9 Existentielle und morphologische Ansätze

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9.1 Existentielle Ansätze

9.14 'Übergreifende' Hintergründe

1. Ausgangspunkt ist die Wendung in der Philosophie auf den Ernst des Seins hin, auf die Existenz. Das Subjekt soll, wenn es der zu erkennenden Welt gegenübertritt, in dem jeweils Begegnenden anwesend sein, unmittelbar es zur eigenen Sache machen – es soll keinem spectaculum gegenüber stehen, um nur dessen Schein zu sehen. Mea res agitur. (Maren-Grisebach, 53)

2. Nach Kierkegaard ist es geradezu ein unethisches Verhalten, das eigene Selbst zu missachten. Einem Existierenden ist es untersagt „zu vergessen, daß er existiert“ (Kierkegaard 1910, 5). Innerhalb der Philosophie Kierkegaards ist es vor allem das Denken über die Subjektivität, das für die Literaturwissenschaft von größtem Einfluss war. „Die Subjektivität ist die Wahrheit. Die Subjektivität ist die Wirklichkeit“ (Kierkegaard 1910, 40). Dieser Überzeugungskreis suggeriert in stets neuen Ansätzen die verderbliche Einseitigkeit eines abstrahierenden Vorgehens und intensiviert demgegenüber die Vorrangstellung des subjektiven Erlebens, bei dem der ganze Mensch, seine konkrete Existenz ausschlaggebend sein sollen. Die aus dem eigenen Erleben gewonnenen Kriterien sind die der Wahrheit. (Maren-Grisebach, 55)

3. Kierkegaard fordert „Interesse“ und „Leidenschaft“ von einem Betrachtenden und Aufnehmenden. Erregt und miterschüttert sei derjenige zu sein bereit, der etwas erkennen will. (Maren-Grisebach, 57)

4. Eine weitere Quelle für die Gefühlseinflüsse birgt die Philosophie Martin Heideggers (geb. 1889). Seine ihm wesentlichen Erkenntnisgründe, aus denen das Entscheidende aufsteigt, sind „Stimmung“ und „Befindlichkeit“. Stimmung ist ein „Existenzial“, das heißt ein unentrinnbares Konstituens des Menschen. Als solches ist sie immer vorhanden. Daher ist auch das Verstehen ein „immer gestimmtes“. (Maren-Grisebach, 58)

Unter dem Einfluss der Philosophie Heideggers wandelt sich der weiterhin hochgehaltene Begriff des Erlebnisses vom psychologischen zum existentialistischen. Erlebnis ist nicht mehr psychischer Effekt in den Menschen, sondern Struktur und Ausdruck der ‘Geworfenheit’ in das ‘Sein’. Als solcher wirkt er in der Methode der Werkinterpretation bis in die 1960er Jahre fort. (Baasner, 68)

5. Kierkegaard und später Jaspers drängen auf das konkrete und nur in der jeweiligen Person sich ereignende Dasein, alle Menschenfragen sind individuell und nicht mehr generell, wie die idealistische Philosophie es wollte, zu lösen. (Maren-Grisebach, 63f.)

6. Die Existenzphilosophie zeigt ein Desinteresse am Geschichtlichen. „Geschichtliche Genauigkeit und geschichtliche Wirklichkeit sind Breite“, das eigentliche Medium „ist die Innerlichkeit menschlichen Existierens“. (Kierkegaard 1910, 54) Diese Innerlichkeit ist die des jeweils konkret existierenden Subjektes, damit aber die eines geschichtlichen Wesens in der Zeit. Es besteht eine Ambivalenz zwischen Unwichtigkeit des Historischen und Bedeutung des individuellen Daseins. (Maren-Grisebach, 64f.)

7. Die im Zeichen der Existenzphilosophie stehende Literatur- und Kunstwissenschaft und die ebenso „philosophisch“ orientierte Geistesgeschichte weisen mancherlei gemeinsame Züge auf. Schließlich waren bereits die Geistesgeschichtler der frühen zwanziger Jahre zu einem Lebensbegriff übergegangen, der aus dem psychologischen Relativismus Diltheys immer stärker ins Seins- und Wesensmäßige tendierte. Auch hier sprach man allenthalben von „Aufbruch“, „metaphysischem Dienst“ und „Daseinsverpflichtung“. Und zwar war dieser neue Aktivismus vor allem durch die innere Gleichsetzung des „deutschen Wesens“ mit der romantisch verbrämten Vorstellung vom Geistig-Kreativen entstanden, bei dem der Hauptakzent nicht mehr auf dem Historischen, sondern auf dem Mythischen oder Geoffenbarten liegt. Deshalb ist es unmöglich, die „existentialistische“ Komponente innerhalb dieses Neuidealismus allein auf Heidegger zurückzuführen. Auch auf diesem Sektor gibt es viele Tendenzen, die bereits in der „metaphysischen Wende“ um 1900 eine Rolle spielen und sich dann etappenweise verstärken. Die Quellen der Geistesgeschichte sind daher auch die Quellen der Existenzphilosophie. (Hermand, 126)

Die Wirkung von Heideggers Sein und Zeit (1927) rührt vor allem daher, dass die meisten der hierin ausgesprochenen Gedanken schon in der Luft lagen und lediglich einer effektvollen Formulierung bedurften, um dieser Richtung zum endgültigen Durchbruch zu verhelfen. (Hermand, 129f.)

8. Die Erkenntnis, daß Bedeutung historisch ist, brachte Husserls berühmtesten Schüler, den Philosophen Martin Heidegger, dazu, mit dessen Denksystem zu brechen. Husserl geht vom transzendentalen Subjekt aus; Heidegger verwirft diesen Ausgangspunkt und beginnt stattdessen mit einer Reflexion der absoluten ‘Gegebenheit’ der menschlichen Existenz oder des Daseins, wie er es nennt. Dies ist der Grund, weshalb sein Werk im Gegensatz zu dem harten ‘Essentialismus’ seines Lehrers häufig als ‘existentialistisch’ charakterisiert wird. Der Weg von Husserl zu Heidegger führt von einem Feld des reinen Intellekts zu einer Philosophie, die über das Gefühl des Lebens selbst meditiert.

Das Dasein, argumentiert Heidegger, ist zuallererst immer ein In-der-Welt-sein: wie sind nur deshalb menschliche Wesen, weil wir mit den anderen und der materiellen Welt dem Wesen nach verbunden sind. Die Welt ist nicht ein Objekt ‘da draußen’, das als dem kontemplativen Subjekt entgegengesetzt rational analysiert werden kann. Wir können niemals aus ihr heraustreten und sie von außen betrachten.

Husserls Inthronisierung des transzendentalen Ego ist nur die letzte Phase einer rationalistischen Aufklärungsphilosophie, für die der Mensch die Welt gebieterisch nach seinem eigenen Bilde formt. Im Gegensatz dazu wird Heidegger das menschliche Subjekt teilweise aus dieser imaginären Dominenzposition ‘dezentrieren’. Das menschliche Wissen geht immer von dem aus und bewegt sich innerhalb dessen, was Heidegger ‘Vor-Wissen’ nennt. Bevor wir überhaupt beim systematischen Denken angelangt sind, haben wir schon an einer Menge stillschweigender Annahmen teil, die wir in unserer praktischen Verstrickung mit der Welt gesammelt haben. Verstehen ist nicht in erster Linie eine Angelegenheit einer ‘isolierbaren Erkenntnis’, sondern Teil der Struktur der menschlichen Existenz selbst. Denn ich lebe nur dadurch menschlich, dass ich mich ständig selbst ‘entwerfe’, immer wieder neue Möglichkeiten des Seins erkenne und verwirkliche. Meine Existenz ist niemals etwas, was ich als abgeschlossenes Ding begreifen kann, sondern immer eine Frage neuer Möglichkeiten; und dies ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass der Mensch durch die Geschichte oder die Zeit konstituiert wird. Die Zeit ist die eigentliche Struktur des menschlichen Lebens selbst. Verstehen ist radikal historisch: es ist immer untrennbar mit der konkreten Situation verbunden, in der ich mich befinde und die ich zu überwinden versuche.

Wenn die menschliche Existenz auch durch die Zeit konstituiert wird, so besteht sie aber ebenso auch aus Sprache. Sprache ist für Heidegger kein sekundäres Mittel, um ‘Ideen’ auszudrücken: sie ist die eigentliche Dimension, in der sich das menschliche Leben bewegt, durch die die Welt überhaupt erst entsteht. Nur wo es Sprache gibt, gibt es auch ‘Welt’ im spezifisch menschlichen Sinne. Die Sprache existiert immer schon vor dem individuellen Subjekt als der eigentliche Bereich, in dem er oder sie sich entfaltet.

Im Mittelpunkt des Heideggerschen Denkens steht nicht das individuelle Subjekt, sondern das Sein selbst. Der Fehler in der westlichen metaphysischen Tradition lag darin, das Sein als eine Art objektiver Entität zu sehen und es radikal vom Subjekt abzutrennen; Heidegger versucht stattdessen zum vorsokratischen Denken zurückzukehren, bevor sich der Dualismus zwischen Subjekt und Objekt aufgetan hatte, um das sein als etwas beides Umfassendes zu betrachten. (Eagleton, 26ff.)


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