3 Diskursanalyse

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3.09 Abgrenzung

1. Was bedeutet dieser Text? Welche Intention hat der Autor mit dem Text verfolgt? Antworten auf Fragen wie diese erwarten viele Leser (noch immer) von literaturwissenschaftlichen Textinterpretationen. In traditionellen hermeneutischen Interpretationen wird dieser Erwartungshaltung meist entsprochen, indem zum Beispiel Aufschluss über die historische Bedeutung von Wörtern, Motiven und Problemen gegeben wird, die im Text nachzuweisen sind, und Informationen über Autor, Entstehungszeit sowie historische Sachverhalte vermittelt werden. Liest man diskursanalytische Interpretationen mit derselben Erwartung, so entsteht zunächst Irritation: Antworten auf die genannten Fragen sind hier nicht zu finden. Stattdessen werden beispielsweise Texte auf andere Texte und auf Diskurse bezogen, wird nach dem Vorgang des Schreibens selbst und nach der ‘Autorfunktion’ gefragt, werden Texte zu so wenig ‘literaturwissenschaftlichen’ Themen wie Körperkultur, Tischsitten und Urheberrecht herangezogen. Diskursanalytiker folgen einer anderen ‘Suchoptik’, stellen andere Fragen ins Zentrum ihrer Untersuchungen und setzen theoretische Prämissen und Begriffe ein, die sich ‘Hermeneutik-gewöhnte’ Leser erst aneignen müssen. (Winko, 463)

2. Die Diskursanalyse teilt nicht mehr das hermeneutische Ziel, durch bestimmte interpretative Operationen zu einem adäquaten Sinnverstehen des Textes zu gelangen. Sie lehnen das verbreitete triadische Kommunikationsmodell ab. In der einfachsten Form dieses Modells wird ein ‘Dreiecksverhältnis’ mit eindeutig fixierbaren Instanzen angenommen: Es gibt den Autor als Urheber eines Textes, den als Einheit verstandenen und auf seinen Produzenten und seine Entstehungszeit verweisenden Text sowie den Leser, der im Verlauf des Verstehens in einen Dialog mit dem Text tritt und sich dessen Sinn ‘aneignet’. Statt dieser Instanzen untersuchen Diskursanalytiker Prozesse, Relationen, intertextuelle Verweise. (Winko, 471f.)

3. Die Literaturwissenschaftler fasziniert an Foucault seine radikale Negation dessen, was sie seit jeher betreiben: der Interpretation. Bereits in der Geburt der Klinik grenzt sich Foucault gegen den „kommentierenden“ Umgang mit dem Wort ab. Der Kommentar, Synonym für alle Varianten der Interpretation, dessen historischen Ursprung Foucault in der biblischen Exegese ansiedelt, setze „per definitionem einen Überschuss des Signifikats im Verhältnis zum Signifikanten voraus“ (Foucault 1973a, 14). Indem der Kommentar die Bedeutung eines Textes nach dem Vorbild jenes göttlichen Wortes auffasst, das „am Anfang war“, das immer wieder zur Deutung herausfordert, sich aber nie restlos offenbart, begibt er sich nach Foucault in eine paradoxe Position gegenüber seinem Objekt. Ein Kommentar postuliert gleichzeitig die prinzipielle Unlösbarkeit des Rätsels, das die Sprache für ihn darstellt und seine eigene Geltung als Interpretation.

Foucaults Angriff richtet sich gegen die Mystifizierung des Subjekts, das der Kommentar als Ursprung, Wesen, Substanz hinter den „bloßen Erscheinungen“, die die sprachlichen Aussagen für ihn darstellen, aufspüren will. Die „Diskursanalyse“ greift demgegenüber den strukturalistischen Systemgedanken auf, d.h. die Einsicht, dass der Sinn eines sprachlichen Zeichens nichts anderes als das Produkt der Differenz oppositioneller „Werte“ ist, deren Gesamtheit die „Struktur“ einer Sprache oder eines der Sprache analog konstituierten Systems ausmachen. „Diskurse wären somit Systeme von Aussagen, deren Sinn sich aus den synchronen und diachronen Oppositionsbeziehungen ergäbe, die sie voneinander unterscheiden. (Kammler, 32f.)

4. Gegen den Logozentrismus totalisierender Allgemeinbegriffe setzt Foucault die Pluralität von aufeinander irreduziblen Aussagesystemen. (Kammler, 34)


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