6 Literatursoziologie

[zurück]

6.1 Sozialgeschichtliche Ansätze

6.12 Die wichtigsten Ansätze

1. Geht man von einem Literaturverständnis aus, das den historischen Wandel von Literatur berücksichtigt, so stellt sich die Frage nach den Gründen des Wandels. Eine Antwort hierauf wird unweigerlich einen Zusammenhang zwischen literarischen und gesellschaftlichen Entwicklungen feststellen müssen. Das Verhältnis von Literatur und Gesellschaft genauer zu bestimmen, ist Ziel sozialgeschichtlicher Zugänge, die die literaturwissenschaftliche Methodendiskussion seit dem Ende der sechziger Jahre in entscheidendem Maße mitbestimmt haben.

Die Studentenbewegung hatte gegen die herrschende Auffassung der Autonomie der Literatur, die die Literaturwissenschaft seit der Nachkriegszeit bestimmt hatte, Stellung bezogen und eine politisch und sozial verantwortungsbewusste, ‘progressive’ Literaturwissenschaft gefordert. Literaturkritik sollte sich nicht länger allein dem ästhetischen Gegenstand widmen, sondern vor allem gesellschaftliche Zusammenhänge berücksichtigen. Die Erneuerungsbestrebungen des Fachs in den späten sechziger und den siebziger Jahren fanden einen Anknüpfungspunkt in den marxistisch geprägten Debatten der zwanziger und dreißiger Jahre, wie sie vor allem Georg Lukács, Walter Benjamin und die Literatursoziologen der Frankfurter Schule über das Verhältnis von Literatur und Gesellschaft geführt hatten. (Wechsel, 446)

2. Die empirische Literatursoziologie erlebte eine Renaissance. Sie legt den Schwerpunkt auf Produktion, Rezeption und Verbreitung und lässt das Ästhetische als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung weitgehend in den Hintergrund treten. In eine andere Richtung weisen diejenigen Neuansätze, die das Verhältnis der ästhetischen Strukturen literarischer Werke zu den Strukturen einer Gesellschaft untersuchen. Auf der Grundlage einer marxistischen Gesellschaftstheorie wird Literatur einerseits als „Widerspiegelung“ der Wirklichkeit betrachtet (Lukács, Goldmann), andererseits analysieren komplexere ideologiekritische Methoden die ästhetische Umsetzung sozialer Erfahrungen. (Wechsel, 446)

3. Für eine sozialgeschichtlich ausgerichtete Forschungsliteratur ist die zentrale Kategorie der Geschichte ausschlaggebend. Folglich wird das Verhältnis des literarischen Wandels zum geschichtlichen Prozess zur zentralen Fragestellung erhoben. Literarischer Wandel ist dabei sowohl auf die innerliterarische Entwicklung wie auf die Entwicklung der literarischen Institutionen zu beziehen.

Mit der Postmodernediskussion der achtziger Jahre geraten die sozialgeschichtlichen Erklärungsmodelle mehr und mehr in Bedrängnis, und eine Neuorientierung bei der Bestimmung des Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft wird erforderlich. (Wechsel, 447)

4. Vermittlungsmodelle. Ausgehend von der Annahme, dass die sozialen Verhältnisse Einfluss auf Form und Inhalt der Literatur haben und Literatur auch ihrerseits auf die Gesellschaft zurückwirkt, stellt sich die Frage nach der Wirkungsweise derartiger Wechselbeziehungen. Als Erklärungsansatz bedient sich die sozialgeschichtlich ausgerichtete Literaturwissenschaft des dialektischen Begriffs der „Vermittlung“. Vermittlungsmodelle stellen Literatur und Gesellschaft als eigenständige Bereiche dar, die mittels bestimmter Vermittlungsinstanzen Austauschbeziehungen eingehen. (Wechsel, 447f.)

5. Literaturgeschichte als Sozialgeschichte. Eine kritische Auseinandersetzung mit den traditionellen, in erster Linie positivistisch und ideengeschichtlich ausgerichteten Literaturgeschichten war in den siebziger Jahren der Auslöser für zahlreiche großangelegte Projekte zur Erneuerung der Literaturgeschichtsschreibung. Die gemeinsame Grundlage lag in der Auffassung, literaturgeschichtliche Entwicklungen folgten keinem immanenten Prinzip, vielmehr seien ästhetische Erscheinungen als spezielle Form sozialer Erscheinungen zu verstehen. Folglich könne die Funktion einer Darstellung von Literatur im Wandel der Geschichte nicht allein in der Beschreibung ästhetischer Veränderungen liegen. Indessen gelte es, unter Berücksichtigung außerliterarischer Entwicklungen, den Ursachen für die Veränderung ästhetischer Vorstellungen und Ziele nachzugehen. (Wechsel, 448)

6. Bei der Konzeption der sozialgeschichtlich angelegten Literaturgeschichten wurde ein Vermittlungsmodell zugrunde gelegt, das als Vermittlungsinstanz auf das Konstrukt ‘literarisches Leben’ referiert. Darunter sind diejenigen Faktoren zu verstehen, die die literarische Kommunikation ermöglichen. Der Wandel von Produktions- und Kommunikationsbedingungen und deren Einfluss auf das künstlerische Schaffen einer Epoche bilden den Gegenstand der sozialgeschichtlichen Literaturgeschichtsschreibung. Die Rolle der Medien, die Verbreitung von Literatur und das Publikum rücken thematisch in den Vordergrund. Damit finden auch solche Textsorten – etwa Gebrauchstexte, „Trivial-“ und „Arbeiterliteratur“ –, die aufgrund von normativen ästhetischen Bewertungskriterien bisher aus dem traditionellen Kanon ausgeschlossen worden waren. (Wechsel, 448)

7. Für die Gliederung der Literaturgeschichten spielt vor allem die Einteilung in Gattungen eine Rolle. In Anlehnung an die Gattungstheorie Wilhelm Voßkamps werden Gattungen als literarisch-soziale Verständigungsformen, als ein Ausdruck historischer sozialer Bedürfnisse verstanden. Gattungen stellen in dieser Sichtweise Lösungsversuche für gesellschaftliche Probleme dar und lassen soziale Widersprüche zum Vorschein kommen. Ein Gattungswandel artikuliert demnach auch den Wandel sozialer Bedürfnisse. (Wechsel, 448f.)

8. Bei der Umsetzung dieses Vermittlungsmodells in den Literaturgeschichten hat sich immer wieder gezeigt, dass die historischen Darstellungen der sozialen Verhältnisse einerseits und der ästhetischen andererseits nicht überzeugend miteinander verknüpft werden konnten. (Wechsel, 449)

9. Literatur als Institution: Peter Bürger. Während Lukács und Adorno, deren literatur- und kunsttheoretische Schriften den Hintergrund für Bürgers Arbeiten bilden, nach dem gesellschaftlichen Gehalt von Kunstwerken fragen, drehen sich Bürgers Arbeiten um die Frage der gesellschaftlichen Funktionen von Kunst

Bürger zufolge wird die Funktion von Literatur durch institutionelle Rahmenbedingungen bestimmt, die die Produktion und Rezeption regeln. Die Institution dient in diesem Ansatz als Vermittlungsinstanz. Bürgers Begriff der Institution bezieht sich nun nicht auf Einrichtungen wie Buchhandel, Verlage und Bibliotheken, die das Untersuchungsfeld der Literatursoziologie bilden. Vielmehr versteht Bürger unter Institution die sozial bedingten, allgemeinen Vorstellungen, die in einer Gesellschaft über Literatur gelten und dort ihre Funktion bestimmen. Diese „Funktionsbestimmungen“ von Literatur sind einem historischen Wandel unterworfen. Mittels ästhetischer Normen, die auf Produktion und Rezeption Einfluss haben, wird zwischen Werk und Publikum vermittelt. (Wechsel, 450)

10. Der Bereich der Kunst ist erst in der bürgerlichen Gesellschaft voll ausdifferenziert. Hier kommt ihm eine Funktion zu, die von anderen Institutionen, wie Religion oder Philosophie, nicht mehr übernommen werden kann. Kunst ist autonom, und als solche wird sie in einer durch Aufklärung und Industrialisierung von Arbeitsteilung und Zweckrationalität bestimmten Welt entgegengesetzt. In der Literatur wird die Entfremdungserfahrung des Menschen wieder aufgehoben und seine verlorene Totalität wiederhergestellt. Damit hat Literatur einen ganz spezifischen hohen Anspruch zu erfüllen, den nur eine ‘hohe’ Kunst zu leisten vermag. Diese Funktionsbestimmung bedeutet zugleich, dass mit der Institutionalisierung von Kunst Ausschließungsregeln erhoben werden, die die ‘hohe’ Kunst von der ‘niederen’ abgrenzen, somit also die Dichotomisierung der Kunst begründen. (Wechsel, 450f.)

11. Die bürgerlichen Gesellschaften vollziehen im Gegensatz zu höfisch-feudalen, in denen die Kunst in die höfische Lebenspraxis integriert war, eine klare Trennung zwischen der Institution Kunst und der Lebenswelt. In der höfisch-feudalen Gesellschaft erfüllte Kunst als Herrschaftslegitimation wie als unterhaltsame Zerstreuung eine politische Funktion. In bürgerlichen Gesellschaften hingegen bedeutet die Trennung von der Lebenswelt die politische und gesellschaftliche Folgenlosigkeit der Kunst.

Bürgers Konzept der Institution bezieht sich vollkommen auf die herrschende Auffassung einer Autonomie der Literatur. Andere in der bürgerlichen Gesellschaft parallel existierende Literaturauffassungen, die von der Möglichkeit der Beeinflussung der Lebenswelt ausgehen, können Bürger zufolge nur in Abhängigkeit von der herrschenden Literaturauffassung bestimmt werden.

Sprechen diese unterschiedlichen Funktionsbestimmungen aber nicht vielmehr für ein Nebeneinander unterschiedlicher Formen der Institutionalisierung? (Wechsel, 451)

12. Literatur als Sozialsystem. Ein struktural-funktionales Modell. Ein Münchener Forschungsprojekt zur Sozialgeschichte der Literatur entwickelte eine interdisziplinäre Vernetzung von Literatur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften. Ziel war die Entwicklung eines systematischen Modells zur Klärung der kausalen und funktionalen Zusammenhänge zwischen Literatur, literarischem Leben und Gesellschaft. Auf der Grundlage der Systemtheorie Talcott Parsons’, die eine makrosoziologische Betrachtungsweise der Gesellschaft mit einem handlungstheoretischen Konzept verbindet, geht es in diesem Entwurf um die Strukturen, die das Sozialsystem Literatur organisieren. (Wechsel, 451f.)

13. Parsons geht von einem systemhaften Charakter der Gesellschaft aus: Aufgrund der Überkomplexität der Welt muss menschliche Wahrnehmung und menschliches Handeln stets eine Selektion darstellen. Die ‘Wirklichkeit’ wird demnach erst durch menschliches Handeln konstituiert, stellt eine Konstruktion dar. Handeln entsteht durch Interaktion (Gemeinsamkeit mit anderen) und durch Intentionalität (Verweis auf Sinnhorizonte). Es ist demnach nur möglich, wenn bestimmte Selektionsmechanismen vorhanden sind. Der gesellschaftlichen Ordnung liegt demzufolge gemeinsames Handeln vor dem Hintergrund normativer Handlungsdeterminanten zurunde, die im Sozialsystem institutionalisiert sind. (Wechsel, 452)

14. Parsons betrachtet das Gesellschaftssystem als Einheit. Im Verlaufe der Evolution kommt es zu einer wachsenden Komplexität, die zur Ausdifferenzierung in immer neue Subsysteme führt. Die vier Subsysteme Ökonomie, Politik, gesellschaftliche Gemeinschaft und Sozialkultur bilden das gesellschaftliche Gesamtsystem, die oberste Ebene von Parsons’ hierarchisch strukturiertem Gesellschaftsmodell. Diese Subsysteme sind nun durch Interaktionszusammenhänge und Austauschprozesse miteinander verbunden. Mittels „Interaktionsmedien“ wird zwischen den einzelnen Medienteilen vermittelt: Für das Subsystem Ökonomie steuert das Austauschmedium „Geld“ die Interaktionsprozesse, für Politik das Austauschmedien „Macht“, für gesellschaftliche Gemeinschaft „Einflusß“ und für den Bereich der Sozialkultur die „Wertbindung“.

Das Sozialsystem Literatur stellt in diesem Modell ein Subsystem des Subsystems Sozialkultur dar. Als Sozialsystem verstanden, wird Literatur nun nicht mehr auf den Text als ästhetisches Gebilde beschränkt. Dieser geht aus sozialen Handlungen hervor, für die er zugleich auch Ausgangspunkt ist. Zwischen dem Sozialsystem Literatur und anderen Subsystemen bestehen wechselseitige Beziehungen, die beispielsweise in der Abhängigkeit von Produktion, Rezeption, Distribution von Ökonomie, Politik und kulturellen Normen zutage treten. (Wechsel, 452)

15. Entscheidend ist bei diesem Modell, dass es nicht nur synchrone Darstellungen des Sozialsystems Literatur ermöglicht, indem die Austauschbeziehungen zwischen den einzelnen Subsystemen veranschaulicht werden. Auch auf den historischen Wandel kann das Modell angewendet werden. Sozialer Wandel stellt sich in der Systemtheorie als Prozess der Ausdifferenzierung von Systemen dar. Ebenso sind die Beziehungen zwischen den Subsystemen eines Sozialsystems wandelbar. Bei einer Untersuchung der historischen Veränderungen im System Sozialkultur zeigt sich, daß die Subsysteme Religion, Literatur, Kunst und Wissenschaft hinsichtlich der Wertbindung unterschiedliche Positionen einnehmen können. Während bis ins 18. Jahrhundert die Wertbindung als Interaktionsmedium in erster Linie vom Subsystem Religion bestimmt wird, kann hier ein Wandel beobachtet werden. Am Ende des 19. Jahrhunderts hat das Subsystem Literatur diese Funktionen übernommen. Das Modell kann damit strukturelle Veränderungen innerhalb der Gesellschaft deutlich machen, die als Wertewandel im Kultursystem zutage treten. (Wechsel, 452f.)

[...]

23. Cultural Materialism. Unter dem Einfluss von Raymond Williams und Terry Eagleton hat sich in Großbritannien eine als „Cultural Materialism“ bezeichnete marxistisch orientierte Variante von Greenblatts „Cultural Poetics“ herausggbildet. Mit den „New Historicists“ verbindet ihre Vertreter einerseits das Interesse an den Zusammenhängen zwischen staatlicher Macht und Kultur und andererseits die Konzentration auf das elisabethanische Zeitalter als Untersuchungsgegenstand. Im Unterschied zu ihren amerikanischen Kollegen steht für sie dabei die Frage nach den Möglichkeiten der Kritik und der Subversion von Macht im Zentrum ihrer Studien. (Wechsel, 457)

24. Da der „Cultural Materialism“ davon ausgeht, dass auch die Kultur einer Gesellschaft von ihren wirtschaftlichen Produktionsbedingungen bestimmt wird, können literarische Texte Aufschluss über die ideologisch geformten Herrschaftsverhältnisse einer Gesellschaft geben. Die herrschende Kultur stellt niemals die gesamte Kultur einer Gesellschaft dar, durch Abgrenzung bringt sie vielmehr Gegenkulturen hervor, die sie zugleich wieder in die Strukturen der Macht einbindet. Diesen Subkulturen gilt das Hauptinteresse des „Cultural Materialism“, wie es die zahlreichen Arbeiten über Homosexualität, Transsexualität, Feminismus und Kolonialismus belegen. Dollimore zeigt, wie die Subversionsbestrebungen marginalisierter Gruppen von der herrschenden Kultur für ihren Zweck nutzbar gemacht werden. Aber er nennt auch Beispiele für das Misslingen solcher Einbindungsstrategien. (Wechsel, 457)

25. Die Vertreter des „Cultural Materialism“ geben sich mit der Analyse von Machtstrukturen allein nicht zufrieden, sondern bestehen auf der Notwendigkeit von Subversion. Kritik hat die Aufgabe, die marginalisierten Stimmen einer Gesellschaft zu Gehör zu bringen, um deutlich zu machen, dass der Prozess der Einbindung in die Machtstrukturen keine Notwendigkeit darstellt.

Die Arbeiten des „Cultural Materialim“ reflektieren immer auch die eigene Verantwortung für das Sichtbarmachen dieser Kontingenz von Herrschaftsstrukturen. (Wechsel, 457f.)

26. Jamesons „Politisches Unbewußtes“. Auch der amerikanische Literaturwissenschaftler Fredric Jameson verbindet Marxismus und Diskurstheorie. In Das politische Unbewußte geht es Jameson, der einerseits in der Tradition des Hegelschen Marxismus Lukács’scher Prägung steht, andererseits von Louis Althussers strukturalistischer Lesart beeinflusst ist, um eine systematische Erneuerung des Marxismus. Ziel ist die Bewahrung einer sozialistischen Geschichtsutopie, ohne dabei die poststrukturalistische Auffassung von der Textualität der Wirklichkeit zu verwerfen. (Wechsel, 458)

27. Jameson greift auf die psychoanalytische Theorie Lacans mit ihrer Unterscheidung zwischen dem Realen und dem Symbolischen zurück. Das Reale erleben wir niemals unmittelbar, sondern immer bereits als durch das Symbolische strukturiert. Auf die Totalität der Geschichte übertragen heißt das für Jameson, Geschichte als „abwesende Ursache“ zu deuten. Nur in textualisierter Form ist ein Zugang möglich. Da die Wahrnehmung der Wirklichkeit jedoch stets eine kollektive, vom Diskurs der Klassen geprägte Deutung darstellt, sind Textualisierungen stets ideologisch geformt. Das politische Unbewusste, die Spuren der Klassendiskurse, an der Oberfläche der Texte sichtbar zu machen, ist laut Jameson  nur möglich, wenn der Marxismus als „absoluter Bezugshorizont“ der Interpretation begriffen wird. (Wechsel, 458)

28. In drei Interpretationsschritten wird der literarische Text auf sein gesellschaftliches Fundament hin untersucht. Den ersten Bezugsrahmen bildet die „politische Geschichte“. Geschichte wird in diesem Fall auf einen historischen Zeitpunkt bezogen. Die Interpretation klopft den Text zunächst auf Widersprüche, Brüche und Diskontinuitäten ab und stellt dann einen Zusammenhang zu seiner Entstehungszeit her. Entscheidend ist dabei, und hierin unterscheidet sich Jamesons Verfahren von der traditionellen Ideologiekritik, dass Literatur als „symbolische Handlung“ gedeutet wird. In der Realität existierende unüberwindliche gesellschaftliche Widersprüche finden (unbewusst) im literarischen Werk eine formale Lösung. (Wechsel, 458f.)

29. Im zweiten Schritt begibt sich Jameson auf die Ebene der Diskurse. Er bezeichnet diesen Deutungshorizont als „Gesellschaft“. Gesellschaft wird durch den antagonistischen Kampf zwischen oppositionellen Klassen bestimmt. Innerhalb des kollektiven Klassendiskurses stellt der literarische Text eine Äußerung dar, steht nicht autonom außerhalb des sozialen Diskurses. Die Textanalyse sucht auf dieser Ebene nach spezifischen „Ideologemen“, über die der gesellschaftliche Diskurs in den Text hineingetragen wird. Als Beispiel nennt Jameson die ethische binäre Opposition von Gut und Böse, die das Denken des westlichen Kulturraums auf fundamentale Weise geprägt hat. Als narratives Paradigma formt diese Opposition auch literarische Texte. Unabhängig von der eigentlichen Absicht des Autors wird somit durch die Übernahme traditioneller Erzählverfahren eine ideologische Botschaft in den Text transportiert. Formen und Gattungen haben folglich auf der Diskursebene eine strategische Funktion. (Wechsel, 459)

30, Den abschließenden Bezugsrahmen bildet das „Historische“, das Jameson als Spannungsfeld verschiedener Produktionsverhältnisse versteht. Eine Gesellschaftsformation wird stets durch das gleichzeitige Nebeneinander verschiedener wirtschaftlicher Produktionsweisen konstituiert: Einerseits wirken die Überbleibsel älterer Produktionsweisen weiter, andererseits verweisen antizipatorische Tendenzen bereits auf zukünftige Neuerungen. Dadurch ergeben sich Widersprüche, die als Konflikte im gesellschaftlichen und politischen Leben an die Oberfläche treten und einer ständigen „Kulturrevolution“ gleichkommen. Den literarischen Text deutet Jameson als Kraftfeld, in dem sich die Dynamiken der unterschiedlichen Produktionsweisen feststellen lassen. So kann das Nebeneinander unterschiedlicher Gattungen auf unterschiedliche Produktionsweisen verweisen. (Wechsel, 459f.)

31. Der Marxismus stellt für Jameson einen „nicht transzendierbaren“ Horizont dar, eine Totalität, an der er im Gegensatz zu den Vertretern des Poststrukturalismus festhält. Das utopische und emanzipatorische Moment seiner Theorie liegt in seinem Verständnis von Literatur als Symbol sozialen Handelns. Indem sie die gesellschaftlichen Widersprüche artikuliert, wird Literatur zum Ort des kulturellen Widerstands. (Wechsel, 460)

[...]

37. Zu den ‘literatursoziologischen’ und ‘materialistischen’ Ansätzen der 70er Jahre: Vielfach meinte die ‘materialistische’ Methode die Reduktion von Literatursoziologie auf den Versuch, jenes Gesellschaftliche im Text wiederzufinden, das sich nach der marxistischen Vorstellung dort ‘widerspiegelt’. Die Schwierigkeiten, die ‘Vermittlung’ von materieller ‘Basis’ und künstlerischem Werk (als Teil des ‘Überbaus’) konkret zu zeigen, führten zur Ausbildung von immer abstrakteren Vorstellungen von dieser ‘Widerspiegelung’. So galt es Georg Lukács als Kriterium großer Kunst, dass sie die Wirklichkeit ‘richtig’ widerspiegelt, d.h. ihr Wesen und ihre historische Tendenz. Sein strukturalistischer Nachfolger Lucien Goldmann bezog die Widerspiegelung nicht mehr auf Inhalte, sondern auf das Verhältnis von Gesellschaftsstruktur und literarischer Form und sah z.B. eine „Homologie zwischen der klassischen Romanstruktur und der Struktur des Tausches in der liberalen Wirtschaft“.

Eine andere Variante dieser Richtung fand gar die Gesellschaftlichkeit der Literatur schon darin, dass sie sich auf Autoren und Texte konzentrierte, deren politisches Engagement – möglichst im ‘richtigen’ Sinn – offensichtlich war, so als sei die Beschäftigung mit sozial engagierter Literatur bereits Literatursoziologie.

Der Schaden, den diese doktrinäre Verengung hinterlassen hat, besteht in der Gefahr, dass sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft überhaupt mit jenen in den 70er Jahren dominierenden Ansätzen identifiziert wird. (Schön, 606f.)

38. Ihre methodische Selbstgewissheit bezog die materialistische Position aus ihrer Polemik gegen die empirische Literatursoziologie, der sie dabei aber oft gar nicht gerecht werden wollte, die sie vielmehr verengend auf positivistische Positionen festlegte. Gewiss war die empirische Literatursoziologie zunächst geprägt von den Positionen Alphons Silbermanns („Daher bleiben Aussagen über das Kunstwerk selbst und seine Struktur außerhalb kunstsoziologischer Betrachtungen“) und Hans Norbert Fügens („Indem die Literatursoziologie das literarische Werk nicht als künstlerisches, sondern als soziales Phänomen betrachtet, fällt für sie die Möglichkeit der ästhetischen Wertung fort“). Die positivistische empirische Literatursoziologie verstand sich als „Zweig der Soziologie, der erstens [Literatur] als Objektivation sozialen Verhaltens und sozialer Erfahrung untersucht und zweitens sich in seinem Erkenntnisinteresse auf ein zwischenmenschliches Verhalten richtet, das die Herstellung, Tradition, Diffusion und Rezeption fiktionalen Schrifttums und seiner Inhalte betreibt“ (Fügen 1968, 19). Sie erlaubte damit aber sowohl den Anschluss an die ältere, an Institutionen orientierte Beschäftigung mit dem „literarischen Leben“ wie die Nutzung ihrer Ergebnisse für eine methodologisch avanciertere „Soziologie des literarischen Lebens“ im Anschluss an geistes- und kulturgeschichtliche, wissens- und religionssoziologische Forschungen, bis hin zu den aktuellen, von der Systemtheorie geprägten Ansätzen. (Schön, 607)

39. Literaturgeschichte als Sozialgeschichte. Dass Literaturgeschichte als Sozialgeschichte geschrieben werden könne und solle, war einmal Programm: Was an den Werken und am literarhistorischen Prozess erklärungsbedürftig sei, sollte durch den Rekurs aufs Soziale erklärt werden. Das heißt auch: andere Dimensionen seien zu vernachlässigen.

Da nun aber im jeweiligen historischen Moment unter vergleichbaren, oft denselben sozialen Dispositionen sehr verschiedene Werke entstehen, die von der Literaturwissenschaft gegeneinander zu profilieren wären, wurde bald offenbar, dass eben dies mit der Rückführung des Werks auf ein soziales Substrat seiner Genese nicht zu leisten ist. Die diesem Paradigma verpflichteten Literaturgeschichten führen es vor: Abgetrennt vorab-behandelt wird die sozialgeschichtliche Situation, z.B. durch Darstellung der allgemeinen politischen Situation, der Institutionen des sozialen Lebens oder anderer literatursoziologischer Fakten. Den Zusammenhang zu den später behandelten literarischen Werken herzustellen bleibt meist der Phantasie des Lesers überlassen; die Kritik nannte es Buchbindersynthese. (Schön, 609)

40. Gattungen, wie es in diesen Unternehmungen geschieht, zum Ordnungsprinzip der Literaturgeschichte machen, setzt voraus, was erst noch zu zeigen wäre: dass sich die Geschichte der Literatur als Geschichte von Gattungen entwickelt. Diese Prämisse verwischt gattungsübergreifende Zusammenhänge, wie sie z.B. für eine biographisch orientierte Analyse offenkundig sind, bearbeiten doch viele Autoren einen Stoff durch mehrere Gattungen hindurch. Eine problemorientierte Analyse wird durch die Departementalisierung nach Gattungen geradezu blind gemacht. So werden z.B. die engen Zusammenhänge zwischen Roman und Drama im 18. Jahrhundert durch die nach Gattungen strukturierte Literaturgeschichtsschreibung verschüttet. (Schön, 609)

41. Die zentralen Probleme dieses Konzepts von Literaturgeschichte stehen in engem Zusammenhang miteinander. Da ist zunächst das Problem der Vermittlung von dem stets nur allgemein zu fassenden sozialhistorischen Hintergrund ins einzelne Werk. Weder die Theorien der ‘Widerspiegelung’ noch solche, bei denen – wie hier – die Institutionen der literarischen Produktion und Rezeption mit den Werken zunächst über die Kategorie der Öffentlichkeit und dann über das System der Gattungen vermittelt werden, erklären ja, wie ein bestimmter Werk in seiner Besonderheit zustande kommt. Hier sind vielmehr lange Erklärungsketten notwendig.  (Schön, 609)

42. Das zweite Problem ist der Universalitätsanspruch dieses Konzepts von Literaturgeschichte. Die Probleme, die beim Versuch entstehen müssen, alle literarischen Fakten in der einen Dimension des Sozialen zu erklären, haben ihre Ursache im Konzept der Literaturgeschichte, den Zusammenhang der Werke unter ein Prinzip zu organisieren. Zu fragen ist, welche Vorstellung von Geschichte hinter dem Versuch steht, überhaupt irgend ein Prinzip für den historischen Zusammenhang als strukturstiftend anzunehmen. (Schön, 610)

43. Beide Probleme lösen sich auf in einem übergreifenden dritten: Es liegt darin, dass die vorliegenden Unternehmungen letztlich doch immer die Perspektive auf Texte haben, und dabei auf den Versuch, diese Texte zu verstehen. Nur von dieser Perspektive her erklärt sich ja auch der Versuch, alle Texte in der Kohärenz einer Literaturgeschichte zu integrieren. Diese Reduktion des Interesses offenbart die Inkonsequenz, ja Widersprüchlichkeit des gesamten Unternehmens: Wenn die dargestellten sozialhistorischen Gegebenheiten danach selektiert werden, was als geeignet erscheint zum Verstehen der Texte, dann ist ein wirklich sozialhistorisches Interesse nur sehr begrenzt vorhanden. Die Sozialgeschichte ist hier nur Instrument, nur Hilfswissenschaft zur Verfolgung eines anderen, jedenfalls nicht sozialgeschichtlichen Interesses.

Zu diesem Widerspruch trug sicher mit bei, dass diese Unternehmungen sich zugleich an der damals aktuellen Rezeptionsästhetik orientieren wollten – vielleicht ohne die Konsequenzen zu sehen. Ein Verständnis von Literaturwissenschaft etwa im Sinne der Formel Isers: Literaturwissenschaft sei eine Wissenschaft von Texten (und sonst von nichts), musste von vornherein eine sozialhistorische Orientierung konterkarieren. (Schön 610f.)

44. Sozialgeschichtliche Interpretation. Sozialgeschichtliche Interpretation bedeutet nicht, dass beansprucht wird, alle Texte oder literarischen Phänomene könnten durch die Rückbindung an ihre soziale Situation besser verstanden werden. Sie ging ursprünglich aus von der Position des jungen Lukács: „Das wirklich Soziale [aber] in der Literatur ist: die Form“, von der Ästhetik der Kritischen Theorie und von der Ideologiekritik. In funktionsgeschichtlicher Perspektive besteht sie darauf, dass es Texte gibt, die zentral von da her zu verstehen sind, dass sie auf bestimmte sozialhistorische Probleme antworten. Dies ist nicht im Sinne einer Widerspiegelung oder Wiedergabe sozialer Fakten gemeint, sondern so, dass diese Texte sozialhistorische Probleme auf eine Weise darstellen, wie sie nur im Medium der Literatur möglich ist. (Schön, 611)

45. Als Beispiel eine Interpretation von Heinrich L. Wagners Trauerspiel Die Kindsmörderin. Nach Heinz-Dieter Weber verschränken sich hier literarische und sozialgeschichtliche Entwicklung: Mit der Thematisierung des Kindsmordes in der Form des Trauerspiels verbindet sich die neue gesellschaftliche Sicht des Kindsmordes als einer Handlung von tragischer Qualität. Dabei ist Wagners Drama gerade keine sozialgeschichtliche Studie über das Elend der

wirklichen Kindesmörderinnen. Es geht vielmehr um ein ästhetisches Problem: Gibt der Fall einer Kindsmörderin in literarischer Behandlung nur eine traurige Geschichte ab, oder eignet er sich als tragisches Paradigma? Letzteres hätte, im Verständnis des Begriffs seit dem 18. Jahrhundert, die Kollision gegensätzlicher Normen, für die es keine Lösung gibt, also den unvermeidbaren Konflikt je für sich berechtigter oder gar notwendiger, aber unvereinbarer Alternativen zum poetischen Prinzip.

Schon bevor Wagner die Situation der Kindsmörderin als tragische literarisch behandelte, bereitete sich ihre gesellschaftliche Neuinterpretation als tragisch in der juristischen Diskussion seit der Jahrhundertmitte vor. Mehr und mehr sah man nicht nur die kriminelle Schuld und das soziale Unglück, sondern erblickte in der sozialen Ausweglosigkeit der betroffenen Frauen einen unausweichlichen Konflikt. Dabei war es Funktion dieser gesellschaftlichen Neuinterpretation, als tragisch verstehbar zu machen, was vorher bloß grässlicher, unverständlicher Mord war. Die literarischen Figuren Evchen oder Goethes Gretchen vertauschen bezeichnenderweise das unterbürgerliche Milieu ihrer prosaischen Vorbilder mit dem bürgerlichen und betonen so den Schritt vom sozialen Mitleid zum tragischen Konflikt. (Schön, 611f.)

46. Literaturwissenschaft in sozialgeschichtlichem Interesse. Die konsequenteste sozialhistorische Orientierung liegt darin, synchronisch wie historisch Literaturwissenschaft in sozialgeschichtlichem Interesse zu betreiben. Das heißt vor allem nach der Rolle zu fragen, die Literatur im Leben der Menschen spielte und spielt. Zentral ist, dass dieses Vorgehen Ernst macht mit der Einsicht, dass der ‘Text’ als bloß materielle Zeichengestalt bedeutungsleer ist und erst als Resultat der in der Rezeoption vorgenommenen Bedeutungskompletion zum ‘Werk’ wird. Oder vereinfacht: Erst im Umgang lebendiger Menschen mit Literatur hört diese auf, bloß bedrucktes Papier zu sein. Literaturwissenschaft in sozialhistorischem Interesse hat zum Gegenstand nicht die Literatur in der Potentialität des Textes, sondern als rezipierte; oder entsprechend, mit Blick auf die Genese, als produzierte. Diese Disziplin fällt also – unter Einbezug von Formen der Mündlichkeit – weithin zusammen mit der ‘Sozialgeschichte des Lesens’ oder allgemeiner des Rezipierens; das Lesen ist ja nur seine vom Medium Manuskript, Buch, Zeitschrift etc. bestimmte Form. Andere Medien (und damit Rezeptionsformen) sind ebenso zu betrachten, z.B. Theater, Film, elektronische Medien. (Schön, 613)

47. Damit stehen die Menschen im Mittelpunkt des Interesses, weniger die Texte. Alle rezeptionsästhetischen Konstruktionen, um funktionsgeschichtliche Aussagen allein aus den Texten heraus zu treffen, sind durch historisch-empirische Befunde stets leicht als spekulative Spielereien zu erweisen. Wichtig ist deshalb, keine begrifflichen und methodischen Verwischungen zu gestatten, am wenigsten solche, die dazu führen könnten, die sozialgeschichtliche Rekonstruktion auf ein textinterpretatives Verfahren zu reduzieren. (Schön, 613)

48. Die Abgrenzung von der positivistischen Literatursoziologie mit ihrer Beschränkung auf das manifeste Verhalten der am literarischen Prozess Beteiligten ist dabei eindeutig. Der Literaturwissenschaft in sozialgeschichtlichem Interesse geht es um die Begegnung der Menschen mit der Literatur, damit auch und gerade um die Funktion des (von der positivistischen Literatursoziologie ausgeklammerten) literarischen bzw. ästhetischen Objekts. Aber eben dieses erhält erst Realität durch die Rezeption, in der allein der Mensch aktives Subjekt und der Text nur passives Objekt sein kann. (Schön. 614)

49. Für die Frage nach der historisch-empirischen Funktion der Literatur ist ein kontrolliertes Verständnis des Textsinns notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung. Es geht darum, wie Literatur dazu diente, sich gesellschaftlich über ein Problem zu verständigen; sich im Schreiben und in der Rezeption daran abzuarbeiten und so das Problem zu bewältigen. Dazu können – im ‘materialistischen’ Jaargon gesprochen – ‘falsche’ Widerspiegelungen ebenso dienlich sein wie ‘richtige’; und andererseits den Lesern ‘falsche’ Rezeptionen ebenso nützlich wie ‘richtige’. Das meint aber nicht den Verzicht auf diese Unterscheidung: Gerade die Abweichung von der richtigen Bedeutung, als Autorintention, als hermeneutisch ermittelter Textsinn etc. ist aufschlussreich. Dass derart der Sinn der Texte nicht der rezeptionsästhetischen Beliebigkeit überlassen, sondern auf einem wie auch immer feststellbaren Sinn insistiert wird, bedeutet nur nicht, dass diese Sozialgeschichte der Literatur nach immer neuem Sinn der Texte fragt, ihr Verstehen in hermeneutischem Fortschritt optimieren will. Vielmehr ist dieses Verstehen nur Instrument, nur Hilfsmittel für die Erfassung der historisch-empirischen Funktion der Werke. Die Funktion der Literatur für die Rezipienten ist nicht gebunden an ihr ‘richtiges’, d.h. dem Textsinn adäquates Verstehen, sondern steht dazu in einem komplizierten Verhältnis: Auch ein textdeformierendes Verstehen kann für die ja stets als Bedürfnissubjekte zu denkenden Rezipienten funktional sein. Deshalb ist die sozialhistorische Erklärung nicht daran zu messen, ob sie zum Verstehen des Textsinns beiträgt. Wo es möglich ist, ist selbstverständlich eine Verbindung mit der sozialhistorischen Interpretation sinnvoll. (Schön, 614f.)

50. Der Universalitätsanspruch der ‘Literaturgeschichte als Sozialgeschichte’ kann hier nicht aufkommen. Was die Zeitgenossen gar nicht rezipierten, muss man nicht unter Bezug auf deren sozialhistorische Befindlichkeit erklären wollen. Das trifft auf manche Werke des „Sturm und Drang“ zu, die erst ein Jahrhundert später aus literarhistorischem bzw. historistischem Interesse aufgeführt wurden.

Dass derart den populären Werken besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, heißt nicht, die Zustimmung der Zeitgenossen zu der Instanz zu machen, die den Wert der literarischen Werke bestimmt: Sind doch so auch Defizite eines gesellschaftlichen Zustandes konstatierbar, ja sogar seine Pathologie. (Schön, 615)

51. Die Beschreibung der ‘Realität der Literatur’, des Umgangs der Menschen mit ihr und der Rolle, die sie für sie spielt, kann sich nicht beschränken auf die kognitive Ebene. Wer ‘Rezeption’ intellektualistisch verkürzt auf richtiges oder falsches ‘Sinnverstehen’, dem ist offenbar die Erfahrung verlorengegangen, dass das Lesen eines literarischen Textes seine Funktion darin hat, für den Leser ein bestimmtes Lektüreerlebnis zustande kommen zu lassen. Real, d.h. zum sozialen Faktum, wird Literatur gerade dadurch, dass sie ästhetisch erfahren wird; darin gehen Momente wie Lust, Sinnlichkeit, Vergnügen, Betroffenheit oder Beteiligung am Text ein. (Schön, 615)

52. Beispiel für diese Art des Arbeitens. Die Romane des späten 18. Jahrhunderts werden überwiegend von Frauen gelesen. Fast alle Beteiligten wissen dies sehr wohl. Aber mit wenigen Ausnahmen verdrängen sie es: Die textorientierte Literaturwissenschaft lebt mit der unzutreffenden Fiktion eines geschlechtsneutralen Lesers, einer geschlechtsneutralen Literatur.

Die sozialhistorische Situation erklärt sich aus ihrer historischen Genese: dass sich mit der Entwicklung des modernen Bürgertums auch die moderne Differenzierung der Geschlechtscharaktere ausbildete und dass dies eine für Männer und Frauen verschiedene materielle und geistige Lebenssituation zur Folge hatte. Diese ist sozialgeschichtlich spezifisch für Frauen zu beschreiben, lektürebezogen z.B. über das Vorhandensein der zum Lesen nötigen materiellen Mittel und der zeitlichen Positionierung der Lesesituation. Darüber hinaus ergeben die Restriktion in den  realen Handlungsmöglichkeiten sowie die in ihrer Spezifik neue Geschlechtsrolle als Hausfrau, Gattin und Mutter eine eigene Bedürfnisstruktur. In ihr entstehen aus Defiziten in der weiblichen Rolle, also der Konzentration auf die neuen Aufgaben in der familiären Emotions- und Beziehungsarbeit bestimmte Anforderungen an die Lektüre, die mit für die Dominanz des Familienromans mit einer zentralen Liebeshandlung ursächlich sind. (Schön, 616)

53. Die Leserin erhält für ihre Bedürfnissituation im Lesen und durch die Anwendung bestimmter Rezeptionsmuster bestimmte Gratifikationen. Diese liegen in der Teilhabe an Handlungszusammenhängen, in der Möglichkeit zu affektiven Beziehungen zu fiktiven Figuren, im projektiven Agieren in einer Rolle mit anderen Handlungsmöglichkeiten oder in empathischer Erfahrung und der Übernahme fremder affektiver Zustände.

Die qualitativen Merkmale weiblichen Lesens, etwa die Dominanz des stofflichen Interesses, gründen im 18. Jahrhundert in der literatursoziologischen Situation. Sie entsprechen zudem der geringeren formalen Bildung der Frauen. Die qualitativen Merkmale des weiblichen, lustbetonten Lesens werden dann im 19. Jahrhundert als feste weibliche Eigenschaften angesehen (Schön, 616f.)

54. Das Beispiel zeigt. dass Literaturwissenschaft in sozialgeschichtlichem Interesse zwangsläufig auf die Frage stößt, was die Bedingungen sind für die Lesekultur sozialer Gruppen in bestimmten historischen Situationen wie für literarische Kultur überhaupt. Eines ihrer genuinen Arbeitsfelder ist deshalb auch die Erforschung der literarischen Sozialisation. (Schön, 617)

55. Aus sozialgeschichtlicher Perspektive ist Literatur ein Ergebnis menschlichen Handelns im Laufe der Geschichte. Produktion und Rezeption von literarischen Texten sowie alle anderen mit ihnen verbundenen Interaktionen und Ereignisse werden in ihren sozialen Kontexten betrachtet. Literatur wird als soziale Praxis verstanden. Dabei wird nicht behauptet, aus den Handlungszusammenhängen verschiedenster Zeitalter ließen sich die jeweiligen literarisch-künstlerischen Phänomene ableiten: Sozialgeschichte geht nicht von einer Determiniertheit der Literatur aus. Die relative Autonomie der Literatur bleibt unbestritten.

Literatur als Ausdruck der kulturellen und sozialen Verfasstheit einer Gesellschaft und gleichzeitig als Mittel ihrer Strukturierung erfordert jedoch eine andere wissenschaftliche Annäherung als über die überzeitliche Wahrheit des Schönen. An die Stelle des traditionellen einfühlenden Verstehens in das einzelne Werk tritt ein erklärendes Forschungsinteresse, das sich zwar hermeneutischer Verfahren bedient, diese und andere aber anwendet, um Position und Funktion literarischer Texte, literarischen Handelns und literarischer Institutionen in gesellschaftlichen Kontexten zu beschreiben und aus dieser Beschreibung heraus zu erklären. (Zens, 201)

56. Mit diesen Positionen ist – zumindest in der Anfangsphase – eine wissenschaftspolitische Strategie verbunden: wissenschaftliche Forschung sollte Ende der 1960er Jahre zur kritischen Erkenntnis der Gesellschaft beitragen, Literaturwissenschaft als ideologiekritische Wissenschaft die Funktion von Literatur in historischen und gegenwärtigen sozialen Strukturen aufdecken. Sozialgeschichte der Literatur ist unter anderem Ergebnis und Katalysator dieser Neuorientierung.

Für den Objektbereich bedeutet die wissenschaftliche Entmythisierung des in sich geschlossenen ‘Sprachkunstwerks’ die Einsicht in den Konstruktionscharakter eines jeden Literaturbegriffs und damit auch die Möglichkeit der Erweiterung traditioneller Vorstellungen von Literatur. Zu den neuen Themen gehören zum Beispiel Trivialliteraturforschung, massenkulturelle Phänomene oder das kreative und vergesellschaftete Potential neuer Medien (und auch der schon älteren, wie Fernsehen und Film). (Zens, 201)

57. Die Neuorientierung geht auch einher mit Blicken über den disziplinären Tellerrand. Im Vordergrund steht die Frage, was die Literaturwissenschaft an Wissen und Methoden aus anderen Fachbereichen importieren kann.

Für eine Sozialgeschichte der Literatur richtet sich das erwachte interdisziplinäre Interesse in erster Linie auf die Geschichts- und Sozialwissenschaften. Geschichtswissenschaft, die sich als Sozialgeschichte versteht, sieht ihren Erkenntnisbereich im geschichtlichen Wandel gesellschaftlicher Strukturen. Sie grenzt sich ab von der als einseitig empfundenen Politischen Geschichte, die als Ereignisgeschichte und ‘Geschichte großer Männer’ in Deutschland bis in die Nachkriegszeit vorherrschte und auch heure ihre Vertreter hat. Sozialgeschichte geht es um eine Erweiterung ihres Gegenstandsbereichs und um einen veränderten Zugriff. (Zens, 202)

58. In der Bundesrepublik hat sich die Sozialgeschichte in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich etabliert, wobei das reformfreundlichere Klima der 1960er und -70er Jahre auch hier eine Neuorientierung befördert hat.

Ein wichtiger Anstoß geht von der französischen Schule der Annales aus, die bereits in den 1930er Jahren eine analytische Strukturgeschichte der ‘longue durée’ konzipiert hatte, sich quantifizierender Methoden bediente und Interdisziplinarität zum Forschungsprogramm erhob. Der Wirtschaftsgeschichte, Sozialgeschichte und der Geschichte der Mentalitäten sollte Einfluss verschafft werden. Nach 1945 hat die Annales-Gruppe die Geschichtswissenschaft über die Grenzen Frankreichs hinaus entscheidend geprägt. (Zens, 202)

59. Die Hermeneutik des Sinnverstehens reicht nicht aus, um auch das zu erfassen, was ‘hinter dem Rücken der Akteure’ vorgeht. Rollen, Institutionen und Funktionen müssen beschrieben und erklärt werden. Daten, die wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Zusammenhänge erschließen, müssen erhoben, strukturiert und analysiert werden. Hier bieten sich die analytischen Verfahren der Sozialwissenschaften dem Projekt einer Historischen Sozialwissenschaft an.

Die interdisziplinäre Ausrichtung der Sozialgeschichte äußert sich in der Konvergenz von Geschichtswissenschaft und Sozialwissenschaften. Während in der historistischen Geschichtsschreibung die ideographische Beschreibung des besonderen Ereignisses im Vordergrund stand, sind es nun die strukturellen Bedingungen des Ereignisses. Strukturen aber können nicht erzählt werden. Die narrative Darstellung historischen Geschehens tritt hinter die Rekonstruktion historischer Sachverhalte und ihre Explikation anhand von Modellen zurück. (Zens, 203)

[...]

72. Die Kritische Literaturwissenschaft suchte in den 1970er Jahren den politisch-emanzipatorischen Anspruch der sozialwissenschaftlichen Frankfurter Schule in der Literaturwissenschaft zu verankern. Sie beruft sich in erster Linie auf die

literatursoziologischen und ästhetischen Arbeiten von Georg Lukács, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Walter Benjamin und möchte diese aufgrund aktueller sozialhistorischer und soziologischer Erkenntnisse prüfen und modifizieren. Ein wichtiger Vertreter dieser Richtung ist Peter Bürger. Seine Arbeiten und die vieler anderer sind Jürgen Habermas verpflichtet. (Baasner, 177)

73. Kritische Wissenschaft geht von einer Geschichtsphilosophie und einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft aus und versucht, menschliches Handeln innerhalb sozioökonomischer, historisch sich wandelnder Rahmenbedingungen zu verstehen und zu erklären. Sie verfährt hermeneutisch, insofern sie Sinnverstehen als konstitutiv für die Theoriebildung ansieht und nicht nur als heuristisches Hilfsmittel. Im Gegensatz zur philosophischen Hermeneutik geht sie jedoch von der Möglichkeit der Methodisierung von Verstehenshandlungen aus. Während sich die Universalhermeneutik im subjektiven Verstehen traditionaler Sinnhorizonte gründet, möchte die Kritische Theorie objektivierende Verfahren bereitstellen, die die Abhängigkeit der Ideen und Interpretationen von den Interessenlagen der gesellschaftlichen Wirklichkeit erschließen. Erklärungsbedürftig sind dann nicht nur die von einzelnen geäußerten Ideen, sondern auch die Bedingungen, unter denen individuelles Handeln stattfindet. (Baasner, 177f.)

74. Theorie der Literatur bedeutet für Bürger in diesem Rahmen nicht Theorie des literarischen Werks, sondern Kulturtheorie. Als umfassendes Konzept schlägt er die Kategorie der Institution Kunst vor, mit deren Hilfe die ‘Produkte des Geistes’ in ideologiekritischer Absicht auf die sozialen und ökonomischen Verhältnisse bezogen werden sollen. Literatur wird als Produkt (nicht: Abbild) dieser Verhältnisse verstanden, wobei die Vorstellungen über Kunst Auskunft geben über die spezifische Gesellschaftsformation und die soziale Funktion, die Kunst in dieser zugewiesen wird. Als Ausdruck realer Verhältnisse kann auch Literatur in letzter Instanz auf Produktionsverhältnisse zurückgeführt werden, und zwar unabhängig davon, wie mimetisch oder realistisch das einzelne Werk ist.

Die funktionsanalytische Perspektive erlaubt, die Institution Literatur in eine kritische Gesellschaftstheorie einzuordnen. Ideologiekritische Literaturwissenschaft widersetzt sich auch dem Vorwurf, sie vernachlässige ‘das Eigentliche’ der Literatur: das Schöne ist nicht mehr das überzeitlich gültige Kunstschöne, sondern die historisch zu bestimmende Ästhetik, der Kunstbegriff, der selbst zum Gegenstand der Forschung wird, statt sie normativ zu orientieren. (Baasner, 178)

75. Im Gegensatz zur marxistisch-leninistischen Literaturwissenschaft rekurriert Bürger mit seinem ideologiekritischen Konzept nicht auf Marx’ und Engels’ Urteile über literarische Texte und zeitgenössische Autoren, sondern auf die kulturtheoretischen Überlegungen des jungen Marx. Ideologie drückt demnach Wahrheit aus und zugleich Täuschung über diese Wahrheit; sie ist zudem politisch funktional.

Im Anschluss an H. Marcuse überträgt Bürger das Marxsche Modell der Ideologiekritik auf literarische Texte. Ideologiekritik umfasst das Verhältnis von ideologischem Objekt und Gesellschaft als eines von Produkt zu Produktionsvoraussetzungen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind in vermittelter Form in das Produkt eingeschrieben, und zwar als Relation von funktionalem Teilbereich zur gesellschaftlichen Totalität. Die Voraussetzung der Funktionalität von Literatur in der bürgerlichen Gesellschaft ist gerade ihr Autonomiestatus. (Baasner, 178f.)

76. Bürger geht davon aus, dass Kultur als tatsächliche Handlung der Forschung nicht zugänglich ist. Dann muss Kunst über die herrschende Kunstideologie erschlossen werden. Deren ideologischer Charakter kann zweierlei verdecken: den wirklichen Umgang mit Literatur und die Nichteinlösung des Anspruchs auf Humanität in der wirklichen Welt. Bürger thematisiert aber nicht das Verdeckte, sondern ausschließlich das Verdeckende: die Widerspruchsstruktur der funktionalen Funktionslosigkeit der Literatur. Andere Indikatoren, die über den wirklichen Umgang mit Literatur Auskunft geben könnten (z.B. Lesepräferenzen, Verlage) werden von Bürger aus der unmittelbaren Betrachtung ausgeschlossen. Er nimmt z.B. an, dass die Instanzen des Vertriebs und der Vermittlung von Literatur sich dem jeweiligen Status von Kunst entsprechend ausbilden. (Baasner, 179)

77. Für Bürger bedeutet Institution Kunst die gesellschaftliche Funktionsbestimmung von Kunst und Literatur, die normative Positionierung literarischer Objektivationen innerhalb einer Gesellschaft. Das individuelle Kunstprodukt ist aber durchaus in der Lage, die Einsinnigkeit der institutionalisierten Kunstvorstellung zu durchbrechen. Seine Erkenntnisleistung ist weder auf die Epoche seines Entstehens noch den Standpunkt des Verfassers beschränkt. Der literarische Versuch, das eigene Sein reflektierend zu überschreiten, wird über die Entstehungszeit hinaus rezipiert. Die ‘utopische Dimension’ des Kunstwerks erweist sich gerade in der Konfrontation mit den tatsächlichen Verhältnissen seiner und folgender Zeitumstände. (Baasner, 180)

78. Als Vermittlungsinstanzen sollen die Begriffe der Norm und des Materials die gewünschte Interaktion von Einzelwerkanalyse und theoretischem Rahmen leisten. Bürger unterstellt nicht, dass das einzelne Werk durch die institutionellen Vorgaben des herrschenden Kunstbegriffs restlos determiniert sei. Auch wenn die institutionelle Funktion von Literatur die Produktion und Rezeption bestimmt, so ist sie doch nicht im einzelnen Werk unmittelbar auffindbar.

Die explizite, auf die Wirklichkeit bezogene Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen bedeutet die Konfrontation mit dem Kunstideal der Autonomie. Politisch kann die Kunst erst werden, wenn sie es nicht sein soll.

Unterhalb der Ebene des Autonomiepostulats liegt der Vorzug des Materialbegriffs darin, den Zusammenhang von Kunst und Gesamtgesellschaft an im Werk auffindbaren Merkmalen nachweisen zu können. Material wird als der im Kunstwerk vergegenständlichte Stand künstlerischer Formen begriffen. Bürger unterstreicht, dass neben der Form auch der Inhalt erfasst sein müsse.  (Baasner, 180f.)

79. Das emanzipatorische Programm der Kritischen Literaturwissenschaft beruft sich u.a. auf die Schriften Walter Benjamins. Bürger sieht jedoch in seinem Ansatz das umfassendere Konzept, das sowohl die im Kunstwerk geleistete Wirklichkeitserkenntnis als auch seinen Ausdruckscharakter erschließe. Der Wahrheitsgehalt literarischer Werke, ihre Humanität, wird nicht in der literaturkritischen Konfrontation von Text und Realität gesucht, sondern in der Totalität des Werks selbst. Der Autor wird nicht als Seismograph der geistigen Verfasstheit seiner Zeit, sondern als gesellschaftlich handelndes Subjekt verstanden, dessen Wirklichkeitserkenntnis durch seinen sozialen Standort begrenzt ist.

Als Frage bleibt letztlich, was es zu bewahren gilt, was ‘tote Habe’ und was ‘lebendiges Kulturgut’ ist. Tradition wird als gemachte erkannt. Das in der Wirkungsgeschichte konstruierte Kontinuum literarischer Entwicklung soll aufgebrochen und Platz geschaffen werden für das, was die apologetische Kritik nicht zur Kenntnis nimmt. (Baasner, 181f.)

80. Die sozialgeschichtliche Methode fasst die Literatur unter mehr oder minder strenger Anwendung des marxistischen Basis-Überbau-Schemas primär als einen Schauplatz symbolischer Auseinandersetzungen zwischen gegnerischen Klassen oder Gesellschaftsschichten auf. Politisch-ethische Stellungnahmen werden von Vertretern dieser Richtung für unvermeidlich und unverzichtbar gehalten. Literarische Werke werden demzufolge explizit beurteilt und je nachdem als progressiv oder reaktionär eingestuft. Reaktionäre Werke werden einer enthüllenden Ideologiekritik unterzogen, die häufig den marxistischen Satz bestätigt, daß die herrschende Meinung die Meinung der Herrschenden sei. Progressive Werke werden demgegenüber für ihr Engagement zugunsten ausgebeuteter, marginalisierter oder sonstwie unterdrückter Personengruppen gelobt. (Schneider, 219f.)

81. Gab es hierbei ursprünglich relativ klare Frontverläufe, bei denen ‘Reaktionäre’ wie Goethe, Eichendorff oder Fontane ‘Progressiven’ wie Heine, Büchner oder Tucholsky gegenübergestellt wurden, so brachte die Weiterentwicklung der sozialgeschichtlichen Untersuchungsmethode in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine deutliche Verfeinerung der Beurteilungskriterien mit sich. So entdeckte Georg Lukács in den Werken von Goethe und Thomas Mann Elemente einer entlarvenden Wirklichkeitsdarstellung, der diese Autoren unverhofft zu respektablen Ahnherren des sozialistischen Realismus aufsteigen ließ. Und Theodor W. Adorno rehabilitierte umgekehrt einige bis dahin von den Linken als unengagierte Formkünstler geschmähte Autoren wie George oder Beckett, in deren ontologischer und semiotischer Emanzipation er eine provokante Kommunikationsverweigerung und einen gezielten Protest gegen Nützlichkeitsdenken und kapitalistische Konsumhaltung erblickte. Adorno öffnete damit den Blick für jene Formen des Engagements, die sich nicht inhaltlich, sondern auf subtilere Weise durch die formale Gestaltung von Texten äußern. Er trug wesentlich dazu bei, dass auch solche Literaturwissenschaftler für die sozialgeschichtliche Methode gewonnen werden konnten, die vor explizitem politischem Engagement zurückschreckten und die sich selbst keineswegs als Marxisten verstanden. (Schneider, 220)

82. Nach der Auflösung der Studentenbewegung wurde dieser Trend noch verstärkt, und seit der politischen Wende von 1989 gibt es nur noch wenige Literaturwissenschaftler, die sich ausdrücklich zum Marxismus bekennen. Die Konzepte von Lukács und Adorno hatten jedoch rechtzeitig den Weg hin zu moderateren Formen der Sozialgeschichte gebahnt, so dass heute noch keineswegs von einem Niedergang dieses Ansatzes gesprochen werden kann. Methodologisch ist es jedoch ein Problem, dass hierbei häufig nicht klar zu erkennen ist, für wie eng oder lose die Relation zwischen ökonomisch-gesellschaftlicher Basis und kulturellem Überbau im einzelnen gehalten wird. Nicht selten kommt es so zu einem rätselhaften Nebeneinander von wirtschafts-, gesellschafts- oder auch technikgeschichtlichen Hintergrund-Fakten und literaturgeschichtlichen Einzelanalysen und -interpretationen, ohne daß deutlich ausgesprochen wird, was die Einkommenssituation der schlesischen Textilarbeiter mit Heines Lyrik oder der Ausbau des Eisenbahnnetzes mit Fontanes Balladen konkret zu tun hat.  (Schneider, 220f.)

83. Das bleibende forschungsgeschichtliche Verdienst der sozialgeschichtlichen Methode liegt unstrittig darin, dass sie am Thron der kanonisierten, manchmal sogar im Sinne eines Starkults für Gebildete verehrten Klassiker rüttelte, dass sie politisch verfemte Autoren rehabilitierte und dass sie den Literaturbegriff zumindest auf die Trivialliteratur ausdehnte. Aufgrund der Innovationen Adornos lässt sich heute auch nicht mehr behaupten, dass die Sozialgeschichtler zu inhaltsbezogen argumentieren und kein Verständnis für künstlerische Gestaltungstechniken, ästhetische Qualität und ontologische oder semiotische Emanzipation besitzen. Die sozialgeschichtliche Methode ist also auch heute noch de facto weit verbreitet und trägt trotz gewisser theoretischer Defizite ganz wesentlich zum inhaltlichen Verständnis vieler Texte und des Prozesses der literarischen Kommunikation in seiner geschichtlichen Entwicklung bei. (Schneider, 221)

84. Literarische Texte bilden Schnittpunkte ganz verschiedener Diskurse. Sie verbinden Meinungen und Überzeugungen, Absichten und Wünsche, Redeweisen und Sprechformen, zu denen auch die nonverbalen Sprachen wie Körpersprache, Gestik u.ä. zu rechnen sind. Alle diese Elemente verweisen auf  Diskurse unterschiedlichster Art, in die sie eingebunden sind, auf die sie sich beziehen und die ihnen auch die Regeln und Deutungsschemata der jeweils spezifischen Deutungen von Welt vorgeben. Bei der Interpretation des literarischen Textes ist diese Vernetzung in die einzelnen Diskurse zu berücksichtigen: Sie verfährt in dem Sinne historisch, als das Material, das im Text montiert ist, aus unterschiedlichen Sichtweisen und Bewertungen historischer und sozialer Realität erwächst. Dabei liegt es auf der Hand, dass die Collage der Diskurse im literarischen Text auf jeweils besondere, nicht zuletzt auch von Gattungskonventionen oder Erfordernissen des ‘Sitzes im Leben’ geprägte Weise erfolgt. (Röcke, 639)

85. Welche Konsequenzen sind daraus für die Reformulierung einer Sozialgeschichte der Literatur zu ziehen? Wichtige Anregungen scheinen aus benachbarten Disziplinen zu kommen: zum einen aus der ‘histoire des mentalités’, welche die französische Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte maßgeblich geprägt hat, zum anderen aus wissens- und kultursoziologischen Konzeptionen. (Röcke, 640)

86. Liegt der Hauptmangel des Konzepts einer ‘Literaturgeschichte als Sozialgeschichte’ in der Überzeugung von einer Homologie zwischen Literatur und Gesellschaft, so ist demgegenüber bereits in der älteren deutschen Sozialwissenschaft, z.B. bei Max Weber, dann vor allem in der französischen Mentalitätsgeschichtsforschung die Notwendigkeit gesehen worden, zwischen den objektiven Gegebenheiten und materiellen gesellschaftlichen Strukturen auf der einen, dem Verhalten der historischen Subjekte auf der anderen Seite noch eine dritte Ebene des Verstehens und Wissens anzunehmen. Die Besonderheit dieser ‘dritten Ebene’ liegt darin, daß sie das Verhalten der Subjekte prägt, ihrerseits aber auch von den gesellschaftlichen Gegebenheiten und den Handlungsmöglichkeiten der Menschen geprägt ist. Hinzu kommt, daß sie keineswegs einheitlich ist, sondern folgende Denkformen umfasst:

a) die unterschiedlichsten Deutungsmuster und Verstehensmodelle von Wirklichkeit, mittels derer die Menschen ihre diffuse Wahrnehmung gesellschaftlicher Prozesse zu ordnen sowie historische Veränderungen zu deuten und ihr alltägliches Leben zu organisieren vermögen;

b) kategoriale Formen des Denkens, die – wie z.B. die Kategorien ‘Raum’ und ‘Zeit’ – „als eine Art ‘historisches Apriori’ dem Denken selbst entzogen sind“ (Jöckel);

c) Einstellungen zu elementaren Phänomenen des Lebens wie Sexualität und Liebe, Krankheit und Angst, Tod und Vergänglichkeit. (Röcke, 640f.)

87. „Weltbilder“, „Geschichtsbilder“ oder „attitudes mentales“ sind als vorstrukturierte und in der Regel als präreflexive Formen des Wissens von der Wirklichkeit zu verstehen. So sind im Mittelalter vor allem zwei Formen der Deutung von sozialer Wirklichkeit denkbar: Entweder wird Gesellschaft als binäres oder triadisches System unterschiedlicher Stände oder ‘Ordnungen’ gedacht oder mit Hilfe sozialer Metaphern wie dem Bild von der Gesellschaft als Körper, dessen einzelne Organe und Glieder einander ergänzen sollen. Dementsprechend sind z.B. auch die Vorstellungen von möglichen Formen der Vergesellschaftung vorstrukturiert. (Röcke, 641)

88. Inwiefern unterscheiden sich diese Deutungsmuster von anderen Mustern des Wissens und Verstehens von Wirklichkeit?

Neben den Gesetzen und Konventionen gibt es in jeder Gesellschaft Vorstellungsmuster, die im Unterschied zu den Gesetzen und Konventionen nicht bewusst realisiert oder gar reflektiert werden, sondern unbewusst wirken. Sie repräsentieren Denk- und Verhaltensweisen, welche die unterschiedlichsten Bereiche des gesellschaftlichen und des privaten Lebens einer Epoche strukturieren. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass die Einstellungen zu Fragen der Gesellschaft, der Herrschaft und des Fürstenamtes in wesentlich höherem Maße Gegenstand der Reflexion sind als z.B. Fragen des sozialen Prestiges und der Überlegenheit über andere. So hat Georges Duby auf die lange Zeit selbstverständliche Geltung des triadischen Gesellschaftsmodells hingewiesen. Gesellschaft wird danach als hierarchische Ordnung der Krieger, der Kleriker und der Handarbeiter gedacht.

Noch weitgehend der Reflexion entzogen ist demgegenüber ein anderes Beispiel feudaladliger Mentalität. Georges Duby hat beim frühmittelalterlichen Adel auf eine Lust an der Verschwendung und der ‘Gabe’ aufmerksam gemacht, die einer periodischen Verschleuderung von Gütern und Produktion jeder Art gleichkam, für die Demonstration der eigenen Überlegenheit aber offensichtlich unabdingbar war.

In literarischen Texten der Zeit sind die unterschiedlichsten Gebrauchsweisen dieser Regeln denkbar. Sie können z.B. lediglich zitiert und damit bestätigt werden. Sie können aber auch raffiniert ästhetisiert, verlacht und in Frage gestellt werden. Sie können ferner in Meinungen und Handlungen unterschiedlicher Figuren erprobt und diskutiert, dialogisiert und an ihre Grenzen geführt werden. (Röcke, 642f.)

89. Mentalitäten oder Weltbilder wirken kollektiv und verbinden den einzelnen mit seinem Stand oder seiner Familie, seinem Lehnsverband oder einer anderen politischen Ordnung.

Ideologien, Lehren oder Dogmen zeichnet zum einen eine Tendenz zur Geschlossenheit und zur Ausgrenzung jeglicher Widersprüche aus, zum anderen sind sie nur in verbindlichen Formulierungen, d.h. in der Regel in schriftlicher Form denkbar. Demgegenüber ist für Mentalitäten einerseits eine Logik der Partialisierung kennzeichnend, andererseits sind es funktionierende Mechanismen, Reaktionsarten, die sich unterschiedlich artikulieren können.

Mentalitäten bilden eine Summe von Meinungen und Wertvorstellungen, deren „Sinn nur durch die Kombination dieser Einzel-Elemente entsteht“. (Röcke, 643)

90. Weltbilder sind häufig dualistisch-antithetisch gebaut. Dementsprechend wird das Ideal gerechter Herrschaft anhand von Schreckensbildern ungerechter, weil dem eigenen Vorteil, nicht dem ‘gemeinen Nutz’ verpflichteter Herrschaft erläutert; das Bild vom gehorsamen, seinen ständischen Aufgaben verpflichteten Bauern anhand seines Gegenbildes, die Isolation des gesellschaftlichen Außenseiters als Verlust seiner ständischen Bindungen und menschlichen Züge perhorresziert. In all diesen Fällen wird das richtige anhand des falschen Verhaltens erläutert. (Röcke, 643f.)

91. Auch in literarischen Texten treten die Mentalitäten oder Weltbilder nicht als manifeste Lehre zutage, sondern sind in den unterschiedlichsten Textfunktionen zerstreut, z.B. in den Handlungsmöglichkeiten der literarischen Figuren, in den Erzählerkommentaren, in den Stilisierungen der dargestellten Wirklichkeit. Die Aufgabe der Interpretation besteht dann darin, den Zusammenhang dieser Einzelelemente als komplexe Struktur sichtbar zu machen. (Röcke, 644)

92. Mentalitäten zeichnen sich durch „Mechanismen der Selbstzensur und der Selbstberichtigung aus.“. Dieser Horizont der Erwartungen und des Möglichen, des Zumutbaren und des Denkbaren ist im Mittelalter recht eng gefasst. So sind Reiseberichte und Reiseromane des Mittelalters durch einen Gegensatz von vertrauter und fremder Welt gekennzeichnet. In der Fremde verlieren die Menschen ihre gewohnte Gestalt und werden z.B. zu grotesken Mischwesen mit Hundeköpfen und Kranichschnäbeln.

Die Bilder von der Fremde sind antithetisch konstruiert: Auch der Blick auf die grotesken Mischwesen der Fremde ist noch gegenbildlich an die ideale Gestalt von Mensch und Natur in der vertrauten Welt gebunden, ergibt also isoliert keinen Sinn, sondern bedarf, soll er verstanden werden, des Bezugs auf sein Gegenteil. (Röcke, 644f.)

93. Im Konzept der Mentalitätsgeschichtsschreibung ist unter der Geschichte der kurzfristigen Ereignisse die mittelfristige Geschichte der politischen, gesellschaftlichen oder ökonomischen Strukturen und unter diesen die „lange Dauer“ der kollektiven Überzeugungen und Vorstellungen postuliert worden.

Für eine diachrone Beschreibung der „attitudes mentales“ ist es kennzeichnend, dass es neben konstanten Elementen und kurzfristigen Moden auch „Komponenten“ gibt, die in verschiedenen Zeiten auftauchen, ohne dass wahrscheinlich gemacht werden kann, dass sie übernommen oder durch gelehrte Traditionen überliefert sind. Damit ist jeglicher Teleologie des historischen Prozesses, wie sie noch für das Konzept einer ‘Literaturgeschichte als Sozialgeschichte’ galt, der Boden entzogen. (Röcke, 645)

94. Mentalitätsgeschichte und Habitustheorie. Eine Möglichkeit, den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Bereichen menschlichen Denkens und Handelns in einer Epoche genauer zu erfassen, bietet die Habitustheorie Pierre Bourdieus, die gemeinsame Strukturen des Denkens und Handelns und damit Vermittlungsinstanzen zwischen Kollektivem und Individuellem sowie zwischen sozialen, ökonomischen und künstlerischen Gegebenheiten erarbeitet.

Ebenso wie die Sprache als System von Regeln gelernt und beherrscht wird, die den Sprecher dazu instand setzt, immer neue und kompliziertere Zusammenhänge sprachlich auszudrücken, werden auch die verschiedenen kulturellen Praktiken aus einem Ensemble von Grundmustern generiert und weiterentwickelt. Bourdieu nennt dieses System von Grundmustern „Habitus“. (Röcke, 646f.)

95. Für die Konzeption einer Sozialgeschichte der Literatur ist dieser theoretische Ansatz nützlich, weil er es erlaubt, den wechselseitigen Bezug der unterschiedlichen Kunstformen, Deutungsmuster und Wertungssysteme in einer Epoche genauer zu fassen, als dies früher möglich war. (Röcke, 647)


[zurück]