3 Diskursanalyse

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3.07 Ziele/Perspektive

1. Die Beschäftigung mit Literatur stand für Foucault nicht im Zentrum seines Interesses, und er hat auch keine systematische Analyse des literarischen Diskurses vorgenommen.[7] Literatur und Bildende Kunst haben für ihn überwiegend illustrative Bedeutung; er behandelt sie als Beispiele, an denen er andere Überlegungen verdeutlichen kann. Dabei wandelt sich die Rolle, die Literatur für Foucault spielt, mit den drei Phasen seines Werks.

In seinem Frühwerk, also in den sechziger Jahren, schreibt Foucault der Literatur die Funktion eines „Gegendiskurses“ zu, der im Gegensatz beispielsweise zum wissenschaftlichen Diskurs dem dominierenden Machtmechanismus nicht unterworfen ist. Literarische Texte stellen Muster und Schemata der Wahrnehmung und Erkenntnis von Wirklichkeit in Frage, die in der Wissenschaft wie im Alltag als normal gelten, und gehen über sie hinaus.[8] Hinter dieser These steht die Annahme, dass gelungene Kommunikation und Verstehen die Ausnahme, Selbstreferentialität dagegen als Normalfall der Sprache anzusehen sei. Allein Literatur realisiert unter diesen Voraussetzungen die eigentlichen Qualitäten der Sprache: Sie thematisiert die Auflösung des Ich, ist also gewissermaßen subjektlos und verweist allein auf sich selbst. Als Charakteristika literarischer Texte treffen diese Merkmale allerdings nur auf moderne Literatur zu; dementsprechend bezieht sich Foucault auch überwiegend auf symbolistische und besonders auf surrealistische Texte.

In späteren Arbeiten sieht Foucault die Literatur kritischer. Da er sich hier generell auf gesellschaftliche Zusammenhänge und Machtmechanismen konzentriert, nimmt er auch Literatur unter dieser Perspektive wahr. Auch literarische Texte können Bestandteil von Herrschaftsdiskursen sein, können Macht ausüben. ‘Literatur’ ist hier als wertneutrale Bezeichnung für einen wechselnden Gegenstandsbereich aufzufassen, der durch verschiedene innerdiskursive Faktoren (zum Beispiel poetologische Doktrine) und einander überlagernde andere Diskurse (etwa politische, juristische, medizinische) strukturiert ist.[9] (Winko, 468f.)

2. Im Vortrag Was ist ein Autor? proklamiert Foucault das „Verschwinden des Autors“ (Barthes). Damit ist nicht die Existenz einer empirischen Peson geleugnet, die den Text verfasst. Verworfen werden aber die Eigenschaften, die dieser Person zugleich mit der Bezeichnung ‘Autor’ zugeschrieben werden: die Position und Autorität eines „Zentralsubjekts“ (Link), das aus sich heraus erschafft, seine Intentionen im literarischen Text realisiert und das nicht selten als ‘autonom’ gedacht wird. Foucault analysiert den Konstruktcharakter dieses „Autor“-Begriffs und stellt ihn als interne Ordnungskategorie für Diskurse heraus, die verschiedene Funktionen erfüllt, zum Beispiel Texte zu Gruppen zusammenzufassen oder Identitäten herzustellen. (Winko, 470)

Der Autor gilt in der literaturwissenschaftlichen Diskursanalyse nicht mehr als autonomes Schöpfersubjekt. Was er schreibt, ist nicht als Ausdruck seiner Individualität und seiner Absichten zu verstehen, sondern wird bestimmt von der vorgängigen symbolischen Ordnung, an die jeder Mensch durch seine Sprache gebunden ist. Mit jeder Aussage gibt sich ein Sprecher – zumindest dem Diskursanalytiker – als von Diskursen geprägt zu erkennen und keineswegs als freies Subjekt. (Winko, 472)

Unverzichtbar für die Literaturwissenschaft ist die Einsicht, dass die individuelle Leistung eines Autors für den eigenen Text gering sein kann. Wenn der Diskurs die Ordnung der Texte bestimmt, verschwinden ihre Urheber. Die Autorrolle muss unter diesen Umständen neu überdacht werden. Auf diesem Feld lag ein erster Schwerpunkt der Applikation. Eine Grundlage bietet Foucault Vortrag Was ist ein Autor?. Die Autorfunktion geht – ohne dass das Vorhandensein tatsächlicher Personen als Urheber von Texten bestritten würde – in großen Teilen auf den Diskurs über. Die individuelle Verfasserschaft von Texten ist irrelevant; Autoren erscheinen als Namen, denen zu Ordnungszwecken Texte zugeschrieben werden. Der Diskurs ist wie ein Schwimmbecken (in dem der Beckenrand freilich nicht zu sehen ist), dessen Fluten ein Mensch sich nur anvertrauen kann, um getragen und mitgenommen zu werden.

In fiktionalen Konstruktionen sind Ausschnitte aus historisch jeweils geläufigen Diskursen dargestellt. Literarische Texte enthalten immer auch gedankliche Formationen, die zur Zeit ihrer Entstehung allgemein gängig sind. Wenn es auch keinen eigenen Diskurs gibt, der Literatur enthält, so enthält Literatur doch viele Diskurse. (Baasner, 136f., 138)

An die Stelle des bürgerlichen Individualitätsideals ist die Einsicht in die mediale Fremdbestimmung getreten. (Bossinade, 140)

Foucaults Frage in Was ist ein Autor?  lautet präziser so: Was ist ein Autor, wenn die transzendentale Tradition des 19. Jahrhunderts zu zerfallen beginnt? Wo die Autonomie der Sprachzeichen anerkannt wird, hat die Figur des genialischen Individuums ihre Fetischfunktion verloren. Foucault bewegt sich im Rahmen einer sprach- und kunstphilosophischen Debatte, die im deutschsprachigen Raum unter dem negativen Schlagwort ‘Sprachkrise um 1900’ bekannt ist. Die positive Seite hieß: Eigenmacht der Sprache. (Bossinade, 141)

Im Kern geht es Foucault darum, die Sehrichtung des Forschungsprozesses umzukehren. Das Urheber-Subjekt verschwindet aus dem Zentrum, was aber keineswegs heißt, es sich in Nichts auflöste. Das Subjekt verschwindet in den Funktionszusammenhang des Diskurses, der danach zur zentralen Adresse wird. Foucault fasst die erkenntnisleitende Rolle des Diskurses so zusammen: Die Frage laute nicht, was der Autor vom Tiefsten seiner selbst ausgedrückt habe. Die Frage lautet, welche Existenzbedingungen dieser Diskurs habe, woher er komme und wie er sich verbreiten könne. (Bossinade, 142)

3. Zu den „Verknappungsprinzipien“, die den Diskurs beschränken, rechnet Foucault auch den „Kommentar“, die Wiedergabe eines Textes mit anderen Worten. Im Umgang mit literarischen Texten übernehmen Interpretationen diese Kommentarfunktion: Interpreten setzen voraus, dass ein literarischer Text etwas enthalte, das er nicht explizit ausspreche, das ihn aber wichtig mache; und die Aufgabe der Interpretation sei es, dieses Ungesagte auszusprechen. (Winko, 470)

4. In Foucaults Diskursanalyse wurde von Kittler, Turk und anderen eine Möglichkeit gesehen, ‘angemessener’ als bisher mit Literatur umzugehen. Leitend ist eine seit den siebziger Jahren zunehmende, generelle Kritik an traditionellen Wissenschaftskonzeptionen. Insbesondere deren Objektivitätsideal und Fixierung auf Rationalität und Wahrheit werden als Fiktionen abgelehnt. Die theoretischen Voraussetzungen und Ziele der Hermeneutik werden als nicht mehr haltbar kritisiert., und die hermeneutische Interpretationspraxis wird abgelehnt. Kritisiert wird eine Literaturwissenschaft, die Texte nur als Träger von etwas vermeintlich Wichtigerem auffasse, der es nicht eigentlich um die literarischen Texte gehe, sondern um das, was sie bedeuten. Hinzu kam ein literaturgeschichtliches Argument: Moderne Literatur spätestens seit Beginn des

20. Jahrhunderts verweigere sich der Fixierung eines Sinns und produziere offene statt geschlossener Texte; daher werde Literatur von einem ‘sinnsuchenden’ Ansatz wie der Hermeneutik ebenso verfehlt wie von allen Konzeptionen, die von einem geschlossenen Werkganzen ausgehen, auf das hin einzelne Elemente und Analyseergebnisse zu beziehen sind. (Winko, 470f.)

5. In der literaturwissenschaftlichen Anwendung weist der Diskursbegriff viele Facetten auf, ohne dass ein konsistentes Modell oder eine übersichtliche Methode bisher entwickelt worden wäre. Für die Literaturwissenschaft ist die Diskursanalyse eine mit Interesse aufgenommene, aber eher ‘unausgearbeitete Alternative’ zu traditionellen Verfahren. (Baasner, 129)

6. Häufig gewählte Fragestellungen der literaturwissenschaftlichen Applikation richten sich auf den diskurstheoretischen Status von Literatur, ferner auf den implizierten Text- und den Autorbegriff. Da Foucault selbst keinen literarischen Diskurs vorgesehen hat, besteht eine Diskussion darüber, inwieweit die Annahme eines solchen angemessen wäre. Die meisten expliziten Überlegungen zur Diskurstheorie bestreiten einen eigenen Diskurs Literatur, da letztere kein genuines Thema, keine spezielle Semantik aufweist. Es gibt kein spezifisches literarisches Wissen, das ein solcher Diskurs verwalten könnte. Dadurch gibt es keine geeigneten Merkmale, um einen solchen Diskurs überhaupt von anderen abzugrenzen, literarische Texte sind über ihren Inhalt ja nicht von nichtliterarischen zu unterscheiden. Und über Textformen können Diskurszugehörigkeiten gerade nicht ermittelt werden, ebenso wenig wie über den abweichenden Wahrheitsanspruch der Fiktionalität. Diskurse bleiben semantisch orientiert, literarische Texte haben im Diskurs nichts spezifisch Literarisches, sondern sind beliebige Texte unter anderen, die sich einem Thema widmen. Die ästhetische Besonderheit spielt keine Rolle.

Auch gattungstypische Formen und Stilelemente sind in Diskursbegriffen nicht zu erfassen. (Baasner, 135f., 138)

7. Literaturwissenschaftliche Diskursanalyse ordnet die Inhalte literarischer Texte in thematisch verbundene Kontexte ein und bestimmt so ihre Abhängigkeit oder ihre Abgrenzung von vorhandenen Diskursen. (Baasner, 138)

[7] Innerhalb seines umfangreichen Gesamtwerks kommt Foucaults Schriften zur Literatur eine eher marginale Rolle zu. So geht es in der Archäologie des Wissens, seinem methodologischen Hauptwerk, um Methoden der Analyse historischer Wissensformationen (wie der Medizin oder der Biologie). Die Diskursanalyse wurde also nicht als Verfahren zur Beschreibung oder gar Deutung einzelner literarischer Texte konzipiert. (Kammler, 32)

[8] Die in den Schriften zur Literatur vertretenen Thesen über die besondere Rolle der Literatur innerhalb der Kultur der Moderne verorten sie auf einer Gegenposition zu den herrschenden wissenschaftlichen und philosophischen Diskursen der Moderne. Als gleichsam dionysisches Kräftepotential mißachtet und verletzt sie die Regeln herrschender diskursiver Ordnungen. (Kammler, 40)
Es ist nicht zu übersehen, daß beim frühen Foucault eine bestimmte, surrealistische Richtung innerhalb der Kunst der Moderne als Gegendiskurs" und Kronzeugin für jenes autonome "Sein der Sprache" angeführt wird, das Foucault an "der" Literatur der Moderne fasziniert. Dieses in bezug auf herrschende Sprachnormen subversive Potential kann jedoch nicht die Grundlage für eine allgemeine Definition der Literatur bilden. (Kammler, 41)

[9] Differenziert man konsequent zwischen den verschiedenen Denkansätzen Foucaults, so bietet sein Werk dem Literaturwissenschaftler (mindestens) drei Optionen: einen tendenziell mystifizierenden Literaturbegriff (das Konzept des Gegendiskurses), einen "positivistischen" Begriff des Diskurses als "rein empirische Figur" und schließlich einen "politizistischen" Ansatz, der die Diskurse wie die nichtdiskursiven Praktiken im Blick auf ihre politisch-strategische Zielgerichtetheit in "Dispositiven" analysiert. (Kammler, 45)


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