9 Existentielle und morphologische Ansätze

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9.1 Existentielle Ansätze

9.15 Literaturtheoretische Grundannahmen

1. Kunst und Literatur sind nicht als schöner Schein zu rezipieren, sondern genau wie Unmittelbares der Wirklichkeit im eigenen Sein zu erfahren. (Maren-Grisebach, 53)

2. Der Fragenkomplex: Wie verhält sich das Werk zum Leben des Autors, und wie verhält sich der Betrachtende dieser Frage gegenüber? wird in der existentiellen Methode abgetan. Ob das, was im Werk ausgesprochen, Meinung und Problem des realen Dichters war, oder ob es nur literaturimmanente Funktion hat, muss nicht entschieden werden, denn Leben und Werk seien beide als Sichtbarmachen von Grundfragen der Existenz schlechthin zu verstehen. (Maren-Grisebach, 53f.)

3. Wenn eine Theorie oder ein Satz im Erleben des Lesers, in seiner Subjektivität erfüllt werden, sind sie in der Wahrheit, selbst wenn sie, an außerhalb liegenden Maßstäben gemessen, falsch sein sollten. So kann bei einer Werkbetrachtung alles „wahr“ sein, wenn nur das Ergriffenwerden dem wirklichen Existieren gleichkommt, wenn zum Beispiel der Sinn eines Gedichtes, wie er sich dem Leser spiegelt, wachmacht für bis dahin Ungesehenes, in das eigene Sein hinübergeht.

Das Subjektive kann mehr Wahres mit sich führen als etwa das erstrebte objektive Verfahren der Positivisten. (Maren-Grisebach, 55f.)

4. Trotz der immer gleichen Urprobleme, die einen menschen- und literaturverbindende Wirkung zeitigen, bestehen die existentiellen Sucher auf einem Atypischen und Einmaligen jedes einzelnen Autors und seiner Werke. (Maren-Grisebach, 63)

5. Existenzphilosophie wie auch Geistesgeschichte sehen in der Kunst eine Seinsmodalität, die sich in keiner anderen Denk- oder Fühlweise ausdrücken lässt. (Hermand, 127)

6. Während die Geistesgeschichte im Gefolge Diltheys manchmal noch über eine relativ breite historische Basis verfügt und sogar das jeweilige Zeitkolorit zur lebensphilosophischen Verlebendigung ihrer Thesen heranzieht, beschränken sich die Heideggerianer von vornherein auf das Große, Letzte, Eigentliche, Nichtzuüberbietende. Wie Schopenhauer und Nietzsche geben sie sich nur mit jenen Geistern ab, die sich – auf einsamen Gipfeln sitzend – über die Jahrhunderte hinweg ihre Losungen zugerufen haben. Manche stützen sich dabei außerdem auf Benedetto Croce, der in seinem Buch Poesia e non Poesia (1923) das unvergleichliche Einzelwerk als den höchsten Ausdruck des künstlerischen Schaffens hingestellt hatte. Nach dieser Lehre gibt es nur Hochwerke, in denen sich das Absolute, die Unmittelbarkeit des reinen Geistes manifestiert, während alles Zeitgebundene als bloße Rhetorik oder Tendenzpoesie abgewertet wird. Ebenso einflussreich war in dieser Hinsicht die monumentale Verkultung des großen Einzelnen, wie sie die Geist-Monographien des George-Kreises durchzieht. Auch hier wird jeder Dichter als eine sich selbst genügende Monade dargestellt, die nur um ihr eigenes Zentrum kreist. (Hermand, 127)

7. Die existentialistische Methode beschränkt sich auf das Statische, von Urzeiten Gegebene, das heißt „Seiende“ im weitesten Sinne. (Hermand, 128)

8. Das wahre Kunstwerk wird von Heidegger als ein Instrument des „Entbergenden“ hingestellt, in dem sich das „Sein des Seienden“ enthüllt (Heidegger 1957, 28). Kunst ist also für Heidegger vornehmlich eine Lichtung, ein Durchstoß aus der alltäglichen Welt des Seienden in die ewige Offenheit des Seins. Aus diesem Grunde werden ihr alle Bedeutungsqualitäten angelastet, die sich mit Begriffen wie Mitte, Ganzheit, Wesensfülle oder Göttlichkeit verbinden. Sie ist „Wahrheit“, und zwar eine Wahrheit, die direkt aus dem Absoluten stammt. Dichter sind darum für Heidegger nur solche, die über „seherische“ Qualitäten verfügen oder sich unentwegt auf der „Spur der entflohenen Götter in das Finstere der Weltnacht“ befinden.

Die im “Sein“ verwurzelte Wahrheitsschicht entzieht sich jedem rationalen Zugriff und tritt nur in der magisch erlebten Welt der Kunst ins helle Licht der Unverborgenheit. Daher ging man im Rahmen der existentialistisch beeinflussten Literatur- und Kunstwissenschaft meist von Heideggers Stichwort aus, daß das Wesen der Kunst das „Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden“ sei, also eine offene Stelle im Gestrüpp des bereits völlig vom „Man“ überwachsenen Alltagswelt. Überhaupt gilt Kunst im Umkreis dieses Denkens weitgehend als eine Urkraft, die sich vor jedem Banausen verschließt und sich nur mit dem nötigen „Gespür“ aufschließen lässt. Dabei fällt alles methodisch Erlernbare natürlich unter den Tisch. Es regiert das kongeniale „Sich-Hinein-Versetzen“ ins Zentrum der „Unverborgenheit“. (Hermand, 132f.)

9. Heidegger ist der Auffassung, dass die Kunst eine Verfremdung ist: wenn van Gogh uns ein paar Bauernschuhe zeigt, verfremdet er sie, enthebt er sie ihrer Zufälligkeit, lässt ihr zutiefst authentisches ‘Schuhsein’ zum Vorschein kommen.

Kunst wie Sprache können nicht als Ausdruck eines individuellen Subjekts gesehen werden; das Subjekt ist nur der Ort oder das Medium, durch das die Weltwahrheit selbst spricht, und es ist diese Wahrheit, der man beim Lesen eines Gedichtes aufmerksam lauschen muss. Wir müssen uns dem Text passiv öffnen, uns seinem mysteriös unerschöpflichen Sein unterwerfen, zulassen, dass wir von ihm befragt werden. Unsere Haltung zur Kunst muss mit anderen Worten etwas von der Unterwürfigkeit enthalten, die Heidegger dem deutschen Volk gegenüber dem „Führer“ empfahl. (Eagleton, 29f.)


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