8 Werkinterpretation

[zurück]

8.12 Vorgehensweise

1.  Beim betrachtenden Subjekt ist eine „radikale Vorurteilslosigkeit“ (Husserl) herbeizuführen. Es soll abstrahieren erstens von seinem Wissen; zweitens von allen vordem einmal gefällten Urteilen. Der Betrachtende verzichtet auf eine Anknüpfung an das bisher über diesen Gegenstand Erarbeitete, denn „eine solche Anknüpfung hat ja gewöhnlich zur Folge, daß der Leser vor allem auf die schon bestehenden begrifflichen Schemata eingestellt ist, wodurch die reine Erschauung der wirklich vorliegenden Sachlagen wesentlich erschwert wird“ (Ingarden 1931, X). Selbst wenn das bisher Erarbeitete rein phänomenologisch erarbeitet gewesen wäre, ist es zu vergessen. Daher sind auch an anderen Werken geschulte Epochenbegriffe und stilistische Schemata zu vergessen. Drittens soll der Betrachtende von allen subjektiv bedingten Gefühlen, allen Wünschen, persönlichen Tendenzen und Einstellungen absehen, um die reine Schau des Wesens zu erzielen. Jegliches Zusätzliche, das aus der Subjektivität stammt und nicht von der Sache her als notwendig zum Akt des Schauens dazugehört, ist zu unterbinden. (Maren-Grisebach, 44)

2. Die Orientierung am Ästhetischen, am Kunstcharakter des jeweiligen Werkes hat auch zur Formel von dem Zusammenhang zwischen Inhalt und Form, Gehalt und Gestalt geführt, den werkimmanente Interpretation nachweisen will.

Dabei sind grundsätzlich zwei Wege gangbar: 1. man geht von den gedanklichen, gehaltlichen Momenten, vom Problem, vom Thema aus und ordnet ihnen die ‘formalen’ Phänomene zu, durch die die Thematik poetisch dargestellt wird; 2. man beschreibt – umgekehrt – die entscheidenden Elemente der Darstellungsform und prüft sie auf ihre Funktion hinsichtlich des Aussagegehaltes.

Auf die Betonung des Ästhetischen, auf die werkimmanente Textauslegung so großen Wert legt, ist es auch zurückzuführen, daß sich in so vielen Interpretationen Worte der Bewertung, der Anerkennung, ja der Begeisterung finden. Hier schlägt sich das ästhetische Empfinden, das die subjektive Basis der Analyse bildet, im Darstellungsstil des Interpreten wieder. (Petersen, 130)

3. Bei aller Konzentration auf das künstlerische Einzelwerk hat Staiger, wie gerade auch an der Werther-Interpretation seines Goethe-Buches von 1952 ablesbar ist, nie auf die historische Situierung eines Werks wie auch die seiner einzelnen Momente verzichtet. Neben der tatsächlich erfolgenden, wenn auch in ihrem Aussagewert stark relativierenden Einbeziehung der lebensgeschichtlichen Momente tritt das historische Moment auf in der geistesgeschichtlichen Form der Aufweise von inhaltlichen wie formalen Einflüssen. Schließlich geht Staiger auch darin über die bloße werkimmanente Erklärung hinaus, als er Stimmen der Rezeption in die Interpretation einbezieht. (Brackert, 414)


[zurück]