kann; der zugrundeliegende Literaturbegriff wird somit auf alles Geschriebene ausgeweitet. (Baasner, 125)

6. Ausgehend von Derridas frühen Positionen richtet sich die amerikanische Dekonstruktion weniger auf Sprach- und Zeichentheorie im allgemeinen, sondern diskutiert mehr herausragende Beispiele ‘schöner Literatur’. (Baasner, 125)

7. Die (amerikanische) Dekonstruktion formiert sich als Richtung der Lektüre an den Erkenntnissen über Literatur, die innerhalb der Literatur selbst implizit oder explizit thematisiert werden. Die literarische Praxis versuchsweise nachzuvollziehen und diesen Vorgang selbst zugleich zu reflektieren, gehört zum dekonstruktiven Verfahren: sozusagen das aufmerksame Lesen unter Selbstbeobachtung. Aus der einzelnen, konkreten Lektüreerfahrung erwachsend, lehnt die Dekonstruktion ab, ihre Prinzipien und Einsichten systematisch darzustellen. Jede Festschreibung wäre selbst schon ein Akt der Konstruktion, welcher die kritische Absicht des Verfahrens zunichte mache. Deshalb ist auch die Forderung, endlich einmal deutlich zu sagen, worum es denn genau gehe, eigentlich nicht erfüllbar: was charakterisiert werden kann, ist nur das Verfahren. Ein Anspruch auf standardisierte Wissenschaftlichkeit wird ohnehin entschieden abgelehnt – natürlich auch als Prüfkriterium für die eigenen dekonstruktiven Interpretationen. Diese Umgangsweise mit den eigenen Einsichten erschwert Außenstehenden, sich hineinzufinden. (Baasner, 125f.)

8. Die zentrale Entdeckung, die de Man für sich in Anspruch nimmt, ist die Unlesbarkeit literarischer Texte. Solche Texte sind Geflechte aus rhetorischer, uneigentlicher Sprachverwendung, die sich bei genauem Lesen (close reading) einem vereinheitlichenden Verstehen und damit jeglichem befriedigenden Verständnis in der geläufigen Bedeutung des Wortes entziehen. Was ein Verfasser einmal ausdrücken wollte, ist im Text nicht mehr nachzuvollziehen. Wenn aber doch eine einheitliche Lesart zustande zu kommen scheint, dann durch Zuweisung von Sinn, der nicht aus dem Text, sondern aus der Tradition oder Erfahrung herrührt. „Da der Text unlesbar ist, spricht man sich darüber ab, wie er doch zu lesen sei. Auf diese Weise kann man eine Verständigung erzielen, aber nur wenn man die Unlesbarkeit des Textes verschleiert.“ (Martyn 1993, 17) Dieser Vorgang, der jedem traditionellen Verstehen unterstellt wird, sorgt durch die Herstellung von Einheitlichkeit der Sprache im Grunde für Entliterarisierung der Texte und ordnet sie damit einem außerliterarischen Sinnverstehen unter. (Baasner, 126)

9. Die Aufmerksamkeit für die Sprachlichkeit oder Textualität unseres Wissens stellt ‘als solche’ die Stabilität jeder Bedeutung und jedes Wissens ‘von etwas’ infrage. Denn indem sie der Konstitution der Bedeutungen nachgeht, entdeckt sie zugleich, dass diese Produktivität die Bedeutung selbst irritiert: Die Arbeit des Textes, „die offene und produktive Fortbewegung der Textkette“ insistiert gegen ihre Fixierung auf und in Aussagen (die aber stets geschieht). Sie kann der Vermutung nicht mehr unterstellt werden, dass sie in der produzierten Bedeutung aufgehe. Diese Aufmerksamkeit hält gegen philosophische oder hermeneutische Lektüre-Modelle an der Medialität der Texte, d.i. der Schriftlichkeit fest. Denn diese geht in keiner Mitteilung restlos auf.

Im Text bleiben Reste, „notwendigerweise“ sagt Derrida, von denen ‘normalerweise’, insofern der Text über ‘etwas’ spricht und ‘etwas’ meint, unterstellt wird, dass sie im Inhalt, der gemeint ist, aufgehen. Kein Inhalt kann aber den Vorgang, in dem er geäußert wird und in dem die Bedeutung erst produziert wird, restlos tilgen. Die Texte sind gegenüber der Intention ihrer Äußerung, wie gegenüber allen möglichen in ihnen gelesenen Aussagen „heterogen“. Schriftrest heißt, was (jeweils) im Ausgesagten nicht aufgegangen ist, was, in jeder Lektüre, als ungelesener Rest übrig-bleibt; er widerspricht der Illusion von Sprache und sprachlicher Konstruktion als transparentem Medium für Wahrheiten, Bedeutungen, Mitteilungen; er bleibt und interveniert, wenn die Bedeutung des Textes schon gelesen worden sein soll. Es gibt somit stets ein „Übergewicht an Schrift“, die das, was gesagt worden sein soll, verstellt. (Menke 2, 118f.)

10. Schrift ist der Name für den Text, der nicht von einem Autor kontrolliert wird und nicht einem Sinn untersteht. Diese Akzentuierung unterstreicht und relativiert die Bedeutung der Schrift; denn es geht gerade nicht um die Privilegierung von Schrift vor mündlicher Rede, also nicht bloß um die Umkehrung der traditionellen Hierarchie von Stimme über Schrift. (Menke 2, 120)

11. Dekonstruktion ist ein Lesen, das die (selbst-)dekonstruktiven Züge der Texte aufweist; so etwa, dass der Begriff des Zeichens jene Bewegung schon enthalte, die diesen und seine „metaphysische Zugehörigkeit“ selbst umgestürzt haben wird. Das ‘de-kon-struierende’ Lesen weist die Unentscheidbarkeit von Zugehörigkeit und Ablösung auf und ist der Ort, an dem sie ausgetragen und ‘inszeniert’ wird; es hat an ihr daher selbst endlos teil: Es gibt keinen entscheidenden Bruch und endgültigen Einschnitt. (Menke, 251)

12. Der „Logik der Supplementarität“ folgend ist das ‘Lesen’ nicht Wiederherstellung oder Wiedergewinnung einer vorausliegenden Ursprungs-Schrift oder eines ursprünglichen Sinns. Das Trugbild einer Lektüre ist jene Interpretation, die im Rückgang auf ein Erstes, Reines, Ursprüngliches (des Sinns), das sie nie erreicht, sich selbst auszulöschen sucht. Wenn das gesuchte Erste aber nie ein Ganzes, Vorausliegendes und Mit-Sich-Identisches war, dann wird es eine Rückkehr an den Ursprung des Textes nicht geben. Interpretation wird auf Interpretation folgen, und jede ist wiederum erneute Hinzufügung von ‘Schrift’, statt der Erreichung eines eigentlichen ‘Sinns’. (Menke, 253)

13. Die Lektüren Derridas führen (philosophische) Texte als „heterogene Texte“ vor: Der Text selbst enthält „notwendigerweise“ Reste, die er im ‘Inhalt’ restlos aufgehen lassen wollte, die sich aber als „Schriftreste“ gegenüber jedem Inhalt behaupten. Mit diesen Rissen im Innern ist markiert, dass der Text nicht abgeschlossen ist. Kein (philosophischer) Inhalt kann seinen ‘Schreibvorgang’ restlos tilgen. Die Heterogenität ihrer sprachlichen Verfasstheit gegenüber dem, was sie mitzuteilen haben, ist von den ‘philosophischen Gehalten’ unablösbar. Das gilt auch für ‘literarische’ Texte. (Menke, 253f.)

14. Die Frage nach dem Verhältnis von Dekonstruktion und Literatur/-wissenschaft wurde unter dem Gesichtspunkt der „Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur“ (Habermas) zum philosophischen Verdikt über die Texte Derridas. Das dekonstruktive Lesen ist jedoch kein quasi-literaturkritisches von Texten, die als philosophische anderen als literarischen Regeln gehorchten, sondern es weist in den Texten das auf, was diese wegschreiben; es zeigt, wo und inwiefern sie etwas ausplaudern (können und müssen), was sie nicht sagen wollen: Jeder Text gibt etwas zu lesen, was nicht im Inhalt quasi-’semantisch’ aufgeht und einlösbar wäre. Derridas Lektüren sind zuallererst philosophische, wenngleich gegen die gängige Lektüre philosophischer Texte gerichtet; aber deren Implikationen holen auch die sog. ‘literarischen’ Texte ein. (Menke, 256f.)

15. Das Angebot der dekonstruktiven Strategien Derridas für die Literaturkritik besteht, einem Hinweis de Mans zufolge, vielleicht vor allem in der sich ausarbeitenden ‘Aufmerksamkeit’ für den Text. Da diese an der ‘Schriftlichkeit’ der Texte hängt, kann die dekonstruktive Lektüre literarischer Texte nicht als Derivat und Anwendung einer Theorie Derridas verstanden werden, wenn diese auch mit jener (kompliziert) zusammenhängt. (Menke, 257)

16. B. Johnsons Programm der Lektüre literarischer Texte verdeutlicht, inwiefern sie ‘dekonstruktiv’ genannt werden kann: „Den Ausgangspunkt bildet oft eine binäre Differenz, die sich im folgenden als Illusion erweist, die von viel schwieriger festzustellenden Differenzen erzeugt wird. Es zeigt sich, dass Differenzen zwischen Entitäten (Prosa und Poesie, Mann und Frau, Literatur und Theorie, Schuld und Unschuld) auf Verdrängung und Differenzen innerhalb der Entitäten ruhen, darauf also, wie eine Entität von sich selbst differiert. Die Weise aber, wie ein Text derart von sich selbst differiert, ist niemals einfach: sie hat eine gewisse rigorose, kontradiktorische Logik, deren Wirkungen bis zu einem gewissen Grad gelesen werden können. Die ‘Dekonstruktion’ einer binären Opposition [...] ist [...] der Versuch, den subtilen, mächtigen Effekten von Differenzen nachzugehen, die in der Illusion einer binären Opposition bereits am Werk sind.“ (Johnson 1980, Xf.)

Die Opposition Innerlich-Äußerlich, die die Identität vor der Differenz denkt und sichert, strukturiert auch die traditionellen ‘metaphorischen’ Modelle von Literatur (des Innern und des Äußerlichen der Texte) und ihrer Lektüre, die einer institutionellen Absicherung bedürfen und die Grenzen der Disziplin umgekehrt sichern. Zu den ‘binären Oppositionen’, die im Text figural entworfen und abgebaut werden, gehört nicht zuletzt und nicht nur unter anderem die von männlich/weiblich; der Art und Weise, wie die Texte mit dieser de-kon-struktiv umgehen, widmet sich die ‘de-kon-struktive’ Literarturkritik (u.a.) von Frauen wie Johnson, Felman, Spivak. (Menke, 257f.)

17. De Man zufolge expliziert Dekonstruktion die dissoziative Selbstbeziehung der Texte: Sie ist der Bezug einer „Sprache über die Sprache“ auf sich selbst, und das ist nichts anderes als Rhetorik. Rhetorik ist in ihrer rigorosen Entfaltung durch de Man der Name für die Unzuverlässigkeit der Sprache hinsichtlich eines Interesses an der Übermittlung von Erkenntnis; sie wird der Name für die Dissoziation innerhalb der Sprache zwischen der „‘Semantik’ und der nicht-signifizierenden, materialen’ Dimension der Sprache.“ Literarisches, das heißt rhetorisches Lesen – zeigt de Man – ist ein destabilisierender Prozess. Es geht um zwei Dimensionen der Sprache, die als einander widerstreitende die (Möglichkeit der) Schließung der Sprache als Kode dementieren.

Die Dimension des Rhetorischen macht die Sprache „in erkenntnistheoretischer Hinsicht äußerst fragwürdig und unbeständig“. Dieser Unzuverlässigkeit in Hinsicht des Interesses an der Sicherung der Identität der Mitteilung und damit an der Kontrollierbarkeit ihres sprachlichen Ausdrucks gelten die Lektüren de Mans. Die ‘tropologische’ Dimension der Sprache führt jede Lektüre in Unentscheidbarkeiten der Bedeutungsbildung, die die Lesbarkeit als solche irritieren.

Wäre der rhetorische Modus entscheidbar, wäre zwischen wörtlich (literal) und figurativ zu entscheiden, dann könnten für die figurativ ebenso wie für die wörtlich bedeutenden ‘Stellen’ semantische Übersetzungen angegeben werden. De Mans Lektüren aber zeigen, dass der Modus der Bedeutungsbildung nicht entscheidbar ist: Es gibt keine Möglichkeit, die Grenze zwischen einer eigentlich gemeinten Frage und einer Frage, die rhetorisch ist und etwas anderes meint, zu ziehen und zu sichern. Ein und dieselbe grammatische Struktur ermöglicht zwei Modi des Lesens.

Es geht nicht darum, dass alles auch figurativ gelesen werden kann, sondern um den gegenseitigen Einspruch von wörtlichem und figurativem Lesen. Gemeint ist auch nicht (bloß), dass etwas nach verschiedenen Leseweisen dies und auch noch jenes bedeuten kann, also nicht einfach Polysemie, die hermeneutisch zu integrieren wäre, sondern eine Unentscheibarkeit von Leseweisen, die sich widersprechen und aufeinander angewiesen sind. „Unentscheidbarkeit“ heißt: dass wir entscheiden müssen über Bedeutungsmodi, dass wir es aber, indem wir entscheiden, zugleich nicht können, weil die Lektüre, wo sie entscheidet, stets in Anspruch nehmen muss, was sie ausschließt. (Menke 2, 126)

18. Auch der dekonstruktiven Einsicht in die Unzuverlässigkeit des Rückschlusses von figurativer Bedeutungsproduktion auf Referentialität bleibt nichts anderes übrig, als erneut referentialisierend etwas festzustellen: über die Sprache zu sprechen; auch sie muss also – als theoretische Einsicht – der Täuschung wieder verfallen, deren Einsicht sie ist. Jedes Lesen schließt ein, dass es unmöglich ist, bei einer Lektüre stehen zu bleiben; denn jede Lektüre wird zum einen schon von einer anderen konstituiert und für unwahr erklärt, zum anderen aber ist auch ihre ‘Falschheit’ keine beruhigende (negative) Wahrheit, die das Lesen festhalten könnte. (Menke 2, 130)

19. ‘Dekonstruktiv’ ist nach de Man eine Lektüre, die sich der Teleologie des kontrollierten/kontrollierenden Sinns nicht mehr unterwirft, sondern im Text die Widerstände gegen diesen wahrnimmt. Ihre Inhomogenität macht Literatur als „Sprache über Sprache“ zum „Ort“, „an dem sich das negative Wissen von der Verlässlichkeit sprachlicher Äußerung“ zeigt. (de Man 1987, 91) Für solche Lektüren spielt der Begriff der ‘rhetorischen’ (Dimension der) Sprache eine Rolle. Sie tritt nicht nur auf als ein Aufschub des Dekodierens, sondern sie führt jede Lektüre in irritierende Unentscheidbarkeiten.

Die Ambiguität ist nicht (bloß) Merkmal semantischen Reichtums, sondern das einer prinzipiellen Irritation von semantischem Lesen. Wer die Verwirrungen scheiden wollte und die Entscheidbarkeit der Lesarten unterstellte, muss auf eine Instanz der Macht setzen. Die hermeneutische Unterstellung eines (und sei es zeitweiligen) ‘einen’ Sinns, seiner Lesbarkeit ist nicht unschuldig.

Jede ‘thematische Aussage’ kann, so zeigen die Texte in der Lektüre de Mans, von ihren eigenen Ausdrucksmitteln unterminiert werden – und gegen diese Möglichkeit gibt es keine Absicherung. Alle Textpassagen haben ‘als Ausdrucksmittel’ einen ‘metalinguistischen’ oder metapoetischen Status, so dass sie als solche der (semantischen) Bindung von Thematisiertem und ‘Ausdrucksmittel’ widersprechen können. Die Lektüre muss sich den Irritationen einer Dekonstruktion aussetzen, die der Texte bereits selbst, an sich selbst, seinen metatextuellen Vorgaben und Behauptungen durchgeführt hat. Lesen, das die unentscheidbare Gleichzeitigkeit der „grammatischen“ und der „rhetorischen“, der rhetorischen und der referentiellen, der kognitiven und der performativen „Dimensionen“ der Texte als beständige Irritation ihrer Lesbarkeit realisiert, ist ein „negativer Prozess“, der verdeutlicht und vorführt, „wieso man von allen Texten, als Texten, stets sagen kann, dass sie Niederlagen sind, Fehlschläge“. (De Man 1979, 100-102) (Menke, 258ff.)

20. Der „negative Prozess“ des Lesens re-inszeniert das Verhältnis von ‘Blindness’ und ‘Insight’ der Texte, der Konstitution und  des Abbaus (d.i. die Dekonstruktion) von Sinn. Das Modell einer rhetorischen Figur und ihrer Defiguration kann durch keine endgültige Lektüre abgeschlossen werden. „Was auf dem Spiel steht, ist die Möglichkeit, die Widersprüche der Lektüre in eine Erzählung einzuschließen, die fähig wäre, sie zu ertragen. Solch eine Erzählung hätte die universelle Bedeutung einer Allegorie des Lesens“. (De Man 1988, 105f.)

Jede theoretische Formulierung des Lesens bleibt paradoxal; und die Figur dieser Paradoxalität ist die Allegorie. Ein ‘negativer’ Prozess, dem das Lesen sich in den Texten aussetzt, kann nicht als ‘positives’ Wissen und nicht in einer Meta-Sprache formuliert werden; oder könnte dies allenfalls um den Preis, das Lesen und seine produktiven Irritationen zu vergessen. (Menke, 260f.)

21. Die Arbeiten Paul de Mans stellen eine Ausprägung dekonstruktiver Sprachtheorie auf dem Feld der Literatur und Ästhetik dar. Ausgangspunkt ist die differentielle Dynamik von Sprache, die eine Totalisierung des Textes auf einen kohärenten Sinn unterläuft und die Möglichkeit interpretatorisch-hermeneutischen Verstehens in Frage stellt. Der Fokus seiner Lektüre liegt daher auf der „Rhetorizität“ und „Literarizität“ als dem strukturellen Moment, aufgrund dessen Texte „von sich selbst differieren“.

Traditionell bezeichnet Rhetorik die Ersetzung einer buchstäblichen durch eine figurale Bedeutung und impliziert damit eine Sprachtheorie, die auf der grundsätzlichen Unterscheidbarkeit von eigentlicher und übertragener Rede basiert. De Man dagegen bezeichnet mit der „Rhetorizität“ aller sprachlichen Äußerungen die Auffassung, dass die strikte Trennung von wörtlicher und figuraler Rede, von Bedeutung und Behauptung nicht gegeben ist, sondern jegliches Sprechen durch Tropen und Figuren als basaler „textproduzierender Funktion“ rhetorisch affiziert ist. Rhetorik und „Rhetorizität“ avancieren daher zum linguistischen und sprachphilosophischen Paradigma schlechthin und bezeichnen die tropologische Dimension jeglichen Sprechens, dessen Figuralität von der referentiellen Bedeutung nicht zu trennen ist. Wo der Text nicht von dem „handelt“, was er „sagt“, gelangt auch die Interpretation an den Punkt der Unentscheidbarkeit oder „Unlesbarkeit“. De Mans Lektürestil sucht systematisch diese Unentscheidbarkeitsstellen auf. (Pross, 425f.)

22. Ein Eintreten zweier gleichberechtigter Lektüren, die einander bezüglich ihrer Aussagen ausschließen und von denen gleichwohl keine als falsch oder als untergeordnet ausgewiesen werden kann, weil sie die Doppelstruktur von Sprache als performativer und konstativer Reede markieren, bezeichnet de Man als die „Rhetorizität“ oder „Unlesbarkeit“ eines Textes.

Im Zentrum von de Mans Theorie der Rhetorizität steht dabei die Dekonstruktion von Tropen wie der Metapher, denen Konzepte von Identität, „Wahrheit“ der Bedeutung und unproblematischer Referenz unterliegen; zum anderen gilt sein Interesse der Revalorisierung von Tropen, denen das strukturelle Moment der Nicht-Koinzidenz und Differenz eignet: der Allegorie, der Ironie, der Metonymie. Damit dementiert „Rhetorizität“ jedoch keineswegs den Anspruch auf das Verstehen von Texten. Sie macht die Problematisierung des Verstehensprozesses selbst zum Thema, insofern sie die grundlegende Bewegung bezeichnet, in der die Unentscheidbarkeitsstellen eines Textes den Zugang zu einer kohärenten Bedeutung verstellen; gleichwohl wird diese Textstruktur erst sichtbar in einer doppelten, ambivalenten Bewegung des „Lesens“. De Mans Theorie des „Lesens“ entfaltet sich damit als Kritik auch an einer Texttheorie, die den Text lediglich als Verweisungsspiel der Signifikanten beschreibt. Die differentielle Dynamik des Rhetorischen leitet sich vielmehr aus der Doppelung von referentiellem Lesen, das um Bedeutung bemüht ist, und der Figuralität der Behauptung ab, die die Bedeutung als Effekt einer figurativen Setzung kenntlich macht und auf diese Weise wiederum „defiguriert“. Erst so wird plausibel, dass Rhetorik bei de Man zu einer erkenntnistheoretischen und „epistemologischen Disziplin“ avanciert. (Pross, 428f.)

23. De Man. Er hat einen selbständigen Theorieentwurf vorgelegt, der im Rahmen einer Theorie der Literatur zudem den Vorteil aufweist, in weitaus größerem Maße als der Ansatz Derridas auf die Literatur bezogen zu sein. Unterschiedliche Lektüre Rousseaus: Während Derrida eine philosophische Dekonstruktion Rousseaus vorgelegt hat, behauptet de Man, der literarische Text Rousseaus bedürfe der Dekonstruktion überhaupt nicht, weil die Literatur ihre eigene Dekonstruktion immer schon selbst vollziehe.  (Geisenhanslüke, 106)

24. De Man zufolge ist Literatur nichts anderes als Rhetorik und die Literaturwissenschaft der Nachvollzug der rhetorischen Fallstricke eines Textes. Anders als den französischen Theoretikern geht es de Man weniger um eine Dekonstruktion der abendländischen Geschichte der Metaphysik als vielmehr um den Einblick in die rhetorische Verfasstheit literarischer Texte.

Für de Man ist es nicht mehr die philosophische Ästhetik, die für Fragen literarischer Texte zuständig ist, sondern die Rhetorik. Das Verdrängen der Rhetorik aus den Poetiken des 18. und 19. Jahrhunderts versucht de Man rückgängig zu machen, indem er Literatur und Rhetorik gleichsetzt. (Geisenhanslüke, 106f.)

25. Im Verhältnis von Rhetorik, Logik und Grammatik erblickt de Man kein kohärentes System, sondern eine Sammlung von ungelösten Spannungen. Die subversive Funktion des Rhetorischen nimmt de Man zum Anlass einer theoretischen Grundlagenreflexion, die Grammatik und Logik zugunsten einer Theorie der Literatur verabschiedet, die sich selbst als Widerstand gegen die Theorie versteht.

Was für einen Begriff des Rhetorischen legt de Man dabei zugrunde? Die Rhetorizität der Sprache leitet de Man nicht etwa aus einer Theorie der figürlichen Bedeutung ab, sondern aus dem widerspruchsvollen Verhältnis von rhetorisch-figürlicher und grammatisch-logischer Funktion der Sprache.

Um ein rhetorisches Modell der Sprache handelt es sich ihm zufolge erst dann, wenn nicht mehr entschieden werden kann, ob es sich um eine wörtlich-logische oder um eine figurativ-rhetorische Bedeutung handelt. „Wenn man miteinander unverträgliche und dennoch ineinander

verschlungene Bedeutungen von einem grammatisch unzweideutig konstruierten Satz erzeugt werden, dann suspendiert jede dieser Bedeutungen die Bedeutsamkeit der anderen, und der Satz revoziert als ganzer die Referenzfähigkeit, die er in jeder einzelnen seiner Bedeutungen ungebrochen behauptet.“ (Hamacher 1988, 15f.) Die derart erzielte Unsicherheit, so de Man, erzeuge einen Schwindel der Bedeutung, der die rhetorische Funktion der Sprache als die Unmöglichkeit ausweise, eindeutige Referenzzuweisungen vorzunehmen.

Die Definition des Rhetorischen als Subversion der grammatisch-logischen Bedeutung der Sprache weitet de Man in einem letzten Schritt noch auf die Rhetorik selbst aus. Er gelangt zu der Einsicht,  es aufgrund der rhetorischen Verfasstheit der Sprache keinerlei Einsicht in den Wahrheitsgehalt einer Theorie, nicht einmal den der eigenen, geben kann. (Geisenhanslüke, 107ff.)

26. Für de Man ist die Rhetorizität der Sprache mit der Literatur identisch und diese daher der eigentliche Gegenstand seiner Theorie. Rhetorik ist Literatur. Indem de Man Rhetorik und Literatur gleichsetzt, greift er Jabobsons Theorie der Poetizität der Sprache auf und überbietet sie zugleich: Während das Poetische für Jakobson in der Überlagerung der rhetorischen Figuren Metapher und Metonymie besteht, ist die literarische Funktion der Sprache für de Man mit der rhetorischen schlechthin gleichbedeutend. (Geisenhanslüke, 109)

27. In ähnlicher Weise wie Benjamin orientiert sich de Man auch am Gegensatzpaar des Symbolischen und des Allegorischen. Den Vorrang, den das Symbol im 18. Jahrhundert vor der Allegorie gewinnt, leitet de Man aus seiner einheitsstiftenden Funktion ab. Während de Man die Erfolgsgeschichte des Symbols im 18. Jahrhundert auf die ihr zugrundeliegende Einheit von Repräsentation und Bedeutung zurückführt, definiert er die Aufgabe der intentionalen Rhetorik als den Widerruf des Einheitszusammenhangs des Symbolischen durch die allegorische Erfahrung der Differenz von Zeichen und Bedeutung.

Systematische Kritik des Symbols: Die Zusammenführung zerstreuter Partikularität zu einer Form der Einheit gelinge dem Symbolischen in dem Maße, in dem sie am Leitbild räumlicher Simultaneität einen Teil für das Ganze setze. Die Allegorie sei dagegen eine Form der Zeitlichkeit. (Geisenhanslüke, 109f.)

28. Während die symbolische Repräsentation universeller Allgemeinheit auf die ideelle Einheit von Signifikant und Signifikat ziele, beziehe sich das Allegorische allein auf die Ordnung des Signifikanten. An die Stelle der klassischen Definition des Zeichens als Verknüpfung von Signifikant und Signifikat setzt de Man mit der Allegorie die Beziehung eines Signifikanten zu einem anderen Signifikanten.

Die Zeitlichkeit der Allegorie leitet de Man aus der linearen Ordnung der Signifikantenkette ab: Als ein Zeichen, das nicht auf ein Signifikat bezogen sei, sondern auf einen anderen Signifikanten, der ihm zeitlich vorausgehe, konstituiere sich die Bedeutung der Allegorie nicht allein im Verweis auf die ihm vorausgehenden Signifikanten, sondern im Bezug auf die reine Vorgängigkeit, die die Zeichenfunktion der Signifikantenkette überhaupt erst ermögliche. Bedeutung kann sich de Man zufolge allein in der blinden Wiederholung der zeitlichen Vorgängigkeit konstituieren, die in der Allegorie zum Ausdruck kommt. (Geisenhanslüke, 111)

29. Die Ideologie des Symbolischen im 18. Jahrhundert deutet de Man als eine Verschleierung allegorischer Differenz.

Dekonstruktion, so wäre aus The Rhetoric of Temporality zu schließen, ist nichts anderes als die systematische Demystifizierung symbolischer Identität durch den Hinweis auf die allegorische Differenz, die ihr verborgen zugrunde liegt. Indem de Man gegen die historischen Ansprüche der philosophischen Ästhetik die Momente von Rhetorik und Literatur wieder zusammenführt, legt de Man den Grundstein zu einer Poetik, die den symbolischen Dichtungstheorien des 18. Jahrhunderts eine deutliche Absage erteilt. (Geisenhanslüke, 112)

30. (>Kritik) Indem der kritische Nachweis der rhetorischen Verfasstheit der Sprache im Zeichen der Allegorie absolut gesetzt wird, verliert er nicht nur jede historische Trennschärfe. Die Definition der Alegorie als blinde Wiederholung ihrer selbst schreibt auch der Theorie der Literatur die immer gleiche Aufgabe zu, in den allegorischen Abgrund der Bedeutung einzutauchen. Wiederholung der ästhetischen Vorurteile des 18. Jahrhunderts unter umgekehrten Vorzeichen. (Geisenhanslüke, 112)

31. Charakteristische Operationen der D. in der Lit.kritik sind v.a.: (a) Dezentrieren der zentral gesetzten thematisch-strukturellen Instanzen eines Textes aus der Perspektive dessen, was durch sie marginalisiert wird, sich aber dennoch als textkonstitutiv erweist.; (b) Auflösung binärer, hierarchischer Bedeutungsoppositionen im Text und deren Einbeziehung in einen enthierarchisierten Prozess von Differenzen; (c) Auflösung ungebrochener Identitäts-, Präsenz- und Subjektkonzepte in der fiktional dargestellten Welt und ihrer Charaktere; (d) Aufbrechen der scheinbaren Einheit und Geschlossenheit des Textes in die Offenheit eines intertextuellen Spannungsfelds, durch das der Einzeltext erst konstituiert wird und das seine immanenten Bedeutungen stets bereits von außen her affiziert; (e) Aufzeigen der Art und Weise, wie die im Text intendierten Signifikate durch die unhintergehbare Interferenz des sprachlichen Mediums verstellt bleiben und wie stattdessen das Spiel der Signifikanten, der Prozess der kulturellen Semiose, selbst den Textvorgang ins Innerste bestimmt; (f) Aufweisen der Tendenz der Texte, die eigene Bedeutungskonstruktion durch die Art und Weise ihrer rhetorisch-semiotischen Präsentation letztlich selbst wieder zu dekonstruieren; (g) im Zusammenhang damit Aufdecken spezifischer rhetorisch-struktureller Konfigurationen in Texten, die solche Prozesse der D. unmittelbar inszenieren, wie Rekursivität, Paradoxalität; (h) im Bereich der Textverfahren und Darstellungsmodi Aufwertung der Rhetorik gegenüber der Ästhetik, insofern letztere eine (für die D. obsolet erscheinende) Kontinuität von sinnlicher Welt und Ideenwelt voraussetzt, sowie der Allegorie gegenüber dem Symbol, da ein Zeichen nicht mehr (wie im Symbol) als Verkörperung eines Allg. im Bes., sondern nur als ein immer wieder ‘anders sagen’ im Sinn der Differentialität von Sprache gesehen wird. (Zapf, 83)

32. Für die Lit.kritik ergeben sich aus dem dekonstruktivistischen Ansatz verschiedene Konsequenzen: (a) Der Text kein in sich geschlossenes, integriertes Ganzes mehr, sondern ist ein Ort intertextueller Einflüsse und Interferenzen. (b) Der Text bildet daher auch keine kohärente Struktur, sondern ein heterogenes Kraftfeld von Spannungen und Widersprüchen, die sich zu keiner inneren Einheit zusammenfügen. (c) Der Text geht einerseits immer schon über die ihm zugeschriebenen Bedeutungen hinaus, andererseits liegt in seiner Form und Rhetorik zugleich die Tendenz begründet, den eigenen Bedeutungsanspruch schließlich wieder selbst zu dekonstruieren. (d) Die herkömmliche Trennung von Autor, Text und Leser wird damit ebenfalls unhaltbar, da weder Autor noch Leser die Kontrolle über den Prozess der Zeichenaktivität beanspruchen können, den die Schrift selbst als ständige Produktion von Differenzen trägt. (e) Für den Interpreten kann es kein adäquates Verstehen von Texten mehr geben, da sich deren Bedeutung jeder eindeutigen Festlegung entzieht. (f) Die Lit.kritik ist nicht mehr eine Metasprache, die der Lit. als Objektsprache gegenübergestellt wird; vielmehr muss sich der lit.kritische Diskurs seiner eigenen Zugehörigkeit zu jener allg. Textualität bewusst werden, d.h. seiner inneren Verwandtschaft zur Mehrdeutigkeit und Selbstreferentialität der Lit. selbst. Die Lit.kritik darf sich der Lit. nicht mehr hierarchisch über- order unterordnen, sondern muss ihr ähnlich werden und so ihre durch Institutionalisierung oder Überformalisierung verlorengegangene Vitalität zurückgewinnen. (Zapf, 85f.)


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