5 Psychoanalyse

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5.02 Die wichtigsten Ansätze

1. Das Verständnis von  literarischen Texten wie von Kunstwerken überhaupt setzt stets eine Art von Verstehen voraus, das auf Personen bezogen ist: das Verstehen von Handlungen und das Verstehen von Ausdruck. Die Handlung einer Person verstehen heißt erklären können, was jemand tut, wie er es tut oder warum er es tut; den Ausdruck (etwa eines Gesichtes oder einer Gebärde) verstehen heißt erklären können, was jemand fühlt oder warum er es fühlt. Dass diese beiden Arten des Verstehens eine notwendige Voraussetzung für jedes Verständnis literarischer Texte darstellen, hat drei Gründe: Zum einen kommen in den meisten literarischen Texten Figuren vor, deren Handlungsweise und Gefühlsäußerungen wir in irgendeiner Weise nachvollziehen müssen, wenn wir den Text als ganzen verstehen wollen; zum anderen kann der Text selbst Gefühle oder Erlebnisse seines Verfassers zum Ausdruck bringen, so wie dies häufig etwa bei Gedichten der Fall ist; und zum dritten ist jeder literarische Text selbst das Ergebnis einer Handlung seines Autors. (Rühling, 479)

2. In bezug sowohl auf den Ausdruck als auch auf Handlungen gibt es eine besondere Art des Verstehens, die man als psychologisch bezeichnen kann. Dabei handelt es sich um ein Verstehen, das erstens nach dem ‘Warum’, dem Grund für die Handlung oder für den Ausdruck fragt und sich zweitens bei der Erklärung auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Psyche bezieht. Zwar ist demnach nicht jede Art von Ausdrucks- oder Handlungsverstehen als psychologisch zu bezeichnen, doch dieses besitzt für unser kognitives und emotionales Verhältnis zu unseren Mitmenschen einen eminenten Stellenwert. Das gleiche gilt prinzipiell auch für unser Verhältnis zu literarischen Texten und den in diesen vorkommenden Personen, so dass die Behauptung gerechtfertigt erscheint, kein Interpret eines literarischen Textes komme „ohne psychologische Termini aus“ und müsse „wohl oder übel Psychologie irgendwelcher Art betreiben“ (von Matt 1972, 46). (Rühling, 479)

3. Freilich ist mit „Psychologie irgendwelcher Art“ hier zunächst noch nichts weiter als normale Menschenkenntnis gemeint, wie wir sie durch alltägliche Erfahrungen erwerben. Hilfe bei der Psychologie als der ‘Wissenschaft vom Menschen’ zu suchen wird hingegen erst dann ratsam erscheinen, wenn uns diese Menschenkenntnis im Stich lässt und wir beispielsweise die Handlungsweisen oder Gefühlsäußerungen der im Text vorkommenden Personen nicht mehr ohne weiteres verstehen. Die Erklärung komplexer Gefühlsäußerungen und Handlungen aber ist nun fast ausschließlich Domäne der Psychoanalyse oder der Tiefenpsychologie, so dass Literaturpsychologie im hier erläuterten Sinne als Erklärung von auf den ersten Blick unverständlichen Handlungen und Gefühlsäußerungen als nahezu identisch mit Literatur-Psychoanalyse  aufgefasst werden kann. (Rühling, 479f.)

4. Im folgenden werden unter ‘Tiefenpsychologie’ oder ‘Psychoanalyse im weiteren Sinne’ alle psychologischen Strömungen verstanden, die unbewußten Wünschen und Gefühlen einen zentralen Platz bei der Erklärung menschlicher Handlungen und Gefühlsäußerungen einräumen. Als ‘klassische Psychoanalyse’ hingegen wird ausschließlich jene tiefenpsychologische Richtung bezeichnet, die sich seit ihren Anfängen bis heute auf Sigmund Freud als ihren Gründer und wichtigsten Theoretiker beruft. Obwohl alle tiefenpsychologischen Richtungen ursprünglich auf Freud zurückgehen, haben sich einige seiner Schüler im Laufe der Zeit von ihm abgewandt und eigene Theorien entwickelt, die den Grundüberzeugungen Freuds in wesentlichen Punkten widersprechen. Insbesondere zwei dieser Richtungen haben Bedeutung für die Literaturpsychologie erlangt: die „analytische Psychologie“ Carl Gustav Jungs und die „strukturale Psychoanalyse Jacques Lacans. (Rühling, 480)

5. Im Mittelpunkt steht die Frage, was und auf welche Weise tiefenpsychologische Theorien zum Verständnis literarischer Texte beitragen können. Zwei Arten eines solchen  Bezugs lassen sich unterscheiden. Die eine besteht in der Anwendung tiefenpsychologischer Theorien auf den Text: Mithilfe tiefenpsychologischer Konzepte werden die Handlungen und Gefühlsäußerungen der im Text vorkommenden fiktiven Figuren, des Autors oder des Lesers erklärt, also die Personen einer ‘Psychoanalyse’ unterworfen. Die andere besteht in einer spezifisch tiefenpsychologischen Kunst- und Literaturtheorie: Mithilfe tiefenpsychologischer Konzepte wird die psychologische Funktion von Kunst und Literatur für Autor und/oder Leser erklärt. (Rühling, 480f.)

6. Am Anfang der Literaturpsychoanalyse steht die Beschäftigung mit den im Text vorkommenden Gestalten. Freud rechtfertigt sein Vorgehen, fiktive Gestalten „ in allen ihren seelischen Äußerungen und Tätigkeiten“ grundsätzlich so zu behandeln, „als wären sie wirkliche Individuen und nicht Geschöpfe eines Dichters“ (Freud 1907, 41), mit dem Umstand, dass Psychoanalytiker und Dichter „wahrscheinlich aus der gleichen Quelle“ schöpften, „das nämliche Objekt“ bearbeiteten, „ein jeder von uns mit einer anderen Methode, und die Übereinstimmung im Ergebnis scheint dafür zu bürgen, daß beide richtig gearbeitet haben“ (ebd., 82). (Rühling, 481)

7. Die Psychoanalyse literarischer Gestalten kann „nomenklatorisch“ oder „explanatorisch“ verfahren (Wünsch 1977, 49f.). Nomenklatorisch heißt sie, wenn Charakter oder Verhalten einer literarischen Figur gemäß der psychoanalytischen Charakter- und Neurosenlehre klassifiziert werden, indem man etwa Madame Bovary als eine ‘typische Hysterikerin’ diagnostiziert. Der Erkenntniswert solcher diagnostischer Etikettierungen besteht darin, daß sich aus ihnen Folgerungen über bestimmte unbewusste Motive und Wünsche der Figuren ergeben, die nicht ausdrücklich im Text erwähnt werden, deren Kenntnis jedoch die Handlungsweise der betreffenden Figuren verständlicher macht. Angenommen, alle Hysterikerinnen litten an einer ödipalen Fixierung, die sich unter anderem darin äußert, dass sie sich Phantasien von einem heldenhaften Märchenprinzen als ihrem Ehemann hingegen, die in der Realität nicht einzulösen sind: dann könnten wir, wenn wir davon ausgehen, dass Madame Bovary eine Hysterikerin ist, verstehen, warum sie stets in einer Traumwelt lebt und auch durch ihre außerehelichen Liebesverhältnisse nicht wirklich zufrieden zu stellen ist. Auch eine nomenklatorische Verfahrensweise kann also erklärende Kraft haben. (Rühling, 481f.)

8. Eine explanatorische Analyse literarischer Figuren hingegen „erklärt de facto, warum jemand etwas sagt oder tut“ (Wünsch 1977, 50). Eines der besten Beispiele für ein solches Verfahren ist Freuds Analyse der Rebecca West aus Ibsens Drama Rosmersholm, deren Verhalten in der Tat jedem Leser Rätsel aufgibt. Freud deutet den Verzicht Rebeccas auf die Heirat mit Rosmer als eine Selbstbestrafung für den Inzest mit dem Vater.

Eine Psychoanalyse literarischer Gestalten wird sich grundsätzlich bei solchen Texten als besonders fruchtbar erweisen, in denen das Verständnis bestimmter, auf den ersten Blick rätselhafter Verhaltensweisen wesentlich ist für das Verständnis des Textes selbst; und es ist daher nicht erstaunlich, dass es gerade Gestalten wie Hamlet oder die Brüder Karamasow sind, die das Interesse der Psychoanalyse bereits seit ihren Gründertagen erregt haben.

Es besteht freilich ein Unterschied zwischen der Psychoanalyse fiktiver Gestalten und derjenigen realer Personen: Die Psychoanalyse fiktiver Gestalten kann sich stets nur auf die Informationen stützen, die der Text zur Verfügung stellt; und wenn diese Informationen aufgrund der prinzipiellen Indeterminiertheit fiktiver Gestalten nicht eindeutig sind, so wie es fast immer der Fall ist, dann bleibt die Analyse notwendigerweise spekulativ und entzieht sich einer definitiven Überprüfung. Bei realen Personen hingegen besteht jedenfalls grundsätzlich die Möglichkeit, Erklärungshypothesen über ihr Verhalten zu verifizieren oder zu falsifizieren. Mit anderen Worten: Hypothesen, die das Verhalten und die Gefühlsäußerungen realer Personen erklären, sind empirische Aussagen, solche über literarische Personen hingegen nicht; und dieser Unterschied macht die Grenze von Freuds Methode sichtbar, fiktive Gestalten so zu behandeln, „als wären sie wirkliche Individuen und nicht Geschöpfe eines Dichters“. (Rühling, 482f.)

9. Psychoanalytische Kunst- und Literaturtheorie. Der originellste Beitrag der Psychoanalyse zum Verständnis von Kunst und Literatur ist ihre Theorie von der allgemeinen psychologischen Funktion des Kunstwerks für Autor und Leser. Erst diese Theorie nämlich gestattet es, statt lediglich einzelner Aspekte das ganze Kunstwerk psychoanalytisch zu betrachten.

Freud fasst den literarischen Text in Analogie zum Traum auf und kann daher von seinen bereits früher formulierten Prinzipien der Traumdeutung ausgehen. Danach ist jeder Traum die Erfüllung unbewusster, ursprünglich anstößiger Wünsche, die in diesem durch die „Traumarbeit“ entstellt zum Ausdruck gebracht werden, so dass sie vom Träumer nicht mehr unmittelbar erkannt werden können. Als Ausdruck einer Wunscherfüllung gelten Freud dabei allerdings auch Angst- und Alpträume, da in ihnen Wünsche des Über-Ichs, also des Gewissens befriedigt würden. Die Traumarbeit hat die Funktion, die Wünsche einerseits zwar zu artikulieren, ihnen andererseits aber das Anstößige zu nehmen und auf diese Weise etwaige Skrupel des Träumers zu umgehen. Der „manifeste Trauminhalt“ ist somit aufgrund der beiden Herren – anstößigen Wünschen und Skrupeln des Träumers – dienenden Traumarbeit das Ergebnis einer Kompromissbildung. (Rühling, 485f.)

10. Diese Hypothesen werden nun von Freud auf den literarischen Text, ja auf jedes Kunstwerk überhaupt übertragen. In einem ersten Schritt interpretiert er dazu den Tagtraum und „das Phantasieren“ als traumanalog: Der wichtigste Unterschied zum Nachttraum besteht lediglich darin, dass der Wunsch, der im Tagtraum zum Ausdruck kommt, häufig nicht für den Phantasierenden selbst, sondern nur für seine soziale Umgebung verpönt und damit „ich-synton“ ist; obwohl der Tagträumer seine eigenen Wünsche durchaus anerkennt, sucht er sie vor anderen zu verbergen und schämt sich ihrer. Im einem zweiten Schritt wird dann der literarische Text als Tagtraum aufgefasst: Das Kunstwerk ist demnach nichts weiter als die Erfüllung eines ursprünglich verpönten Wunsches, dessen „egoistischer“ und nicht zuletzt bereits dadurch für die andere anstößiger Charakter durch „Abänderungen und Verhüllungen“ gemildert wird (Freud 1908, 179), die denen der Traumarbeit entsprechen. (Rühling, 486)

11. Freud sieht selbst, dass die Analogie dieser „Abänderungen und Verhüllungen“ zu den Entstellungen der Traumarbeit noch nicht ausreicht, um verständlich zu machen, warum wir bei der Lektüre eines literarischen Textes nicht nur nicht abgestoßen werden, sondern im Gegenteil sogar „hohe, wahrscheinlich aus vielen Quellen zusammenfließende Lust“ empfinden (ebd.). Zur Erklärung greift er auf Hypothesen zurück, die er zuvor bereits für den Witz formuliert hatte. Der Dichter „besticht“ den Leser zunächst „durch rein formalen, d.h. ästhetischen Lustgewinn“, der „eine[r] Verlockungsprämie oder eine[r] Vorlust“ entspricht (ebd.). Die „ästhetische Lust“ am Text ist eine „Vorlust“, die dem Leser einerseits einen Genuss an dessen formalen Qualitäten verschafft, andererseits aber zu einer anderen und tieferen Art der Befriedigung allererst hinführt. (Rühling, 486f.)

12. Diese tiefere Befriedigung sieht Freud in einer „Befreiung von Spannungen in unserer Seele“. Diese lässt sich als kathartischer Effekt auffassen, der auf der zeitweisen Bewusstwerdung von ursprünglich anstößigen und daher unbewussten Wünschen beruht; dass dabei Energien, die zur Unterdrückung dieser Wünsche notwendig waren, jedenfalls zeitweise freigesetzt werden, trägt zusätzlich zum „Genuß“ am literarischen Kunstwerk bei.

Der literarische Text kann dieser Theorie zufolge demnach als Darstellung einer Wunscherfüllung charakterisiert werden, wobei die soziale Anstößigkeit des Wunsches 1. durch der Traumarbeit analoge Mechanismen abgemildert wurde und 2. die Darstellung ihrem Leser Lust verschafft, nämlich 2.1 Vorlust durch ihre rein formalen Qualitäten und 2.2. eigentliche Lust durch „Befreiung von Spannungen in unserer Seele“.

Diese Theorie Freuds ist in mehrfacher Hinsicht kritisiert und, als Reaktion auf diese Kritik, modifiziert worden (Rühling, 487)

13. Kritiklinie 1: „Biographismus?“ Impliziert Freuds Theorie notwendigerweise eine biographistische Vorgehensweise, wie u.a. Adorno behauptet? Der Vorwurf basiert auf dem Umstand, dass aufgrund von Freuds Theorie die Möglichkeit besteht, den literarischen Text als nichts weiter denn als ‘Material’ aufzufassen, in dem das Unbewusste des Autors zum Ausdruck kommt und gemäß der Traumdeutung analogen Regeln dechiffriert werden kann. Vor allem die ältere Literaturpsychoanalyse hat von dieser Möglichkeit reichlichen Gebrauch gemacht und den Autor gleichsam auf die Couch gelegt. Ein Musterbeispiel dafür ist die Edgar-Allen-Poe-Studie von Marie Bonaparte, in der dem Autor von The Fall of the Hopuse of Usher bescheinigt wird, er werde in der Geschichte dafür bestraft, „daß er seiner Mutter untreu geworden ist, indem er Madeleine-Virginia liebt“ (Bonaparte 1981 [1933], 63).

Gegen solche Studien läßt sich vorbringen, dass ein biographischer Reduktioinsmus nichts zum Verständnis des Werkes selbst beiträgt; vielmehr steht hier der Autor im Mittelpunkt des Interesses, und der Text ist nur insofern von Belang, als er uns die Psyche des Autors erschließt. Doch dieses Stehen bleiben beim Autor ist keine Konsequenz, die sich aus Freuds Ansatz notwendigerweise ergeben würde.

So wird z.B. bei Pietzcker der in der Analyse herausgearbeitete psychische Konflikt des Autors (hier: Jean Paul) als typisch für eine „objektiv“ bestehende historische Situation interpretiert, bei der es sich um eine materiell-ökonomische, soziale, literaturhistorische oder ideengeschichtliche Situation handeln kann. Die Psychoanalyse des Autors dient so als Vorbereitung für eine historische Verortung des Autors und seines Textes, deren literaturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinn weit über den eines bloßen ‘Biographismus’ hinausgeht. (Rühling, 487f.)

14. Doch nicht einmal die Psychoanalyse des realen Autors ist eine notwendige Konsequenz aus Freuds Theorie, wenn man sich nämlich auf die Feststellung beschränkt, der literarische Text gestalte in der von Freud beschriebenen Weise die psychischen Konflikte eines vom Autor verschiedenen Erzählers. In einem Text können psychische Erfahrungen dargestellt werden, ohen zu der Schlussfolgerung zu verpflichten, diese seien auch die des Autors (von Matt 1974, 35) Der von einem literarischen Text dargestellte psychologische Inhalt ist vielmehr „prototypisch“ in dem Sinne, dass er überindividuelle Erfahrungen und Verarbeitungsmechanismen repräsentiert (Wyatt 1976, 348). Eine solche Theorie vermeidet, anders eine eine Psychoanalyse des realen Autors, die unübersehbaren Schwierigkeiten, die in einer empirischen Überprüfung von Hypothesen über die Psyche des realen Autors bestehen. (Rühling, 488f.)

15. Kritiklinie 2. Auch die These Freuds, der literarische Text sei als ein „Tagtraum“ zu betrachten, ist vielfach kritisiert worden. Selbst wenn literarische Texte ihren Ursprung in einer Phantasie oder einem Tagtraum ihres Verfassers haben und es darüber hinaus plausibel erscheint, dass diese Phantasie „dem Phantasieren dem Inhalt und der Struktur nach ähnelt“, so reicht diese „Ähnlichkeit aber noch nicht aus, die formale, ästhetische, eigenständige Qualität der Literatur damit hinreichend zu erklären“ (Wyatt 1976, 346). Ein Grund dafür liegt darin, dass ein Tagtraum das Ergebnis spontaner Phantasietätigkeit ist, während ein Kunstwerk zumeist erst aus einem komplexen Bearbeitungsprozess hervorgeht, bei dem ästhetische, historische, soziale oder intertextuelle Gesichtspunkte eine Rolle spielen, die mit der ursprünglichen Phantasie des Autors in keinem Zusammenhang mehr zu stehen brauchen. Die Vorstellung des Autors, welche Form sein Werk annehmen soll („opus-Phantasie“), kann die Phantasie mit Ursprung in der Psyche des Autors („Ich-Phantasie“) überlagern, ja dominieren (von Matt 1979, 200ff.) (Rühling. 489f.)

16. Darüber hinaus gibt es Kunstwerke, denen keine Phantasie im Freudschen Sinne zugrunde liegen kann, weil sie einem ganz anderen künstlerischen Konzept verpflichtet sind als jene, die Freud als Paradigmen dienten. Dies sind solche, denen es gar nicht mehr um den Ausdruck der künstlerischen Persönlichkeit geht, sondern beispielsweise um eine Erweiterung des Kunstbegriffs. „Ready mades“ und „Concept Art“ sind dafür Beispiele: Solche Kunstwerke lassen sich nicht mehr psychologisch im Sinne von Freuds Theorie interpretieren, wenn man nicht ihren Sinn gänzlich verfehlen will; hinter Marcel Duchamps „Fountain“ (einem vom Künstler signierten und ausgestellten Pissoir) wird überhaupt keine Phantasie, kein ‘latenter’ Kunstgehalt mehr sichtbar, der dargestellt würde. (Rühling, 490)

17. Beide Einwände bestreiten lediglich die Allgemeingültigkeit von Freuds Theorie, jeder literarische Text sei verursacht von oder Ausdruck einer Phantasie, die ihn zur Analogie eines Tagtraums mache; sie bestreiten hingegen nicht, daß es einige Texte geben mag, die auf diese Weise gedeutet werden können. (Rühling, 490)

18. Kritiklinie 3. Beruht das Vergnügen an der ästhetischen Form auf „Vorlust“? Schon von ästhetischem Vergnügen oder gar ästhetischer „Lust“ zu sprechen ist äußerst fragwürdig, da die Wertschätzung, die wir gewöhnlich den formalen Qualitäten eines Werkes entgegenbringen, kein Korrelat in einer bestimmten Empfindung, einem bestimmten Gefühl zu haben braucht (Savile 1983, 99ff.).

Hinter der Redeweise Freuds vom „ästhetischen Lustgewinn“ verbergen sich denn auch zwei ganz unterschiedliche Probleme: zum einen die Frage nach den psychologischen Gründen dafür, daß wir die formalen Qualitäten eines literarischen Kunstwerks überhaupt schätzen und zum anderen die Frage nach der psychologischen Funktion dieser formalen Qualitäten im allgemeinen oder für ein bestimmtes Werk.

Auf die erste Frage ist die psychoanalytische Literaturtheorie bisher eher am Rande eingegangen. Walter Schönau begreift als eine „Wurzel der ‘technischen Meisterschaft des Dichters [...] die als sprachliche Funktionslust  beibehaltene kindliche Freude am Spiel mit den Klängen und semantischen Werten der Sprache“ (Schönau 1991, 27)

Hinsichtlich der zweiten Frage lassen sich mehrere Positionen unterscheiden, für die Freuds Konzepts der „Vorlust“ keine wesentliche Rolle mehr zu spielen scheint. So behauptet Lesser, dass die formalen Eigenschaften des Werks im Dienst des Über-Ichs stehen, das sich durch Formstrenge zur Geltung bringt und so das Ich von bestehenden Schuldgefühlen entlastet (Lesser 1970, 266). Die formalen Eigenschaften werden aber z.B. auch als Ausdruck narzißtischer Allmachtsphantasien aufgefasst, da sich in ihnen die absolute Herrschaft des Autors über seinen Stoff ausdrückt (Sachs 1951, 49).

Grundsätzlich stellt sich jedoch die Frage, ob es möglich ist, die Funktion der formalen Eigenschaften eines literarischen Textes insgesamt zu bestimmen, oder ob dies nicht vielmehr immer nur in bezug auf ein bestimmtes Werk oder eine Gruppe ähnlicher Werke gelingen kann. (Rühling, 490ff.)

19. Analyse des Lesers. Die emotionalen Reaktionen des Lesers auf ein und denselben Text können bekanntermaßen ganz unterschiedlich ausfallen. Diese vielfältigen Reaktionsweisen werden von der psychoanalytischen Rezeptionstheorie untersucht, wie sie insbesondere von Norman N. Holland ausgearbeitet worden ist. Eine solche Rezeptionstheorie muss noch nichts zum hier ausschließlich interessierenden Verständnis des Textes beitragen. Das ändert sich, wenn man die emotionalen Reaktionen des Lesers in Anlehnung an entsprechende Phänomene im therapeutischen Prozess als „Gegenübertragung“ deutet, worunter ursprünglich die Reaktion des Therapeuten auf die „Übertragung“ des Patienten verstanden wird. Als Übertragung bezeichnet man das Phänomen, dass dem Therapeuten durch den Patienten eine bestimmte Kommunikationsrolle zugeschrieben wird, die aus der Wahrnehmung des Therapeuten durch den Patienten resultiert und von dessen unbewussten infantilen Phantasien und Fixierungen geprägt ist; der Patient wiederholt also mit bezug auf den Therapeuten bestimmte Interaktionsmuster, die er aus seiner eigenen Kindheit übernommen hat.

Die Gegenübertragung des Therapeuten kann nun ihrerseits auf eigenen unbewussten Gefühlen und Wünschen basieren, die durch infantile Phantasien und Fixierungen des Therapeuten geprägt sind. Für den Erfolg des therapeutischen Prozesses ist es notwendig, dass der Therapeut seine Gegenübertragung ständig aufmerksam beobachtet und analysiert, um angemessene Reaktionen von durch seine eigene psychische Geschichte motivierten zu unterscheiden. (Rühling, 483f.)

20. Wenn man nun Übertragung und Gegenübertragung nicht nur auf den therapeutischen Prozess bezieht, sondern sie als Phänomene zwischenmenschlicher Beziehungen des Alltags auffasst, dann kann man den literarischen Text als eine Form der Übertragung interpretieren, durch welche dem Leser implizit eine bestimmte Rezipientenrolle zugewiesen wird; die Reaktionen des Lesers werden dann entsprechend als Form der Gegenübertragung gedeutet. In Analogie zum therapeutischen Prozess ergibt sich dann für den Interpreten als demjenigen, der sich in der ‘Therapeuten’-Rolle befindet, die Notwendigkeit einer Gegenübertragungsanalyse und -kontrolle. Bei mangelhafter Kontrolle der eigenen Gegenübertragung besteht insbesondere die Gefahr, daß die Analyse des Textes unbewusst von Abwehrmechanismen gegen die durch diesen im Interpreten hervorgerufenen Gefühle geleitet ist (Pietzcker 1992, 28ff.) Ein Beispiel für Textanalysen als Form der Abwehr ist die frühe Rezeption von Becketts Dramen: Sie zeigt, dass sich die Interpreten offensichtlich gegen die durch diese Stücke bei ihnen hervorgerufenen Gefühle der Leere und Sinnlosigkeit zur Wehr setzen mussten (Goeppert/Goeppert 1981, 92 und 103ff.) (Rühling, 484f.)

21. Die Gegenübertragung lässt sich als Erkenntnisinstrument nutzen. Wenn die Lektüre eines Textes im Interpreten zunächst etwa Widerwillen und Langeweile hervorruft („negative Gegenübertragung“), dann kann dieser sich fragen, ob es zur Strategie des Textes gehört, gerade diese Gefühle in ihm wachzurufen, und so etwa zu der Erkenntnis gelangen, daß der Text Leere und Sinnlosigkeit darstellt. Gerade bei Texten, mit denen man zunächst ‘nicht viel anfangen’ kann, ist eine solche Gegenübertragungsanalyse unter Umständen von erheblichem heuristischen Wert, da sie den Text aufzuschließen vermag. (Rühling, 485)

22. Die analytische Psychologie Carl Gustav Jungs. Jung wendet sich entschieden gegen jede Analyse des Autors; sie sieht er als irrelevant für den künstlerischen Gehalt des Textes an. Lediglich die Analyse literarischer Gestalten und des Kunstwerks selbst lässt er gelten. „Das Wesen des Kunstwerkes besteht nämlich nicht darin, daß es mit persönlichen Besonderheiten behaftet ist [...], sondern daß es sich weit über das Persönliche erhebt und aus dem Geist und dem Herzen und für den Geist und das Herz der Menschheit spricht.“ (Jung 1930, 94).

Das Überpersönliche und Überindividuelle sieht Jung in Symbolen verkörpert, die auf das „kollektive Unbewußte“ verweisen. Dieses ist „nichts als eine Möglichkeit, jene Möglichkeit nämlich, die uns seit Urzeiten in der bestimmten Form der mnemischen Bilder oder, anatomisch ausgedrückt, in der Gehirnstruktur vererbt ist“ (Jung 1920, 36). Es handelt sich also um archaische Strukturen und Vorstellungen, wie sie insbesondere in den Mythen der Völker zum Ausdruck kommen und die Jung daher auch „Archetypen“ nennt. Solche Archetypen können sich im literarischen Text auch „in moderner Bildsprache verbergen“, so dass „der Kampf der Drachen“ zum „Eisenbahnzusammenstoß“, „der Held, der den Drachen erschlägt“, zum „Heldentenor am Stadttheater“ werden (Jung 1930, 91). Sie sind als Symbole „Möglichkeit und Andeutung eines noch weiteren, höheren Sinns jenseits unseres derzeitigen Fassungsvermögens“ (Jung 1920, 31). Dieser „höhere Sinn“ bezieht sich nun auf die Sozialisations- und Individuationsgeschichte des Menschen: Sozialisation bedeutet nämlich für Jung eine Anpassung an bestimmte „Kollektivnormen“, in deren Vollzug andere Seiten der Persönlichkeit abgespalten und nicht mehr wahrgenommen werden. Auf diese Weise besteht die Gefahr einer Entfremdung von sich selbst, der nur durch Bewusstwerdung und verstärkte Hinwendung zu diesen abgespaltenen Persönlichkeitsteilen begegnet werden kann – einen Prozess, den Jung „Individuation“ nennt. Die im Text vorhandenen archetypischen Motive und Strukturen sind Symbole insofern, als sie auf jene Anteile verweisen, die in einer bestimmten historischen Epoche aufgrund der Beschaffenheit des „Zeitgeistes“ von den in ihr lebenden Menschen abgespalten wurden. (Rühling, 492f.)

23. Auf diese Weise wird der Dichter zum Erzieher des Lesers wie des „Zeitgeistes“, der „es sozusagen jedem ermöglicht [...], wieder den Zugang zu den tiefsten Quellen des Lebens zu finden, die ihm sonst verschüttet wären“ (ebd., 38). Entsprechend wird auch der Interpret zum Erzieher, der mit der Analyse des Werks auf die Defizite der Epoche hinweist und Entwicklungen anmahnt. Später lässt Jung den Dichter zum Erzieher auch „seines Volkes“ werden, dessen „seelische[s] Bedürfnis sich „im Werke des Dichters“ erfüllt (Jung 1930, 97); das weist auf die anti-rationalistischen, anti-modernistischen und prä-faschistischen Tendenzen hin, die sich bei Jung finden. Diese waren indes kein Hindernis für die umfassende Rezeption seines Werkes vor allem in den USA, wo die Textanalyse nach den Prinzipien der analytischen Psychologie relativ weit verbreitet ist. (Rühling, 493)

24. Die strukturale Psychoanalyse Jacques Lacans. Lacan versucht mit seinem Projekt einer „Rückkehr zu Freud“ die klassische Psychoanalyse mithilfe der Zeichentheorie Saussures zu re-interpretieren, wodurch sie jedoch in entscheidender Hinsicht modifiziert wird. Dies äußert sich insbesondere in einem Vorgang, den man als ‘strukturalistische Allegorisierung’ bezeichnen könnte. Während sich bei Freud Ausdrücke wie ‘Vater’ oder ‘Penis’ zunächst auf konkrete Personen oder Körperteile beziehen, die eine bestimmte Rolle in der Entwicklung des Kindes spielen, ist etwa der ‘Vater’ bei Lacan keine konkrete Person mehr, sondern lediglich abstrakter Aktant in einem bestimmten strukturellen Geschehen, ebenso wie der ‘Phallus’ keinen erigierten Penis mehr bezeichnet, sondern Symbol ist für eine bestimmte Art von Erfahrung, die jede Person notwendigerweise durchläuft. Diese Allegorisierung ist jedoch bei Freud bereits angelegt, wenn auch keinesfalls in diesem Maße. (Rühling, 494)

25. Ferner übernimmt Lacan von Saussure eine wichtige Prämisse, die er in einer auch für andere Strömungen des 20. Jahrhunderts typischen Weise radikalisiert: Die Sprache spielt eine fundamentale, gleichsam transzendentale Rolle für jegliche Erkenntnis, da sie diese ‘a priori’ strukturiert und damit bestimmt, wie wir die Wirklichkeit überhaupt erfahren. Die so aufgefasste Sprache wird nun gerade in ihrer transzendentalen Funktion für das Individuum psychologisch interpretiert, indem Lacan die von ihm allegorisierten Begriffe Freuds auf sie anwendet.

Auf diese Weise bekommt Lacans Psychologie einen stark spekulativen, um nicht zu sagen: metaphysischen Zug, der sie grundsätzlich von der klassischen Psychoanalyse unterscheidet. Während diese nämlich von ihrem Anspruch her eine empirische Theorie über die Psyche des Menschen, ihre Entwicklungen und Störungen ist, lässt sich die strukturalistische Psychoanalyse Lacans eher mit der „Fundamentalontologie“ Martin Heideggers vergleichen; überspitzt könnte man sagen: Sie stellt eine Art ‘Fundamental’- oder ‘Transzendentalpsychologie’ dar und damit eine in ihren Grundzügen eher apriorische Theorie über die psychologische Verfasstheit des Menschen und die Rolle, welche die Sprache für diese spielt.(Rühling, 494f.)

26. Lacan selbst hat, im Unterschied zu Freud und Jung, keine eigene Kunst- und Literaturtheorie ausgearbeitet. Dennoch eignet sich seine ‘Transzendentalpsychologie’ in besonderer Weise für eine Anwendung auf literarische Texte. Denn aufgrund der Bedeutung, die sie der Sprache beimisst, stellt sie eine „Kongruenz zwischen Psychoanalyse und Textanalyse“ her, welche „die Arbeit des nach Lacan vorgehenden Literaturwissenschaftlers viel verträglicher mit den üblichen Vorgehensweisen der Literaturwissenschaft macht“ als die klassische Psychoanalyse (Mellard 1991, 56).

27. Zur Kritik an der Tiefenpsychologie. Kaum eine wissenschaftliche Disziplin ist seit ihren Anfängen so umstritten wie die Psychoanalyse, und Entsprechendes gilt erst recht für die anderen tiefenpsychologischen Richtungen. Da eine Textanalyse immer nur so gut sein kann wie die Theorie, die sie anzuwenden versucht, stellt sich die Frage, wie verlässlich auf der Basis der hier skizzierten Theorien durchgeführte Analysen überhaupt sind.

1) Eine Art der Kritik betrifft lediglich die Allgemeingültigkeit der von der Theorie aufgestellten Thesen; der Kritiker bezweifelt zwar, dass die Aussage für alle in Frage kommenden Gegenstände, nicht jedoch, dass sie für einige zutrifft. Falls diese Art der Kritik berechtigt ist, bleibt es immerhin noch möglich, die entsprechende Hypothese weiterhin als heuristisches Prinzip zu verwenden, also nach genau jenen Texten zu suchen, auf die sie zutrifft. Ein Beispiel: Selbst wenn man daran zweifelt, dass tatsächlich in allen literarischen Texten archetypische Symbole vorkommen, die abgespaltene Ich-Anteile bezeichnen, kann man vor dem Hintergrund dieser These auf solche Symbole achten und so zu Erkenntnissen geführt werden, zu denen man sonst nicht gelangt wäre.

2) Eine zweite Art der Kritik behauptet, dass die These auf keinen der entsprechenden Gegenstände zutrifft. Falls die Kritik berechtigt ist, wäre für eine Textanalyse gemäß den Grundsätzen der Theorie nur dann überhaupt etwas zu retten, wenn diese andere Hypothesen enthielte, die einer solchen Kritik nicht anheimfallen; man zieht sich damit also auf den unproblematischen Teil der Theorie zurück. (Rühling, 496)

28. Für die klassische Psychoanalyse gibt es – anders als für die Theorien Jungs und  Lacans – einen zentralen Bereich fundamentaler Aussagen, den man wohl kaum bezweifeln kann: Sie betreffen die Existenz unbewusster Gefühle und Wünsche, die Funktion der Abwehrmechanismen, den Einfluss der frühen Kindheit auf den Charakter oder die Bedeutung unverarbeiteter Traumata für das seelische Wohlbefinden. Dieser Bereich ist daher offensichtlich groß genug, daß die Anwendung der klassischen Psychoanalyse auf literarische Texte auch über heuristische Zwecke hinaus gerechtfertigt zu sein scheint, sofern bei  Interpreten ein entsprechendes Problembewusstsein vorhanden ist. (Rühling, 497)

29. Um 1900 begründete Sigmund Freud (1856-1939) eine neue wissenschaftliche Disziplin, die Psychoanalyse. Im Unterschied zum Großteil der damaligen Psychiater ging er davon aus, dass seelische Störungen meist nicht auf organische Schäden (z.B. des Gehirns) zurückzuführen sind, sondern auf unbewusste psychische Konflikte. Gegenstand der neuen Wissenschaft war daher die Aufdeckung der unbewussten Bedeutung von Handlungen, Reden, psychischen und somatischen Symptomen. Den Zugang zu dieser den Patienten unbewussten Bedeutung verschaffte sich Freud mit einer neuen Methode, der sogenannten freien Assoziation. Er ließ die Patienten frei und ohne Selbstzensur alles sagen, was ihnen zu bestimmten Elementen ihrer Rede und ihres Traums einfiel. Diese spontanen Einfälle führten auf die unbewussten Gedanken, die jeder Rede, und, wie sich zeigte, auch den neurotischen Symptomen zugrunde liegen; in der Regel drehen sie sich um einen unbewussten Wunsch, der oft sexueller Herkunft ist. Speziell die Analyse der Träume brachte Freud darauf, wie das Unbewusste ‘arbeitet’: Bestimmte Mechanismen der Traumarbeit – nämlich Verdichtung, Verschiebung, Überdeterminierung, Symbolisierung und sekundäre Bearbeitung – sorgen dafür, dass aus den latenten Traumgedanken (so nennt Freud die Gedankenketten, zu denen man durch freie Assoziation gelangt) der sog. manifeste Trauminhalt wird (der Traum in der Form, in der man ihn nach dem Erwachen erinnern und erzählen kann). Schließlich konnten Träume, Fehlleistungen, Witze, psychische und bestimmte körperliche Symptome als Bildungen des Unbewussten aufgefasst werden, in denen sich verdrängte Wünsche manifestieren – jedoch entstellt und für das wache Bewusstsein unkenntlich gemacht. (Gallas, 593f.)

30. Gleichzeitig mit seiner Behandlungsmethode für psychische Krankheiten und der Entdeckung der Gesetze des Unbewussten schuf Freud eine Theorie der Entwicklung der menschlichen Sexualität und der menschlichen Subjektwerdung: wie aus dem auf die Mutter angewiesenen, aber auch rücksichtslosen Neugeborenen der mehr oder weniger selbstbewusste und lebenstüchtige Erwachsene wird, der – als Mann oder als Frau – seine Rolle in der Gesellschaft übernimmt. Dieser Prozess hat die Verdrängung unerfüllbarer Kindheitswünsche ins Unbewusste zur Folge (z.B. die dauernde Nähe zur Mutter und die sofortige Befriedigung aller Bedürfnisse), ferner die Sublimierung der Wünsche, d.h. ihre Ausrichtung auf andere, von der Gesellschaft höher bewertete Ziele. Freud nannte diesen langwierigen Prozess den Übergang vom „Lustprinzip“ zum „Realitätsprinzip“, es sei kein endgültiger Übergang, immer wieder gebe es Regressionen, d.h. Rückfälle auf überwunden geglaubte Stadien der Entwicklung. Knotenpunkt dieser Entwicklung ist für Freud der sog. Ödipuskomplex, in den die Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren eintreten: Das Kind wendet sich dem gegengeschlechtlichen Elternteil als Liebesobjekt zu und empfindet den gleichgeschlechtlichen Elternteil in dieser Hinsicht als Rivalen – nachdem zuvor für beide Geschlechter, den Jungen wie das Mädchen, die Mutter das erste libidinöse Objekt war. Der Haß gegen den Rivalen kann bis zum Todeswunsch gehen, die Liebe für die gegengeschlechtliche Person bis zum Wunsch nach genitaler Vereinigung (Inzest mit Vater oder Mutter). Diese Konstellation zeigt aber auch Momente des Gegenteils: eine zärtliche Einstellung zum gleichgeschlechtlichen und eine eifersüchtig-feindselige zum gegengeschlechtlichen Elternteil (homosexuelle Komponente). (Gallas, 594f.)

31. Die Überwindung des Ödipuskomplexes erfolgt nach Freud beim Jungen durch die Kastrationsangst (aufgrund der dem Vater-Rivalen zugeschriebenen Kastrationsdrohung), beim Mädchen durch den Penisneid (wobei die Mutter für den fehlenden Penis verantwortlich gemacht wird). Kastrationsangst und Penisneid bewirken die Aufgabe des inzestuösen Objekts und die Identifizierung mit der Rolle des gleichgeschlechtlichen Elternteils. Für Freud stellt der Ödipuskomplex ein notwendiges Durchgangsstadium der geschlechtlichen Reifung dar; durch die mit seiner Überwindung in Zusammenhang stehende Bildung des Über-Ichs steht er zudem am Anfang von Moral, Gewissen und Gesetz. Das Inzestverbot durch den Vater steht symbolisch für alle späteren Autoritäten. (Gallas, 595)

32. Schon bald erkannten Freud und die Psychoanalytiker um ihn, welche Möglichkeiten sich aus den neuen Einsichten für die Analyse geisteswissenschaftlicher Phänomene ergaben, unabhängig vom medizinischen Bereich. Es war Freud selbst, der in Die Traumdeutung erstmals die Ödipuskonzeption zur Erklärung eines literarischen Textes heranzog. Freud führte Hamlets Zögern, den Mörder seines Vaters zu töten, auf einen unbewussten Todeswunsch gegen den Vater aufgrund einer libidinösen Besetzung der Mutter zurück. (Gallas, 595)

33. Der literarische Text wird als ein Ort angesehen, an dem regressive Wünsche zur Sprache kommen, ihre Artikulation stehe im Dienste des Lustprinzips oder auch der Abwehr unbewusster Wünsche: das Werk als Kompromissbildung zwischen Phantasie (als der vorgestellten Befriedigung unbewusster Wünsche) und Abwehr (die Verkleidung und Bestrafung dieser Wünsche). Die Traumdeutung gilt als Modell der Literaturdeutung, Ziel ist die Rekonstruktion eines latenten Textes. Die Traumarbeit wird als Analogon zur dichterischen Phantasie angesehen, die Mechanismen der Traumarbeit werden auch im literarischen Text wiedererkannt. (Gallas, 595)

34. Neben der Werkinterpretation gibt es zwei weitere Hauptanwendungsbereiche psychoanalytischer Methoden in der Literaturwissenschaft: zum einen die Rezeptionsforschung, wobei ähnliche psychische Prozesse wie die, die zur Ausarbeitung eines literarischen Werkes geführt haben, auch beim Leser vermutet werden – diesem ebenso unbewusst wie dem Autor; zum anderen die Erforschung der Dichterpersönlichkeit, die sich neben den historischen vor allem den psychischen Determinanten der Biographie widmet. (Gallas, 596)

35. Beispiel für eine Freudsche ödipale Interpretation: Kleists „Michael Kohlhaas“

Ausgangspunkt wäre also: Ein in der Position des Sohns befindlicher Protagonist versucht, einen anderen, der für ihn die Position des Vaters einnimmt (also den Zugang zur Mutter versperrt), als Nebenbuhler auszustechen oder zu beseitigen. Die Protagonisten eines ödipalen Konflikts in der Literatur können, aber müssen nicht als Väter oder Mütter auftreten; sie treten nur in die Funktionen ein, die diesen zukommen, sie substituieren also Vater- bzw. Mutterfiguren.

Kohlhaas hat es mit mehreren Autoritäten zu tun: dem Junker Wenzel, der ihm an einer Zollschranke unrechtmäßig zwei seiner Pferde abnimmt und sich in der Folge als lächerliche Autorität erweist; der Junker wird später – in seiner Funktion, die Rechte des Kohlhaas einzuschränken und dessen Rache auszulösen – ersetzt durch den Kurfürsten von Sachsen; dieser ist als oberster Lehnsherr zwar eine höhere Autorität, aber ebenfalls eine eher lächerliche Figur, die Kohlhaas’ Mut und Todesverachtung um so glanzvoller erscheinen lassen. Die dritte Autoritätsperson ist der Kurfürst von Brandenburg, eine respektable Person, deren Anordnungen sich Kohlhaas sich beugt. Als Mutterfiguren kämen die zwei Frauen in Frage, mit denen Kohlhaas es zu tun hat: seine Frau Lisbeth, die durch – zumindest mittelbare – Schuld des brandenburgischen Kurfürsten stirbt. Nach ihrem Tod wird Lisbeth ersetzt durch die geheimnisvolle Zigeunerin, die Kohlhaas wie eine Doppelgängerin seiner Frau vorkommt und ihn, erfolgreicher als Lisbeth, im Kampf gegen den sächsischen Kurfürsten unterstützt. Die Frauen erscheinen in der Erzählung also nicht als inzestuöse, begehrte Objekte, die vor einer brutalen Vaterfigur geschützt werden müssen, sondern als Figuren, die (wie die Mutter den Sohn) den Helden hilfreich im Kampf gegen die Autorität (als Substitut des Vaters) unterstützen und immer auf seiner Seite sind (so wie der Sohn sich die bedingungslose Hilfe der Mutter im ödipalen Konflikt erträumt). Die Zigeunerin wird übrigens von Kohlhaas stets ‘Mütterchen’ genannt, die beiden Kurfürsten sind seine ‘Landesväter’. (Gallas, 596f.)

36. Wir haben es durchaus mit einer für das Ödipus-Schema typischen Dreiecksstruktur zu tun. Nach dem psychoanalytischen Modell muss der in der Position des Sohns Befindliche auf die Zerstörung des Vaters sinnen, und er muss auf die Gewinnung des väterlichen Rechts aus sein. Anfangs verhält sich Kohlhaas nach diesem Muster: Er zerstört den Besitz des sächsischen Landesvaters, nämlich Land und Leute, und setzt sein eigenes Recht (erklärt die Fehde, gibt Mandate aus usw.). Als Kohlhaas schon fast gezwungen ist, sich dem kurfürstlichen Gesetz zu beugen, gibt ihm die Zigeunerin den entscheidenden Fingerzeig, wo die verletzliche Stelle der Autorität sich befindet: im Wissen um sein Geschlecht, verstanden als Vater-, Herr- und Regentschaft (sie weissagt auf einem Zettel dem Kurfürsten dessen künftiges Schicksal und das seines Hauses, übergibt den Zettel aber nicht ihm, sondern Kohlhaas). Dieser Zettel, den Kohlhaas in einer Kapsel und an einem seidenen Faden um den Hals trägt (vielleicht als mütterliches Symbol aufzufassen), scheint das Todesurteil des Kurfürsten zu enthalten; jedenfalls erlangt Kohlhaas durch ihn einen grandiosen Sieg über den Kurfürsten. Dieser ist bereit, zur Erlangung des Zettels alles zu tun; Kohlhaas jedoch verschlingt den Zettel, nachdem er ihn gelesen hat, vor den Augen des Kurfürsten, der daraufhin in Krämpfen niedersinkt und ohnmächtig, wie entmannt auf dem Boden liegt. (Gallas, 597)

37. Das Objekt, um das sich alles dreht, ist jedoch nicht die Mutter als Begehrte bzw. eine sie substituierende Frauenfigur, sondern zwei Pferde. Anfangs stolze, wohlgenährte Rappen, werden sie Kohlhaas erst abgenommen, dann zugrunde gerichtet und kommen an den Schinder. Man könnte in ihnen Phallussymbole sehen, also Symbole der männlichen Potenz. Die Ruinierung dieser Pferde würde dann für die Kastrationsdrohung stehen. Wir befänden uns im zweiten Akt des ödipalen Dramas, in dem die Besetzung der Mutter als libidinöses Objekt bereits erfolgt ist und nun die Kastrationsangst und die Mutter als helfende bestimmend sind. Zu klären wäre dann, wieso sich die Hass-Liebe des Kohlhaas nur auf einen der beiden Kurfürsten richtet: Der Kurfürst von Sachsen scheint den schwachen Teil der Vater-Imago zu verkörpern, den von der Mutter nicht anerkannten und im Bunde mit ihr zu quälenden Teil. Der Kurfürst von Brandenburg würde für den Teil der Vater-Imago stehen, der die starken, potenten, die Mutter besitzenden Teile verkörpert. Im Unterschied zum Kurfürsten von Sachsen wird der Brandenburger von der Zigeunerin anerkannt – sie prophezeit ihm eine Zukunft. Dieser Vater übernimmt die Verkündung des Urteils für Kohlhaas’ Taten: auf Landfriedensbruch steht Tod. Das ist ein eindeutiger Bruch der Kohlhaas zugesagten Amnestie. Um so mehr verwundert sein geradezu freudiges Einverständnis mit diesem Todesurteil. In der Logik der bisherigen Interpretation könnte diese Haltung als von Schuldgefühlen diktierte Selbstbestrafung anzusehen sein, als Selbstbestrafung für das gegen den Vater gerichtete Konkurrenzstreben: die Usurpation der feudalen Privilegien, die Selbstjustiz und das Ansichreißen der Macht im sächsischen Staat. (Gallas, 597f.)

38. Bei aller Plausibilität in einzelnen Punkten ist eine solche Interpretation doch unbefriedigend. Die Argumentation verbleibt fast ausschließlich auf der sexuellen Ebene, und die Erzählung ist zu eingeschränkt als personales Drama aufgefasst, ganz abgesehen von der Fragwürdigkeit der Symbolinterpretationen. (Gallas, 598)

39. Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901-1981) hat – gestützt auf die Erkenntnisse der strukturalen Linguistik, die Freud noch nicht zur Verfügung standen – dessen Theorie neu interpretiert und weitergeführt. Auch der Ödipus-Komplex wurde unter dem Aspekt der Sprache und gestützt auf die Erkenntnisse der strukturalen Ethnologie neu beschrieben.

Das Gesetz, das mit der Kastrationsdrohung durchgesetzt werden soll, ist in erster Linie das Inzestverbot. Die Wirkung dieses Verbots für den Sohn ist: Alle Frauen (außerhalb der Familie) sind erlaubt, wenn auf die eine (die Mutter) verzichtet wird. Als Repräsentant dieses Verbots erscheint der Vater. Er ist jener Dritte, der durch seine Anwesenheit und sein Wort die enge duale Beziehung zwischen Mutter und Kind unterbindet, der den Wunsch des Kindes nach symbiotischer Einheit mit der Mutter beschneidet. Lacan spricht von der „symbolischen Kastration“, und das heißt: Trennung vom mütterlichen Geschlecht, das als verloren gelten und in Zukunft durch andere Objekte substituiert werden muss (für beide Geschlechter). (Gallas, 598f.)

40. Die symbolische Kastration wird daher auch als Voraussetzung dafür angesehen, dass überhaupt ein Wunsch (auf andere Objekte als die Mutter) entstehen kann; sie schafft also erst, was sie zu verbieten scheint: den Wunsch, oder wie es in der Terminologie Lacans heißt: das Begehren, und das Recht darauf. Nur wer wünschen, begehren kann, findet Objekte, für die zu streiten, zu arbeiten, zu leben sich lohnt. Nur wer sicher weiß, was er begehren darf, welche Rechte er hat, ist sicher im Genießen des gewählten Sexualpartners, im Genießen der Früchte seiner Arbeit – ohne Angst, sie nicht verdient zu haben. Die Kastration in diesem Sinn muss also gesucht, sie darf nicht vermieden werden; sonst beherrschen Ungewissheit und Zweifel das Subjekt. (Gallas, 599)

41. Lacan hebt die narzißtische Dimension des Ödipus-Schemas hervor: Das Kind bildet ein erstes Ich im sogenannten Spiegelstadium (im 6. bis 8. Monat), und zwar aufgrund der Wahrnehmung der eigenen Gestalt im Spiegel als einer ganzen, vollkommenen sowie, und das ist entscheidend, der Anerkennung dieser Wahrnehmung durch den zustimmenden, bewundernden Blick der Mutter. Als Folge dieser Spiegelidentifikation glaubt das Subjekt sich immer schon mit einer Einheit und Vollkommenheit ausgestattet, der es real nicht entspricht. Es ist auf Hilfe angewiesen, es muss sich ständig den Wünschen anderer beugen. Diese erste Ich-Gewissheit ist also eine Täuschung, die die Abhängigkeit des menschlichen Subjekts übertüncht – und sie ist Quelle auch aller späteren Selbstüberschätzung, aller Größen- und Allmachtphantasien. Dieses erste Ich ist narzißtisch, da es auf der erotisch-aggressiven Beziehung zu seinem Ebenbild beruht, und es ist äußerst fragil, ständig von Angst vor Zerfall bedroht. Es kann sich allein in der Konkurrenz mit den anderen bestätigen. Die Rivalität (etwa im vorsprachlichen Kinderspiel zu beobachten) würde jedes menschliche Zusammenleben unmöglich machen, wenn das Kind nicht lernte, die Sprache zu gebrauchen. Die Einführung in die Sprache, in die symbolische Ordnung, wie Lacan sagt, führt dazu, dass das Subjekt – statt zu handeln (streiten, schreien, schlagen) – sein Begehren artikuliert. In die Sprache wird das Kind vor allem von der Mutter eingeführt; sie trennt es dadurch vom ursprünglichen Körper-Sein und eröffnet die Möglichkeit, sich anderen zu- und von der Mutter wegzuwenden; sie unterstützt damit, willentlich oder nicht, den Kastrationsprozess. Symbolische Kastration bedeutet in der Lacanschen Theorie daher auch Eintritt in die symbolische Ordnung, die Sprache, welche die ursprüngliche Aggressivität der Rivalitätsbeziehung – wie sie in der ödipalen Beziehung des Knaben zum Vater wieder auftaucht – zu verbalisieren und damit zu überwinden erlaubt. Die ödipale Konstellation ist für Lacan deshalb auch nicht mehr an ein bestimmtes Lebensalter gebunden. (Gallas, 599f.)

42. Was wird in dieser Perspektive aus den Positionen ‘Mutter’ und ‘Vater’ im ödipalen Dreieck? Die Mutter als Inbegriff des Begehrten ist nach dieser Konzeption eine nachträgliche Wirkung des Verbots, die nachträgliche Phantasie des Subjekts vom paradiesischen Zustand mit der Mutter. Der ödipale inzestuöse Wunsch erscheint so nicht mehr als Wunsch nach tatsächlicher genitaler Vereinigung mit der Mutter, sondern erstens als Wunsch nach einem Ort vor jeder Trennung, als Phantasie von totaler Geborgenheit und Erfüllung; zweitens als Wunsch des Subjekts, vom Blick der Mutter in seiner Einmaligkeit und Größe bestätigt, anerkannt zu werden; und drittens als Wunsch, für die Mutter alles zu sein, ihr Begehren auszufüllen (Begehren nach dem Begehren des Anderen) und nicht zuzulassen, dass sich ihr Begehren auf etwas Drittes richtet. Dem Vater kommt eher eine befreiende, denn ein repressive Funktion zu. Er ist nicht Vollstrecker der Kastration, spricht auch keine Drohung real aus, sondern symbolisiert das Gesetz, das zunächst im Inzestverbot besteht. Lacan führt die Unterscheidung zwischen imaginärem und symbolischem Vater ein. Der imaginäre Vater wäre das Bild  des allmächtigen, allwissenden, brutalen, kastrierenden Vaters, das sich das Kind macht; zu ihm entwickelt es eine rivalisierende Beziehung der Hassliebe, ihn sucht es zu beseitigen oder zu ersetzen. Der symbolische Vater ist Funktionsträger des Gesetzes, er steht symbolisch für die Ordnung, der das Kind sich unterwerfen soll. Lacan spricht daher auch von der Instanz „Name-des-Vaters“ (nom-du-père). Der tatsächliche Vater ist eine Mischung aus beidem, immer aber schwächer als der symbolische Vater. (Gallas, 600)

43. Beispiel für eine Lacansche Interpretation: Kleists „Michael Kohlhaas“

In der Konzeption der symbolischen Kastration bei Lacan ist das Begehren eine zentrale Kategorie. Sich davon zu trennen, das Begehren der Mutter auszufüllen, verlangt, sein eigenes Begehren zu finden. Was begehrt Kohlhaas, was treibt ihn?

In der Konfrontation mit dem Junker muss Kohlhaas sich als unzulänglich und machtlos erkennen – sehr im Unterschied zu dem Bild, das er als erfolgreicher Kaufmann von sich haben mag. Die Demütigung, in die er sich versetzt sieht, reaktiviert die Todesangst des narzißtischen Ichs der Spiegelphase, so könnte man deuten; d.h. die Demütigung gleicht einer Bedrohung seiner Ich-Identität. Zum Verursacher der Bedrohung, dem Junker, nimmt Kohlhaas eine auf Rivalität gegründete Beziehung auf – er will ihn beseitigen und an seine Stelle treten. Letzteres zeigt die Wahl seiner Kampfmittel, die für einen Junker, nicht aber für einen Kaufmann charakteristisch sind: Erklärung der Fehde, Erlassung von Mandaten usw.  – so als wollte er klarmachen, wer der bessere Junker sei. Diese imaginäre Identifikation mit dem Rivalen ist der Kampf mit dem eigenen Spiegelbild, in dem das Subjekt sich selbst, aber entfremdet wahrnimmt. Bei dem Kampf mit dem Spiegelbild-Rivalen geht es um die Anerkennung des Subjekts durch den anderen, wobei das Objekt in den Hintergrund tritt – so wie Kohlhaas das eigentliche Streitobjekt, die beiden Pferde, zeitweilig völlig zu vergessen scheint. Die Rivalitätsbeziehung lässt eine Fülle von Größenphantasien hervorbrechen: Kohlhaas tritt auf als eine Mischung aus Kaiser und Christus, er nennt sich „einen Statthalter Michaels, des Erzengels“, einen „Reichs- und Weltfreien, Gott allein unterworfenen Herrn“. Als ihm seine Kampfmittel genommen sind, tritt er in eine neue erotisch-aggressive Rivalitätsbeziehung, nämlich zum Kurfürsten von Sachsen. Ihm will er „wehtun“, das ist Kohlhaas mehr wert als das Leben – eine merkwürdige Verschiebung im Vergleich zu seinem ursprünglichen Wunsch, nämlich der Wiederherstellung seiner beiden Pferde und der Bestrafung des Junkers. (Gallas, 601)

44. Dieser neue Wunsch wurde Kohlhaas von der Zigeunerin suggeriert; sie übergab den Zettel mit der Prophezeiung nicht dem eigentlichen Adressaten, sondern Kohlhaas und machte den Kurfürsten dadurch zu einem Gehetzten. Die Zigeunerin trieb dabei ein Begehren, das uns nicht näher erläutert wird. Welche Rechnung hat sie mit dem Kurfürsten zu begleichen? Jedenfalls wird Kohlhaas zum Vollstrecker ihres Wunsches; sie wird sein Komplize, aber Kohlhaas auch der ihrige! Es geht also nicht um das ödipale Begehren für die Mutter, sondern um das Begehren der Mutter, dem Kohlhaas unterworfen scheint. Über seine Frau Lisbeth, die ihn störend an seine Pflichten als Familienvater erinnert, geht Kohlhaas hinweg. An ihre Stelle wird die Zigeunerin gesetzt, deren Pläne seine Größen- und Rachephantasien stützen.

Und was wird aus den Pferden als Phallussymbol in unserer ersten Interpretation? Der Phallus ist auch bei Freud nicht nur Symbol des männlichen Organs, sondern das, was zur Vollständigkeit fehlt (für beide Geschlechter). Er ist also Signifikant der imaginären Ganzheit des Ichs. In diesem Sinn wären die Pferde Phallussubstitute (nicht Phallussymbole). Ihre Ruinierung entspräche einer Bedrohung der über imaginäre Identifikation erreichten Einheit des Ichs. Aber auch die Kapsel mit dem Zettel kann in diesem Sinn als Phallussubstitut aufgefasst werden (für den Kurfürsten wie für Kohlhaas, der damit das, was ihm fehlt, ersetzt). (Gallas, 601f.)

45. Die Zweiteilung der Autorität wäre mit Lacans Unterscheidung von imaginärem und symbolischem Vater zu erklären, wobei auch der Brandenburger das Urteil nicht allein fällt, sondern im Namen des Kaisers in Wien.

Endet die Erzählung also mit der Annahme der symbolischen Kastration, erkennt Kohlhaas die Grenzen seines Ichs an und verzichtet auf Allmachtsphantasien? Mit dem doppelten Urteil wird zum Schluss ein raffinierter, witziger Ausweg gefunden: Einerseits beugt sich Kohlhaas dem Rechtsspruch und nimmt die Strafe für seine Mordbrennereien auf sich, er verzichtet darauf, sein eigenes Recht setzen zu können; andererseits triumphiert er über seine beiden Rivalen. Der Junker wird bestraft und der Kurfürst von Sachsen vernichtet, denn Kohlhaas verschlingt vor seinen Augen auf dem Richtplatz den Zettel mit der Prophezeiung des kurfürstlichen Schicksals. Damit rettet er seine Überlegenheitsphantasien. Der Zettel war mit Mundlack versiegelt (eine Oblate aus Teig), so als nähme Kohlhaas teil am Verzehr der Hostie, die die Teilnahme am ewigen Leben eröffnet; gleichzeitig erinnert die Szene an den Auserwählten des Herrn, den Propheten, der Gottes Wort verschlingt. Kohlhaas, eben noch der Gesetzesübertreter, präsentiert sich als der Auserwählte, der dem gesetzlosen, verirrten Volk (Israel) das Gesetz des Vaters bringt – hier ist es aber eine Prophezeiung der Mutter (die Kohlhaas ihrerseits zur Überbringung auserwählt hat). Die Prophezeiung besagt: In der Zukunft, in der Geschichte wird man ein Urteil fällen. Kohlhaas bleibt das letzte Wort – eine Anspielung auf das Metier des Schriftstellers, ebenso wie die Schrift auf dem Zettel, die ihm ‘Genugtuung ‘ verschaffen wird. (Gallas, 602f.)

46. Einen ähnlich ambivalenten Status wie der Richtspruch hat das Gesetz, dem Kohlhaas sich unterwirft: Es beruht auf Gesetzesbruch und erhält so einen illegitimen Charakter (Kohlhaas war ja, wenn er sich stellt, für seine Taten Straffreiheit zugesichert worden). Der Schluss könnte daher als Annahme und gleichzeitig Umgehung der symbolischen Kastration gedeutet werden; denn die Identifikation mit der vollendeten Gestalt ist nicht aufgehoben, sondern gerade besonders bestätigt.

Kleists Geschichten sind öfter so konstruiert, dass eine Frage vorgelegt wird, die aufgrund der verwickelten Situation nicht mit Ja oder Nein entschieden werden kann: Ist der Protagonist gut oder schlecht? Muss er verurteilt oder freigesprochen werden? Ist er ein rechtschaffener Kaufmann oder ein Verbrecher? Es geht um den Wert des Subjekts, um das Bild, das es sich von sich selber machen kann – abzulesen im Bild, das sich die anderen von ihm machen. Diese fehlende Ich-Gewissheit ist es, die den Text als Suche des Protagonisten nach seiner Identität erkennen lässt. Ihn treibt die Frage: Wer bin ich? und vielleicht auch die Suche, das Begehren nach dem Gesetz, das sicher macht und Rechte verschafft, die man ohne Skrupel genießen kann. (Gallas, 603)

47. Was ergibt sich aus diesen beiden kurzen Analysen für die psychoanalytische Literaturwissenschaft? Es zeichnen sich wichtige Akzentverschiebungen ab: Literarische Figuren sind keine realen Personen, ihre Charaktere sind zwar nach bestimmten Gesetzen konstruiert, aber nicht im Sinne eines tatsächlichen Krankheitsbildes (Kohlhaas etwa trägt hysterische, zwangsneurotische und narzißtische Züge). Hamlet sei kein reales Wesen, sagt Lacan, sondern ein Platz, auf dem sich Begehren entfaltet: „Hamlet hat keine Neurose, er demonstriert uns Neurose“ (Lacan 1987, 51).

Zwar wird man einen literarischen Text auch weiterhin als Ausdruck einer psychischen Konfliktstruktur des Schreibenden verstehen können, aber nicht länger als eine Art Ersatzbefriedigung oder als Hort regressiver Wünsche. Die aus dem Spiegelstadium stammende narzißtische Dimension ist nach Lacan unüberwindbar; der Wunsch nach Anerkennung, nach Erwiderung seines Begehrens ist für das menschliche Subjekt konstitutiv und unstillbar. Der Wunsch, das Begehren ist daher nicht als Regression aufzufassen, auch nicht als privat und subjektiv, sondern als intersubjektiv. (Gallas, 603f.)

48. Ein literarischer Text kann als artikuliertes Begehren verstanden werden – aber weder im Sinne von Regression noch im Sinne einer bewussten Aussage oder Absicht des Schreibenden. Der Schreibende ist auf der Suche nach Sinn, er legt den Sinn nicht fest; seinem eigenen Text kann er so verständnislos gegenüberstehen wie ein Träumer seinem eigenen Traum. Das Subjekt des Textprozesses ist nicht der Autor, auch nicht der Erzähler oder eine der Figuren, sondern der Text selbst mit seiner Verschlungenheit und Widersprüchlichkeit, mit seinen Verschiebungen und Verdichtungen.

Wenn das Ziel der psychoanalytischen Methode die Rekonstruktion eines unbewussten, latenten (Sub-)Textes ist, so geht es dabei weniger darum: Was wird anders gesagt (als der manifeste Text sagt), sondern vielmehr darum: Wer spricht von welcher Position aus zu wem? (Kohlhaas z.B. spricht u.a. als Erzengel.) Die Unterscheidung zwischen bewusstem und unbewusstem Text wird damit weitgehend hinfällig.

Eine psycho-analytische Deutung kann eine komplexe Dimension des literarischen Textes erfassen, die bei anderen Deutungen, z.B. historischen, unberücksichtigt bleibt. Der Zusammenhang der psychoanalytischen Ergebnisse mit den Ergebnissen anderer Verfahren ist allerdings noch weitgehend wissenschaftliches Brachland. (Gallas, 604)

49. Literatur hat viele Bezüge zur Psychologie. Schon im 18. Jahrhundert verhandelten Schriftsteller wie Publikum in literarischen Texten Entwürfe einer psychologischen Figurenkonstruktion und -deutung. Im 19. Jahrhundert nahm die Psychologisierung der Literatur weiter zu, sei es im Sinne einer Alltagspsychologie der gewöhnlichen Menschenkenntnis, sei es durch Verarbeitung wissenschaftlich-psychologischer Theorien. In der hermeneutischen Tradition wird Literatur als Lebensäußerung (Dilthey) aufgefasst, die die inneren Zustände der Verfasser ausdrückt. Eigentlich ist es nur konsequent, dass von einem bestimmten Grad von Spezialisierung an ihre Erforschung schließlich als Aufgabe einer eigenständigen Psychologie angesehen wurde; diese löste die Philosophie dort ab, wo sie bis dahin den Gegenstand ‘Seele’ zu behandeln hatte. Erst mit der Herausbildung einer Disziplin Psychologie (erste Institutionalisierungen um 1875) konnte diese Übertragung im akademischen Bereich geschehen. Während unter dem Dach der Leitwissenschaft Philosophie noch alle Aspekte der Literatur – ästhetische, psychologische, soziale – metatheoretisch zusammengeführt werden konnten, erfolgte nun mit der Spezialisierung eine wechselseitige Distanzierung der Bereiche. (Baasner, 147)

50. Literaturpsychologie. Ähnlich wie im Falle der Literatursoziologie bildete sich ein Überschneidungsbereich zwischen den zwei Fächern Psychologie und Literaturwissenschaft. Das Segment der Psychologie, das sich mit Literatur beschäftigt, wird Literaturpsychologie genannt. Es vereint Problemstellungen, die sowohl die psychische Struktur von Autoren und Lesern berücksichtigen als auch die Konstitution und Funktion von literarischer Kommunikation im Hinblick auf ihre psychische Wirkung untersuchen. Ihren Literaturbegriff übernimmt die Literaturpsychologie weitgehend aus der Literaturwissenschaft  – im Sinne eines unumstrittenen Kanons – und untersucht den konkreten Umgang, den Individuen oder Gruppen mit den einschlägigen Texten pflegen. (Baasner, 147f.)

51. Die methodische Basis der Literaturpsychologie ist, wie die der gesamten Psychologie überhaupt, in einen empirischen und einen hermeneutischen Bereich aufzuteilen. Empirisch ist sie dort, wo Verhalten und Handeln in bestimmten Situationen untersucht werden, hermeneutisch dort, wo das Verstehen sprachlicher Äußerungen im Vordergrund steht.

Eine innovative Ergänzung der traditionellen Literaturwissenschaft liefert die empirische Literaturpsychologie. Sie betreibt Labor- und Feldforschung über den Umgang mit Literatur. Dabei steht die Leseforschung im Vordergrund: durch Beobachtung und Befragung werden die Reaktionen von Testpersonen auf literarische Texte unter kontrollierten Bedingungen festgehalten. Aus den Befunden werden Hypothesen und daraus – bei Bestätigung in der weiteren empirischen Prüfung – Modelle oder Theoriekonzepte gebildet. Die wirklichen Menschen und ihre zu beobachtenden Verhaltensweisen werden hier weitaus stärker berücksichtigt als die begrifflichen Konstrukte, mit denen sonst die Literaturwissenschaft ihre Gegenstände Autor und Rezipient faßt. (Baasner, 148)

52. Indem eine Interpretation nicht, wie hermeneutisch üblich, generalisiert wird, sondern in konkreten, unter Theorieanleitung erhobenen Erfahrungsdaten ihre Überprüfung findet, ist sie nicht mehr auf einen einzelnen Interpreten bezogen. So verlieren dessen Intuition, individuelle Selbstbeobachtung und Reflexion ihre spekulativen – und teilweise beliebigen – Züge. In der Praxis könnte dieser Prozeß etwa so aussehen, daß einer Gruppe von Probanden (unter Laborbedingungen oder in einer alltäglichen Situation der Feldforschung) zu einem literarischen Text zugleich zwei oder mehr alternative Interpretationen vorgelegt werden, die sie als ‘plausibel’ oder ‘nicht plausibel’ einschätzen sollen; oder aber sie werden aufgefordert, selbst Interpretationen zu dem Text zu entwerfen.

Über die Beurteilung und Herstellung von Interpretationen hinaus werden auch Prozesse der Textwahrnehmung empirisch erforscht. Dieser Bereich der Kognitionspsychologie, in dem das „Verstehen von Texten zum größten Teil nicht als Methode, sondern als Gegenstand der Wissenschaft“ (Groeben 1987, 65) erscheint, beobachtet die Art und Weise, wie Testpersonen die Vermittlung zwischen dem im Text Mitgeteilten und ihrem eigenen vorhandenen Wissensstand vornehmen. Auch auf diesem Wege kann die Unterscheidung zwischen literarischen oder nicht-literarischen Texten angestrebt werden, sie erfolgt somit nicht mehr nach Textmerkmalen, sondern nach der Entscheidung, die konkrete Rezipienten treffen. (Baasner, 148f.)

53. Neben Text und Rezipient spielen in diesem Vorgang auch die Lektüresituation und die Kenntnis der Rezipienten über den Verfasser eine Rolle: diese vier Faktoren konstituieren gemeinsam ein ‘Sprachspiel’, in dem das Verstehen unter Voraussetzungen der individuellen Wissensorganisation zustande kommt.

In den vielfältigen Modellvorstellungen der Psychologie werden zwei Gruppen unterschieden: die einen gehen von vorhandenen Wissensstrukturen im Individuum aus, die von oben herab auf den konkreten Text angewendet werden (Top-down-Prozesse), die anderen beginnen ihre Betrachtung bei den einzelnen Propositionen des Textes selbst und überprüfen deren aufsteigende Realisierung im Wissensschema des Rezipienten (Bottom-up-Prozesse). Jenseits der Wissensressourcen darf auch der emotionale Bereich nicht ausgeschlossen werden, so dass die psychologische Erforschung von literarischem Verstehen nicht nur auf die zielgerichtete Wissensverarbeitung, sondern ebenfalls auf die diese steuernden Gefühlszustände gerichtet werden muss.

Durch derartige Forschungen erhält der akademische Streit darüber, welche Individuen oder Bevölkerungsgruppen welche Texte aus welchen Gründen lesen, zumindest präzisierte Anknüpfungspunkte. (Baasner, 149)

54. Insgesamt steht die Literaturpsychologie der soziologisch-empirischen Erforschung sozialer Konventionen näher als der auf Literaturgeschichte, Edition und Textanalyse spezialisierten Literaturwissenschaft. Literarische Texte werden als ein möglicher Fall in einem breiten Spektrum von Kommunikations- und Weltdeutungsmustern verschiedenster Provenienz behandelt. (Baasner, 149f.)

55. Psychoanalytische Literaturbetrachtung. Unter den psychologischen Modellen hat die Psychoanalyse das größte Interesse gefunden. Psychoanalyse ist zunächst ein Konzept der Erklärung und Therapie im Bereich abweichenden Verhaltens von Menschen. Die Abweichungen – wie auch das gewöhnliche Verhalten – werden zurückgeführt auf allgemeine Bedürfnisse und Wünsche, mit denen einzelne Individuen unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen allerdings verschieden umgehen.

Grundlage der Therapie ist die Analyse, in deren Verlauf Patienten selbst ihre innere Befindlichkeit und ihre Erlebnisse sprachlich darstellen. Die analytische Leistung besteht anschließend darin, die Elemente der Erzählung auf Grundmuster oder Klassen von immer wiederkehrenden Elementen zurückzuführen, und so schließlich die Besonderheiten der Patientenäußerungen auf das bei allen Menschen Vorfallende zu beziehen und die Abweichungen zu erklären. Die Bezugsebene psychischer Normalität wird von einer Theorie menschlicher Entwicklungsschritte – vor allem in der Kindheit – und einer Instanzenlehre der inneren Ordnung (Ich – Über-Ich – Esnach Freud) aufgespannt. (Baasner, 150)

56. Die Verbindungen zwischen Äußerungen, wie sie als Gegenstand der psychoanalytischen Therapie auftreten, und literarischen Texten wird in den meisten Fällen aus grundlegenden Überlegungen Sigmund Freuds hergeleitet. In seinem Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren (1908) skizziert er die literarische Fiktion als verwandt mit dem Traum. In der Traumdeutung (1900) hatte Freud bereits den Wunschcharakter der Träume erläutert, der nun in der Analogie auch auf literarische Äußerungen zutreffen soll. Für das Zustandekommen der literarischen Phantasie allerdings unterstellt Freud eine zusätzliche bewusste Kontrolle, während im Traum allein die unterbewusste Zensur für die Einschränkung des Dargestellten verantwortlich gemacht wird. (Baasner, 250f.)

57. Freuds Vorgaben auf dem Gebiet der Deutung gehen zurück auf eigene Beobachtungen von Ähnlichkeiten zwischen diversen Strömungen von Textüberlieferungen und Patientenäußerungen im therapeutischen Gespräch. Vorbilder für die spätere literaturwissenschaftliche Interpretation sind dabei auch seine expliziten Auslegungen belletristischer Texte (z.B. Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‘Gradiva’). Freuds Lektüre berücksichtigt besonders den bildungsbürgerlichen Kanon, geht aber gerade in der Gradiva-Studie auch auf einen sogenannten trivialen Text ein. Damit belegt er – früher als die Literaturwissenschaft – das gleichartige Funktionieren literarischer Texte höchst unterschiedlichen literarischen Ranges. (Baasner, 151)

58. Geistesgeschichtliche Literaturverehrer waren bereits zu Freuds Zeiten weder über seine Entdeckungen noch über den Weg, auf welchem er sie gefunden hatte, begeistert. Die implizite Behauptung einer Verwandtschaft von Künstler und Neurotiker schien die Erhabenheit des Literaturbegriffs ebenso zu beeinträchtigen wie die Rückführung ästhetischer Oberflächenphänomene auf eine verursachende Sexualität. Deshalb erfuhr zeitweilig der konkurrierende tiefenpsychologische Ansatz Carl Gustav Jungs größere Anerkennung, der eine Idealisierung der Kunst betreibt. (Baasner, 151f.)

59. Seit Freuds Zeiten ist die Theoriebildung in der Psychoanalyse gewaltig vorangeschritten. Diejenigen literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die sich an den noch wenig ausgefeilten und empirisch kaum bestätigten Entwürfen der Gründungsväter orientieren, verfehlen die methodischen Möglichkeiten, die psychoanalytische Ansätze heute bieten. Deren Vorteil gegenüber einer traditionellen Hermeneutik besteht darin, dass ihre hermeneutischen Vorgehensweisen durch Annahmen über psychische Strukturen theoretisch modelliert werden. Das Verstehen des Subjekts ist keine undurchdringliche Einheit mehr, sondern wird zusammengesetzt aus zumindest teilweise empirisch überprüfbaren Abläufen. Anstelle der Unwägbarkeiten einer interpretativen Beliebigkeit, die sich auf freie Annahmen über das verstehende Subjekt stützt, bestehen Modellstrukturen, die in ihrer systematischen Ausführung und mit allen Implikationen übernommen werden können (und müssen). (Baasner, 152)

60. Textentstehung. Aus dem Verhältnis zwischen dem Freudschen Modell des tagträumenden Dichters und dem literarischen Text ist ein Kreativitätsbegriff abzuleiten, der die Hervorbringung von Texten durch Autoren in Ursprung, Verlauf und Ergebnis festhält. Er analogisiert die Textproduktion mit dem Erzeugen von Vorstellungen durch Traum und Wahn, in denen sich vor allem unbewusste Wünsche artikulieren. In dieser Hinsicht umfasst Kreativität zunächst einen Primärprozeß, der nach dem Lustprinzip abläuft. Die Wünsche unterliegen in dieser ersten Artikulation nicht der Kontrolle durch Logik und Wirklichkeitsbezug; diese beiden Kriterien bringt erst der Sekundärprozeß ein, der nach dem Realitätsprinzip verfährt. Lust- und Realitätsprinzip überlagern sich in ihren Auswirkungen auf das Endprodukt.

Vorbild für diese Phasenbildung ist die kindliche Entwicklung; darin werden beide Prozesse in chronologischer Aufeinanderfolge gedacht. (Baasner, 152)

61. Psyche des Autors. Konkrete Autoren werden für den psychoanalytischen Blick in gewisser Weise durchsichtig, weil sie in ihren ‘Tagträumen’ nach dem skizzierten Modell gleichzeitig Auskunft über sich selbst geben. Ihr psychischer Zustand und die Entwicklung ihrer Vita können daraus abgelesen werden. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Personen hinterlassen sie sozusagen analysierbare Visitenkarten und bieten damit Anlass zu einer psychoanalytischen Biographieforschung. Wenn angenommen wird, dass literarische Werke durch einen von der psychischen Normalität abweichenden Kreativitätsakt generiert werden, erscheint der Schriftsteller tendenziell als Neurotiker und sein Text als Äußerung, die der Analyse seiner eigenen Seele dient. Wie in Freuds Fallberichten über Patienten wird nun statt aus der Erzählung auf der Couch aus dem dichterischen Oeuvre eine Krankengeschichte in analytischen Kategorien abgeleitet. (Baasner, 153)

62. Lesen und Interpretation. Auch auf der Seite der Rezeption muss das Un- oder Vorbewusste, da es einmal als gültiges Strukturprinzip der menschlichen Psyche unterstellt wurde, als wirksam angenommen werden. Beim Lesen erleidet oder aktiviert das wahrnehmende Subjekt ebenso wie das produzierende Mechanismen, die nicht oder nur eingeschränkt bewusstseinsfähig sind. Sie greifen in jeden Leseakt ein.

Der erste Vorschlag, die Rezeptionstheorie Norman N. Hollands, stellt das Lebensthema der Lesenden in den Mittelpunkt. Es wird als Teil des Selbst in jedem Text aufs neue gesucht. „[...] wir alle benutzen als Leser das literarische Werk, um in ihm ein Symbol unseres Selbst und schließlich unser Ebenbild zu entdecken. Mit Hilfe des Textes arbeiten wir unsere charakteristischen Bedürfnis- und Anpassungsmuster durch.“ (Holland 1979, 1136) In diesem Modell wirkt der Text sozusagen wie ein  Spiegel, in dem letztlich nie etwas anderes aufscheinen kann als das, was die Lesenden hineinprojizieren. Allerdings hat der Text als reflektierendes Medium auf das Abbild ebenfalls Einfluss, es wird unter der formenden Wirkung der Textstruktur zurückgespiegelt.

Zugleich fördert eine Lektüre nach diesem Modell stets ähnliche Aspekte an höchst unterschiedlichen Texten zutage. Wenn Lesende unbewusst nur nach Variationen zu ihrem Thema suchen, dann ignorieren sie letztlich jene Textelemente, die ihre vorgegebene Auffassung stören, oder sie vermögen bei der Lektüre mit bestimmten Texten gar nichts anzufangen und lehnen eine Auseinandersetzung mit ihnen ab. (Baasner, 153f.)

63. Im zweiten Vorschlag wird ein generell für alle Kommunikationsformen gültiges Interaktionsschema fruchtbar gemacht, das beide Seiten, produzierende wie rezipierende, in symmetrischer Weise einbezieht. Die Grundannahme besteht darin, dass in einer Kommunikationssituation die eine Seite der anderen durch die Strukturierung ihrer Äußerungen Rollenangebote macht. Diese werden als solche wahrgenommen und als Grundlage für das Gespräch aktualisiert durch einen Akt der Projektion, in dem die andere Seite eigene alte Rollenerfahrungen (in der Regel schon seit der Kindheit ausgeprägt) in diese angebotenen Gesprächsstrukturen einsetzt. Diese Rolleninszenierung wiederum wird beantwortet durch eine entsprechende Verhaltensweise der ersten Gesprächsinstanz, sie schätzt das aufgegriffene Rollenmuster gemäß ihrer eigenen Kompetenz ein und reagiert mit einer Gegenprojektion.

Dieses Modell wurde in der psychoanalytischen Therapiepraxis entwickelt und getestet; auf literarische Kommunikation angewendet, macht es diese selbst zum Rollenspiel (vgl. Pietzcker 1992). Dabei müssen mindestens zwei Ebenen unterschieden werden: Projektion und Gegenprojektion zwischen Autor und Publikum (textextern, aber über den Text vermittelt) sowie zwischen Instanzen innerhalb des Textes (textintern als impliziter Erzähler oder Leser). Die Polysemie der literarischen Texte läßt in dieser Hinsicht eine große Bandbreite von Projektionen zu. (Baasner, 154f.)

64. Der dritte Vorschlag bezieht sich auf eine Identifikation zwischen Lesenden und Textelementen. Er kann als das allgemeinste Modell der Annäherung des lesenden Subjekts an die Entwürfe, die es im Text auffindet gelten. Es geht von der gängigen Lektüreerfahrung aus, in der sich Leser in das fiktionale Schicksal von literarischen Figuren hineinversetzen. Insofern begünstigt es alle jene Interpretationen, in denen besondere Affinität oder Abneigung gegenüber Figuren eine Rolle spielen. Dabei ist es das theoretisch am wenigsten entfaltete Modell unter den hier genannten. Die Folge ist, dass sich literaturwissenschaftliche Arbeiten besonders oft darauf berufen. Bei der Identifikationsannahme lässt sich scheinbar auch im Duktus eines ‘gesunden Menschenverstandes’ verfahren. Solche theoretisch nicht ausreichend reflektierten Anwendungen bringen die psychoanalytische Literaturwissenschaft jedoch letztlich in Verruf. (Baasner, 155)

65. Figuren, Symbole. Wie die traditionellen literaturwissenschaftlichen Arbeiten kann auch die psychoanalytische Literaturbetrachtung geläufige Perspektiven einnehmen, etwa die des Blickes auf die dargestellte fiktive Welt oder deren Bestandteile. Auf der textimmanenten Ebene können Figuren der Handlung wie psychische Konstrukte mit einem ‘Innenleben’ betrachtet werden. Diese erscheinen als Abbilder psychischer Konstellationen und werden analysiert, als seien sie wirkliche Menschen. Da Figuren im literarischen Text jedoch gegenüber der Wirklichkeit in ihrer Komplexität stark reduziert sind, stehen nur die in der Konstruktion des Textes als wichtig modellierten Züge im Mittelpunkt. Meist aber werden nicht einmal alle dargestellten oder deutlich erschließbaren Figurencharakteristika für die Interpretation herangezogen, sondern nur Gruppen von auffälligen Einzelheiten. Zu ihnen gehören vor allem die literarischen Symbole, die gedeutet werden wie die Symbole des Traumes. Vasen, Flaschen und Höhlen als weibliche, Stangen, Schwerter und Zeppeline als männliche Geschlechtskennzeichen gehören zu den Deutungen, die in Zeiten breitenwirksamer ‘Küchenpsychoanalyse’ allen sogleich auffallen. (Baasner, 155f.)

66. Eine ganze Reihe von Symbolen und Symbolkombinationen tauchen in literarischen Texten über ein breites Spektrum von Zeiten und Kulturen verteilt immer wieder auf. Sie bilden offenbar ein von historischen Kontexten relativ unabhängiges Bildarsenal; insofern scheint es gerechtfertigt, sie als Repertoire von ‘Urphantasien’ (Schönau 1991, 23) anzusehen. Hier liegt auch der gemeinsame Ursprung von Psychoanalyse und psychoanalytischer Literaturinterpretation. Die Darstellung unbewusster Wünsche etc. durch Symbole wird wegweisend ausgeführt in der Traumdeutung. (Baasner, 156)

67. Kritikpunkte aus ideologiekritischer und sozialhistorischer Sicht: bedeutet Psychoanalyse nicht ebenso wie die werkimmanente Interpretation einen Rekurs auf das Individuelle? Einen Rückzug nach innen? Werden dabei die gesellschaftlichen Umstände nicht insgesamt ausgeblendet? Den Kritikern galt schon bald folgendes als Grundproblem psychoanalytischer Literaturinterpretation: dem theoretischen Gerüst der Psychoanalyse kann über die Traumata der frühen Kindheit und deren spätere Folgen hinaus nichts mehr von Bedeutung [...] für die Literatur sein. Damit ist [...] jeder Einfluß gesellschaftlicher Erfahrung, materieller Bedingungen des Schreibens usw. ausgeschlossen“ (Stenzel 1982, 13f.). Im Gegenzug erhoben neuere Ansätze der Sozialpsychologie – die freilich meist nur individualpsychologische Kategorien auf gesellschaftliche Gruppen übertrugen – um so lauter den Anspruch, Bestandteil der Sozialwissenschaften zu sein. (Baasner, 156f.)

68. Lacan. Im  Zuge des Neostrukturalismus ist auch die Freud-Rezeption von Jacques Lacan bedeutsam geworden, deren Anfänge bis in die 1930er Jahre zurückreichen. Vor allem die für die Diskussion um eine weibliche Ästhetik wichtigen Theoretikerinnen modellierten ihre Konzepte an und in kritischer Auseinandersetzung mit „Großpapa Lacan“ (Hèlène Cixous).

Charakteristisch für Lacan ist die Verknüpfung von Psychoanalyse und linguistischen Verfahren, wobei letztere an die Zeichentheorie Saussures anknüpfen. Über die bei Freud zu findende Analogiesetzung von Text und Unbewusstem hinaus versteht Lacan das Unbewusste als eine Sprache – als eine Sprache des Begehrens allerdings, die in der erstarrten (Schrift-)Sprache nicht mehr zum Ausdruck kommen kann. Ebenfalls im Rekurs auf Freud postuliert Lacan ein Aufbrechen der Einheit des Zeichens. So fahndet Lacan auch nicht nach (verdrängten) Signifikat, sondern postuliert einen Primat des Signifikanten. (Baasner, 157)

69. Die Dynamik des Sprechens entsteht durch eine unendliche Bewegung, ein permanentes Drängen, in dem das Subjekt sich zu konstituieren sucht. Lacan unterscheidet zwischen dem moi, dem imaginären Ich, und dem je, dem wahren begehrenden Ich. Das Ich-Imago wird konstituiert im sogenannten ‘Spiegelstadium’ der kindlichen Entwicklung und ist verbunden mit Spracherwerb und dem Einbruch der – realen und symbolischen – Vaterinstanz in die Mutter-Kind-Dyade. Durch das Eintreten in die symbolische Ordnung wird das Unbewusste als Unbewusstes erst eröffnet: die primäre Verdrängung – Unterdrückung des Begehrens und Verlust der präodipalen Einheit mit der Mutter – schafft das Unbewusste. Subjektwerdung ist also nur durch Verlust möglich. (Baasner, 157)

70. Für die Literaturbetrachtung ist von Bedeutung, dass nicht das Unbewusste von Probanden oder einer Autorinstanz Gegenstand wird, sondern die textuelle Strukturbildung selbst. In den Text ist das Begehren eingeschrieben als Drängen des Buchstabens, Bewegung des Signifikanten, als unendliche Suche des Subjekts nach Identität. Insofern ist der Text nicht das zu analysierende Zeugnis einer individuellen Verdrängung, sondern Ausweis des begehrenden Vorsymbolischen einer- und der entgleitenden Konstruktionsleistung andererseits. (Baasner, 157f.)

71. Struktural-poststrukturale Psychoanalyse. Jacques Lacan hat sich zeitlebens schlicht als Interpret der Schriften Freuds verstanden. Gleichwohl ergeben sich Unterschiede, vor allem im Hinblick auf die Linguistisierung bzw. Strukturalisierung der Psychoanalyse wie auch im Hinblick auf die Einbeziehung der Psychose ins Feld der Analyse. Auch die Skepsis gegenüber der Möglichkeit, Störungen durch Erkenntnis beheben zu können, wäre aus der Zahl der Abweichungen hervorzuheben.

Mit Lacan wird die Psychoanalyse in eine strukturale und – im gleichen Moment – in eine „poststrukturale“ oder neo- bzw. spätstrukturale Disziplin transformiert. Lacan stellt, von Saussure ausgehend, die Sprache ins Zentrum seiner Psychoanalyse, definiert den Menschen als das sprechende, symbolbildende Tier und erklärt: „das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache“ (Lacan 1978, 26); Lacan liest Freuds Werk quasi als semiotisches System. Aber er zertrennt nicht nur – in strukturaler Weise, wie Saussure – die traditionelle Bindung von Symbol und gemeintem Referenten, er trennt – „poststrukturalistisch“ – auch Signifikant (Zeichenkörper) und Signifikat (Vorstellungsschema) voneinander. (Hiebel, 57f.)

72. Das Begehren. Lacan erhebt den „Wunsch“ explizit zum Zentrum der seelischen Logik und gibt ihm den Namen „Begehren“ (désir); er lässt das Begehren, das durch seine Beziehung zur Phantasie definiert ist, jener Kluft zwischen „Bedürfnis“ (besoin) und „Verlangen“ bzw. „Bitte“ (demande) entspringen, die sich im Prozess der fruchtbar-furchtbaren Separation eröffnet, welche über das narzißtische Spiegelstadium von der dyadischen Mutter-Kind-Totalität zum Ödipus-Komplex als dem Ende der Geburt führt: Indem das Subjekt durch den „Dritten“, der die duale Beziehung oder Dyade in Frage stellt – d.h. durch den Vater – in die Ordnung der Familie – die symbolische (sprachliche) Ordnung überhaupt – eingeführt wird, sieht sich die Erfüllung des „Bedürfnisses“ fortan auf die Formulierung des „Verlangens“ (demande) verwiesen und können Ich und Anderer nurmehr durchs Tor der Sprache zueinander finden. Mit der Sprache wird zugleich das Unbewusste geboren. Der Eintritt in die sprachliche Ordnung – und somit die soziale Welt – ist der Einschnitt, der den nostalgischen Wunsch, das Begehren, allererst provoziert. Das Begehren, der Wunsch (die nicht-reale, quasi halluzinatorische Wunscherfüllung, die das Unbewusste und seine „Primärprozesse“ bestimmt – im Gegensatz zu den „Sekundärprozessen“ des „Realitätsprinzips“ sind sie dem „Lustprinzip“ zuzurechnen) stellen sich nun erst der Realität entgegen in den Träumen, den Fehlleistungen und Symptomen. Der Begriff des Wunsches oder Begehrens trennt demnach in radikaler Weise einen soziologischen Diskurs, der sich um die Begriffe des „Bedürfnisses“ und des „Verlangens“ als der Dimension sozialer Interaktion zentriert, von einem genuin psychoanalytischen, der sich auf die Phantasmen und Gesetze des Unbewußten bezieht. (Hiebel, 58f.)

73. Das Spiegelstadium und das Imaginäre. Den Begriffen Bedürfnis, Anspruch und Begehren entspricht in gewissem Sinn die Trias von „Realem“, „Imaginärem“ und „Symbolischem“. Das Reale als das Materiell-Naturhafte tritt uns nur als die durch das Symbolische strukturierte Wirklichkeit entgegen; innerhalb der symbolischen Ordnung (der Sprachbeziehung als Grund von Intersubjektivität) aber etabliert sich das Feld des Imaginären: der Spiegelungen, Projektionen und Phantasmen (in Bildern und Worten). Es hat seinen Ursprung im sogenannten „Spiegelstadium“, in welchem das Infans (im Alter von 6-8 Monaten) sich im Spiegel oder in einem anderen Kind zu erkennen meint und fortan sein Ich („moi“) – in einem Akt der Entfremdung und Verkennung – nach diesem Bilde des anderen formt. (Hiebel, 59)

74. Zerstückeltsein, Fragmentarisiertsein haben bis zu diesem Zeitpunkt die Selbstwahrnehmung des Infans charakterisiert; jetzt wird ihm – zusammen mit der Idee der Koordinierbarkeit seiner bislang unkontrollierten Bewegungen – das (illusionäre) Bild einer Einheit seiner selbst vorge-“spiegelt“: Unser Ich ist demnach modelliert nach der Imago des anderen, ist „imaginär“; das Ich ist ein anderer. Imaginäre Identifikationen, Vermengungen von Ich und anderem, Projektionen usw. sind das Zeichen dafür, dass sich ein selbständiges Ich noch nicht ausgebildet hat. Und auf dergleichen imaginäre Vorstellungen fällt das Subjekt und besonders derjenige, dessen Einführung in die „symbolische Ordnung“ mittels der ödipalen Ereignisse nicht glückt, immer wieder zurück; im Falle der Psychose führt die Regression zurück bis auf die Vorstellung vom zerstückelten Körper. (Hiebel, 59f.)

75. Die duale Beziehung zwischen Ich und anderem wird im Verlauf des ödipalen Dramas durchbrochen durch den Dritten: den Anderen. Der Vater als Repräsentant der symbolischen Ordnung führt zur Separation von Mutter und Kind; dieser „symbolische Vater“ fungiert schlicht als Name, als Name-des-Vaters.

Der Name oder das Nein des Vaters, die das Inzesttabu als primäres Gesetz verkünden, durchschneiden die Mutter-Kind-Dyade und ermöglichen durch diesen Schnitt der „symbolischen Kastration“ dem In-fans, dem Nicht-Sprechenden, den Zugang zur symbolischen Ordnung und damit zur Selbständigkeit des Ich („je“). Aber mit dem Eintritt in die Sprache (und ihre symbolische Ordnung) ist auch schon das Unbewusste gesetzt, denn dieser Eintritt bedeutet zugleich den Ausgang aus dem ‘Paradies’ der Symbiose und damit jene Urverdrängung, die das Subjekt spaltet. Das vom anderen abgespaltene Subjekt ist fortan ein Ich, das durch einen Mangel charakterisiert ist: den Verlust der imaginären Einheit mit der Mutter. Es muss das Begehren nach der verlorenen Einheit verdrängen, oder umgekehrt: die Verdrängung generiert dieses Begehren. (Hiebel, 60f.)

76. Der Phallus. Die imaginäre ‘Symbiose’ zerbricht indessen auch dann, wenn das Kind erkennt, dass die Mutter noch ein anderes Begehren als das nach dem Kinde hegt: das nach dem Dritten.. Der „Phallus“ wird zum (imaginären) Zeichen dessen, was das Kind sein oder haben müsste, um sich das Paradies weiterhin sichern zu können; er ist Symbol eines imaginären Zauberschlüssels zur Einheit und Ganzheit, er hat nichts (nichts Wesentliches) mit dem biologischen Geschlechtsunterschied zu tun. Damit ist auch der Gegensatz von Phallus-Haben und Kastriert-Sein ein rein symbolischer und kann auf beide biologischen Geschlechter bezogen werden. (Hiebel, 61)

77. Metapher und Metonymie. Da das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist, konstituiert sich der Diskurs des Anderen aus materiellen Signifikanten; nur können diese für alles stehen außer für das, was sie sagen. Auch sind die Signifikanten letztlich abgekoppelt von einem Signifikat, dem verlorenen Objekt „a“ bzw. dem imaginären „Phallus“, der dieses Objekt substituiert.

Es ist der Schnitt zwischen Signifikant und Signifikat, der das „poststrukturalistische“ Moment an Lacan indiziert und die Verwandtschaft mit Derridas Konzept der „différance“, des unaufhebbaren Aufschubs, markiert. Saussure hatte deutlich gemacht, dass es keinen für sich bestehenden Signifikanten gibt, dass jeder „Signifikant“ die Spur aller anderen in sich trägt, „Differenzen“ zu allen anderen Signifikanten eines gegebenen „Wert“- bzw. Bezugs-Systems in sich vereint. Erst der jeweilige Kontext weise dem arbiträren Signifikanten ein Signifikat zu. Diese Lockerung des Bandes zwischen Signifikant und Signifikat radikalisieren Lacan und der gesamte Spätstrukturalismus. (Hiebel, 62)

78. Metapher und Metonymie werden mit Freuds „Verschiebung“ und „Verdichtung“ in Verbindung gebracht. Im Traum ist bekanntlich jede feste Zuordnung von Zeichenkörper und Bedeutetem, von Signifikant und Signifikat aufgelöst. Ein Pferd kann – metaphorisch – für den leiblichen Vater stehen; eine „Bahre“ kann, obgleich dies widersinnig scheint, auf metonymischen Weg für das Begehren nach einer bestimmten Person stehen, nur weil der Zufall einmal beides miteinander verband.

Lacan geht in seiner Definition von Metapher und Metonymie mit R. Jakobson auf die zwei Grundfunktionen der Sprache zurück, die paradigmatische bzw. selektive, die er in Beziehung zur Metapher (und zur „Verdichtung“) setzt, und die syntagmatische bzw. kombinatorische, die er mit der Metonymie (und der „Verschiebung“) in Verbindung bringt. (Hiebel, 63f.)

79. Für Lacan sind nicht nur der Traum, das Symptom und die Fehlleistung Ausdrucksformen unbewusster Bedeutungen, sondern dies gilt ausnahmslos für jede menschliche Artikulation. Da die poetische hier nicht auszunehmen ist, gilt für viele sich an Lacan orientierende Literaturinterpreten der struktural-psychoanalytische Ansatz nicht als fachfremd und einseitig, sondern als universell und notwendig. Diese Interpreten setzen sich das Ziel, das Gesetz eines gegebenen Zeichen-Gefüges zu eruieren. (Hiebel, 64)

80. Poe: ‘Der entwendete Brief’. Lacan bestimmt die Literatur als Zeichen-Botschaft mit Ausradierungen, Auslassungen, Anspielungen, Metonymien und Metaphern, als doppelten (bewusst-unbewussten) Diskurs.

Zu Edgar Allen Poes Der entwendete Brief . Eine Person, nach Lacan die Königin, muss zusehen, wie ihr ein sie kompromittierender Brief, von welchem der König nichts wissen darf, vom Minister D-- entwendet wird. Diese Konstellation wiederholt sich, als der Detektiv Dupin dem Minister den offen daliegenden – und insofern verdeckten, von niemand erkannten – Brief stibitzt und eine Art von Faksimile hinterlegt. Der Brief als Buchstabe oder der Buchstabe als Brief – Signifikant des Begehrens als des Begehrens des Anderen – erhält seine (für das Unbewusste relevante) Bedeutung nur durch das Begehren des Anderen. Das Begehren („désir“), entsprungen dem Mangel, imaginiert sich das Zeichen einer Allmacht, das Szepter, in der Hand des Andern. Dem jeweiligen Besitzer ist der Brief/letter/Buchstabe Machtmittel und zugleich Gefahr, er allegorisiert Phallus und Kastration. Sein Zirkulieren symbolisiert das unentwegte Changieren von Phallus und Kastration. (Hiebel, 64f.)

81. Applikationen der Theorie Lacans auf dem Feld der Literaturtheorie und -interpretation. Die Applikation von Lacan auf die Literatur geschieht nicht in der Weise, dass man – wie in der strukturalistischen Literaturanalyse – eine fundamentale Grammatik der Poesie zu etablieren versucht, sondern dadurch, dass man 1. verschiedene Aspekte literarischer Texte aufzuhellen trachtet und 2. die Struktur des Subjekts (nach Lacan) in der Poesie zu finden sich bemüht. (Hiebel, 66)

82. Friedrich A. Kittler. Kittler verbindet die Foucaultsche Diskurstheorie mit der – historisierten – Theorie Lacans. In einigen Studien behandelt er die Konstituierung und die Veränderung der Struktur der modernen Familie sowie deren Korrelate in der Psyche wie im Diskurs von der Psyche.

Zwei Stufen des Paradigmawechsels setzt Kittler an: jene mit Lessing gegebene der symbolischen Vaterschaft, in welcher die symbolische und die reale Funktion des Vaters noch zusammenfallen, sowie jene am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende Konstellation, in welcher es zu einer Trennung von symbolischem und realem (schwachem, degradiertem) Vater komme und das Begehren des Kindes fortan von den Müttern codiert werde. (Hiebel, 68)

83. In seiner Studie über E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann macht Kittler deutlich, dass die Psychoanalyse literarischer Texte – bei Freud wie Lacan – nicht auf den empirischen Autor und seine vermeintlichen Pathologien abhob. Es gehe ihr um Zurückführung von Willkür auf Gesetz (und nicht von Fiktionen auf Fakten). Kittler zufolge ist im Sandmann – Freud habe das jedoch im Prinzip schon geleistet – die Verdoppelung bzw. Spaltung der Vaterfigur (Vater Nathanaels/Coppelius und Spalanzani/Coppola) zu erkennen, die symbolische Qualität der Augen wie die Substituierbarkeit derselben (Kastrationsmetaphorik) zu entdecken, die narzißtisch-imaginäre Spiegel-Beziehung Nathanaels zur Puppe Olimpia sowie die Parallelität der verschiedenen Zerstückelungsphantasien (Nathanael/Olimpia) usw. zu entziffern. (Hiebel, 70)

84. Mit Lacans Hilfe gelingt die Erhellung des psychotischen Aspekts der erzählten Ereignisse und auch die Historisierung der Erziehungspraktiken, die zu Nathanaels Wahnvorstellungen führten bzw. die Historisierung von Psychopathologien im allgemeinen.

Freuds Verknüpfung von Augen-Angst und Kastrations-Angst verbindet Kittler mit dem Lacanschen Theorem des Gleitens des Signifizierten unter dem Signifikanten. Denn Signifikanten können für alles stehen, was in ihnen nicht (direkt) gesagt ist. In diesem Sinne werden Augen, Puppe, Sandmann usw. als Elemente eines literarischen Zeichensystems gelesen. (Hiebel, 70f.)

85. Das „Phantom unseres Ichs“ erscheint als phantasmatisches Produkt des Spiegelstadiums. Die von Nathanael in narzißtischer Weise begehrte Automatenpuppe Olimpia ist eine Entsprechung dieses phantasmatischen Ich; kein Wunder, dass sie in der psychotischen Krise zerfällt. Das Bild der Automatenpuppe ist also ein Korrelat der – nach Lacan immer vom Zerfall bedrohten – Imago des Ich, das nicht Herr der Bilder, sondern aus Bildern zusammengeleimt ist. (Hiebel, 71)

86. Das von der Zerstörung bedrohte Auge – Element der imaginären Beziehung zwischen Nathanael und Olimpia bzw. zwischen Kind und Mutter – wird, so Kittler, in der Erzählung wie in der Theorie Lacans durch den Auftritt des Dritten zu einem Symbol des Phallos. Da aber die Einführung in das Gesetz im Namen-des-Vaters nicht gelinge, befinde sich Nathanael fortan in der Gefahr des psychotischen Rückfalls in den imaginären und prä-imaginären Zustand, kehre der Schrecken der ursprünglichen Zerstückelung wieder.

Im Rückgriff auf Lacans Thesen weist nun Kittler einer solchen Pathologie und einer solchen Erzählung ihren historischen Ort zu: eben den der Konfundierung des realen Vaters mit dem symbolischen in der Epoche des Verfalls der Vater-Imago. Damit ist aber auch der Psychoanalyse selbst ihr historischer Ort zugewiesen: „Die Psychoanalyse verbleibt in jenem Diskursraum, der die Macht der Primärsozialisation erfunden und praktiziert hat“ (Kittler 1978a, 112). (Hiebel, 71)

87. Helga Gallas. Eine rein an Lacan orientierte Textanalyse stellt Helga Gallas’ Studie zu Kleists ‘Michael Kohlhaas’ dar. Gallas segmentiert zunächst das narrative Syntagma dieser Erzählung im Sinne des frühen Strukturalismus. Die Ausgangssituation ist die der scheinbar intakten Welt.

1. In der ersten Handlungs-Sequenz tritt Kohlhaas ein überlegener „Herausforderer“, der Junker Wenzel von Tronka, entgegen, beraubt ihn der Pferde und erniedrigt ihn zum „Gedemütigten“.

2. Die zweite Sequenz führt zu einer Umkehrung der Machtverhältnisse. Der Junker schmachtet im Stadtgefängnis zu Wittenberg. Kohlhaas hingegen hat sich mit Hilfe seines Kriegshaufens selbst zum Machthaber ernannt.

3. Es kommt zu einer Wiederholung dieser zwei Sequenz-Typen. Die dritte Folge nämlich wirft Kohlhaas auf die Position des „Gedemütigten“ zurück. Sein Gegenspieler ist nun der Kurfürst.

4. Der Kurfürst von Sachsen erblickt die Kapsel am Halse des Kohlhaas, in der sich die Weissagung der Zigeunerin befindet; fortan ist er abhängig von Kohlhaas. Dieser ist nun in der Position des Überlegenen, auch wenn er mit dem Tode bezahlt. (Hiebel, 72f.)

88. Gallas behauptet nun, die vier Handlungs-Sequenzen seien Transformationen ein und derselben Struktur; die Elemente bzw. Positionen dieser Struktur (Personen, Pferde, Kapsel) seien nicht in ihrer realen, sondern nur in ihrer symbolischen Bedeutung zu verstehen, denn die Pferde seien z.B. durch die vom Kurfürst so begehrte Kapsel substituierbar, der Junker Wenzel werde durch den sächsischen Kurfürst ersetzt usw.

Um die Pferde als reale und bestimmte Objekte scheint es Kohlhaas letztlich nicht zu gehen. Auch um das Recht-Haben und Recht-Bekommen geht es am Ende nicht mehr, sondern nur noch um das sadistische „Quälen-Wollen“. Auch verlagert sich Kohlhaas’ Hass vom Junker von Tronka auf den Kurfürsten von Sachsen, wodurch deutlich wird, daß beide Personen auf etwas jenseits ihrer selbst verweisen, d.h. als Repräsentanten des Namens-des-Vaters in Erscheinung treten. Dass die Positionen des „Herausforderers“ und des „Gedemütigten“ wechseln können, macht deutlich, dass es weniger um reale Macht als vielmehr um eine Zirkulation von Symbolen der Macht (des „Phallus“) geht.

Man kann also davon ausgehen, dass das Objekt des Begehrens wechselt, dass mithin auch diese Objekte als reale auf ein hinter ihnen sich verbergendes, sich entziehendes imaginäres Objekt des Begehrens verweisen – das verlorene „Objekt a“, den „Phallus“ als Symbol einer imaginären Einheit. Sie fungieren als Signifikanten des Begehrens. (Hiebel, 73f.)

89. Die Struktur (das Paradigma) des Erzähl-Syntagmas kann nun auf die ödipale Dreieckskonstellation bezogen werden, in der Kohlhaas die „Position des Sohnes einnimmt, der Landesvater die Position des Vaters und die Zigeunerin die zwischen ihnen vermittelnde mütterliche Instanz“. Es geht um das Zirkulieren eines Signifikanten, der jeden Moment verloren gehen kann.

Der Signifikant wird lebendig, wenn das Begehren des Anderen ins Spiel kommt: Die Weissagung wird nur deshalb für Kohlhaas zum begehrten Objekt und zum Machtmittel, „weil dieser Zettel das Objekt des Begehrens eines anderen ist“.

Nicht nur durch den Anderen sind das Objekt des Begehrens und der Signifikant gesetzt und bestimmt, das Objekt bzw. der Signifikant werden unaufhörlich zum Anderen, sie ändern sich. Das Subjekt ist „gezwungen, etwas anderes zu begehren als das, was es ursprünglich begehrte“. (Hiebel, 74f.)

90. Gallas bezieht also die Struktur der Erzählung auf die Ursprünge des Begehrens: die Trennung von Kind und erstem Liebesobjekt, von Signifikant und fortan unerreichbarem Signifikat; sie bezieht sie auf die Ursprünge der Substituierbarkeit von Vater- und Mutterimagines, von Autoritäts- und Wunsch-Bildern. Metaphorische Substitution und metonymische Verschiebung sind unabänderliche Gesetze der „symbolischen Ordnung“. Und da dieses Gesetz vor der literarischen Fiktion nicht halt macht, meint Gallas mit Lacans Hilfe nicht nur eine partikulare (psychologische) Schicht der Erzählung freigelegt, sondern am Text die (spezifische) Artikulation eines universellen Gesetzes demonstriert zu haben, d.h. die (spezifischen) Formen des doppelten (bewusst-unbewussten) Diskurses des gespaltenen, durchgestrichenen Subjekts.

Daher eröffnet für sie Lacan ein Verfahren, das über die vordergründige Eigentlichkeit literarischer Texte hinauszugehen gestatte, das Wörtlich-Reale, das bewusst Symbolisierte, das Philosophische oder das Soziale des Textes zu überschreiten erlaube. (Hiebel, 75)

91. Kafka und die Moderne. Hiebels Studien zu Kafka gehen an verschiedenen Stellen auf Lacan zurück; die Methode ist als die des parasprachlichen Kommentars zu verstehen, der kongeniale Parallelen zwischen werkimmanenten Textbefunden und Lacanschen Theoremen aufzuweisen versucht. Aus Texten Kafkas werden Strukturen des Imaginären (Spiegelungen, Narzißmen), Zeichen des abwesenden „Symbolischen Vaters“ und Bilder der „symbolischen Kastration“ herausgehoben. (Hiebel, 76)

92. Die Studie zu Kafkas Ein Landarzt , die nicht als „Traum“-Text im Sinne des Semiotik symptomatischer Primärprozesse, sondern als Simulation der Semiose des Unbewussten verstanden wird, illustriert die bei Kafka in Szene gesetzte endlose Verschiebung des Signifikats, das immer wieder in die Position des Signifikanten rutscht. Es etabliert sich eine (kreisförmige) Kette von metaphorischen Substitutionen, ein Metaphern-Zirkel: „Rosa“, die rosa „Wunde“, die „rot eingedrückten Zahnreihen“ usw. formieren die (zirkuläre) Kette der einander (wechselseitig!) ersetzenden Signifikanten. Da jedes Element dieser Kette sowohl in der Position des Signifikanten als auch – für einen Moment – in der Position des Signifkats stehen kann, wird die Fixierung eines letzten Signifikates verhindert bzw. hinausgeschoben. (Hiebel, 76f.)

93. Das Subjekt ist gespalten, es verfügt nicht über den von und in ihm abgespaltenen, ausgesperrten Teil. So zeigt sich im Landarzt, dass das Subjekt des Textes nur in einer permanenten Aufschubbewegung fassbar ist und dass es in verschiedene, imaginäre Bilder oder Spiegelungen zerfällt: Arzt, Patient, Knecht und Magd sind Imagines ein und derselben Person. (Hiebel, 77)

94. Im Zuge einer psychosemiologischen Neulektüre Freuds durch Jacques Lacan, einer dekonstruktiven Lektüre Freuds und Lacans und der feministischen Kritik wurden neue Forschungsansätze und -gebiete entwickelt. Sie betreffen insbesondere eine Theorie der Psyche als Text, den Phantasiebegriff und die kulturelle Funktion von Literatur. (Haselstein, 295)

95. Freuds Formel, der Träumer „weiß nicht, was er weiß; vielmehr: er weiß es doch, aber er weiß nicht, dass er es weiß und glaubt daher, dass er es nicht weiß“ (Freud 1973a, 98) beschreibt die Dezentrierung des Subjekts und zugleich den Anspruch der Psychoanalyse, in das Gleichgewicht miteinander im Konflikt liegender psychischer Kräfte, die dieses Nicht-Wissen produzieren, eingreifen zu können. Die Grundannahme der psychoanalytischen Theorie der Subjektivität besteht darin, dieses Nicht-Wissen, das der Rätselhaftigkeit des Traumes entspricht, als Symptom eines allgemeinen Gesetzes des psychischen Apparats aufzufassen, das auch für diejenigen psychischen Produkte gilt, die in ihrer Bedeutung scheinbar transparent sind und der Kontrolle des Bewusstseins unterliegen. Ausgehend von einer Praxis der Traumdeutung konstruiert Freud psychische Prozesse der Verdichtung und Verschiebung als Regulative der Relation von Unbewusstem und Bewusstem. (Haselstein, 295)

96. Die psychoanalytische Bestimmung des Traums als Wunscherfüllung gibt dem Nicht-Wissen des Träumers strukturelle Bedeutung: die Schrift des Traums markiert die Verschlüsselung einer narzißtischen innerpsychischen Botschaft, die gelesen wird (d.h. halluzinatorisch einen Wunsch erfüllt) unter der Bedingung des Nicht-Wissen-Wollens des Subjekts. Der Traum gilt dabei jedoch nicht als Übersetzung oder Entstellung eines ursprünglichen, unzensierten Wunsches, sondern stellt sich originär als Ensemble von Spuren von etwas dar, das als Wunsch immer nur nachträglich in der Lektüre rekonstruiert werden kann. Lacans Ausarbeitung dieses Konzepts beschreibt die Psyche als ein differentielles System, das Texte generiert, übersetzt, bearbeitet, registriert, zirkuliert, zensiert, zitiert, liest und übermittelt. (Haselstein, 295f.)

97. Das Subjekt ist Effekt dieser Texte; in jedem zerfällt es in verschiedene Positionen. Bezogen auf Akte intersubjektiver Kommunikation ergibt sich daraus, dass erstens jeder als Akt der Wiederholung und Verdrängung eines Wunsches zu gelten hat, dass aber zweitens außerdem die kulturell spezifischen Phantasien bestimmt werden müssen, die die Subjektpositionen von Sprecher und Hörer füreinander identifizierbar machen, so dass ein bestimmter Akt des Lesens, nämlich ein Verstehen, das notwendig Missverstehen ist, regelmäßig zustande kommt. Die Psychoanalyse macht sich diese Übertragungsphänomene zunutze, setzt die Sprache als System, das die Identifizierung eines Signifikanten mit einem Referenten verunmöglicht und zugleich herausfordert, und sucht die Rhetorik des Unbewussten und die nicht kontrollierbaren, aber regelmäßigen Subjektivitätseffekte dieser Texte zu entziffern. (Haselstein, 296)

98. Freud unterschied zwei Prinzipien psychischen Geschehens: das Lustprinzip bestimmt jede psychische Tätigkeit als Wiederholung eines früheren Befriedigungserlebnisses, wandelt sich jedoch nach Maßgabe äußerer Zwänge und kultureller Einschränkungen zum Realitätsprinzip um. Mithilfe der Prozesse der Verdichtung und Verschiebung wird der obsolete Wunsch nach Wiederholung einer früheren, nicht mehr zugänglichen Lust auf die mannigfachen kulturellen Objekte sozial verträglicher Befriedigung verlagert. Instanzen des psychischen Apparates (Ich und Über-Ich) bewerkstelligen diesen Transfer und blockieren zugleich systematisch die Bewusstwerdung der nach wie vor insistierenden, die bewussten Ziele und Handlungen insgeheim motivierenden Wünsche. Bereits der Begriff des frühen Befriedigungserlebnisses impliziert jedoch die Erfahrung eines ihm vorausliegenden Mangels, so dass das Realitätsprinzip im Lustprinzip selbst angelegt ist. Diese Einsicht wird in Freuds späterer Abwandlung dieser Konzeption in der Theorie des Antagonismus von Eros und Todestrieb aufgegriffen. (Haselstein, 296)

99. Sein wichtigstes Beispiel in diesem Zusammenhang, das Fort/Da-Spiel, wird von Lacan reinterpretiert und erhellt dann die ursprüngliche Nachträglichkeit aller psychischen Darstellungen sowie die Dispersion der Subjektpositionen durch die Performativität des Sprechens. Die Erfahrung der Abwesenheit der Mutter wird durch das Spiel mit einem Gegenstand sowie durch die Artikulation der Signifikanten „o-o.o / da“ symbolisch wiederholt. Der Wunsch nach der Anwesenheit der Mutter wird auf ein Ersatzobjekt, die Garnspule, verschoben; Wut und Angst als Konsequenz der Enttäuschung des „Fort“-Seins der Mutter machen dem Stolz über die Kontrolle des Ersatzobjektes Platz, das nun anstelle der Mutter fort / da ist; schließlich vervielfältigt das Spiel mit der Spule die Positionen des Subjekts, da in ihm auch eine Identifikation mit der Mutter angelegt ist; die narzißtisch behauptete Selbstsuffizienz ergibt sich unmittelbar aus dem Wunsch nach der Anwesenheit der Mutter zur Komplettierung des eigenen Seins und ihrer Inkorporierung in das Subjekt als einer Anderen. In der Bestimmung „fort / da“, die den Verlust der Mutter und das Ich als verlassenes benennt und verneint, verschiebt, in phantasmatisches Handeln übersetzt und schließlich im Hinblick auf ihre ersehnte Rückkehr zu perspektivieren erlaubt, sind das Objekt und (verschoben) das Subjekt das Effekte der differentiellen Relation von An- und Abwesenheit des Symbolischen markiert; sie sind voneinander getrennt und gleichwohl durch das Begehren aufeinander bezogen. (Haselstein, 296f.)

100. Das Fort/Da-Spiel weist damit auf die Grundfigur aller kulturellen Ordnung voraus, die Geschlechterdifferenz, Inzesttabu und normative Heterosexualität im Ödipuskomplex zusammenschließt: die symbolische Ordnung erzeugt in Szenen wie dem Fort / Da-Spiel nicht nur das Subjekt als gespaltenes, sondern transkribiert auch die kulturellen Regeln, die darüber bestimmen, wer und was fort oder da ist oder sein kann oder begehrt werden darf. (Haselstein 297)

101. Die Betonung der unbewussten Phantasien, die Hervorhebung von Instabilität, Ambivalenz, Vertauschbarkeit der Subjektpositionen in ihren Szenarien sowie das Konzept der Rhetorik des Unbewussten kennzeichnen eine psychoanalytische Texttheorie, derzufolge jede Äußerung die diskursiven Parameter der Repräsentation ausnutzt, um sie zu subvertieren. Literarische Texte bilden die kulturelle Institution, innerhalb welcher die Differenz des Begehrens, die den normativen Anspruch der kulturellen Ordnung der Repräsentation unterminiert, als solche markiert und ausgespielt wird; zugleich wiederholen und bekräftigen sie in ihrer Performanz den Gesellschaftsvertrag des Fort/Da-Spiels. (Haselstein, 297)

102. Psychoanalytische Literaturwissenschaft nach Lacan und Derrida versteht sich in ihrer vielfachen Berührung mit der Dekonstruktion zunehmend als Kulturwissenschaft, die gegen die hegemoniale symbolische Ordnung das Verdrängte nicht des Autors oder einer literarischen Figur, sondern der Texte liest, dabei jedoch zugleich die Phantasien einer Kultur als Machtstrukturen entziffert. (Haselstein, 297f.)

103. Die Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Psychologie ergeben sich einmal aus der psychologischen Dimension der Literatur selbst, zum andern aus dem notwendigen Gebrauch psychologischer Termini bei der Interpretation literarischer Texte, der Erhellung der Beziehung von Autor und Werk und der Analyse der Werkrezeption durch den Leser. In der langen Geschichte dieser Wechselbeziehungen lassen sich drei Behandlungsformen des Themas Literatur und Psychologie unterscheiden. (Reh, 51)

104. Der laienpsychologische Ansatz. Wer in wissenschaftlich ernstzunehmender Weise z.B. das Thema ‘Literatur und Gesellschaft’ behandeln will, von dem wird erwartet, dass er dabei von den Perspektiven der Literaturwissenschaft und der jeweiligen Bezugswissenschaft, hier: den Sozialwissenschaften, ausgeht. Wer dagegen in der Literaturwissenschaft psychologische Aspekte in die Interpretation einbezog, pflegte das in der Regel ohne jeden Bezug auf wissenschaftliche Psychologien zu tun. Statt wissenschaftlicher Psychologie also hausbackene Psychologie, die dem privaten Erfahrungsbereich des Interpreten entstammt. Und dies wurde (und wird) nicht nur auf die „Menschen innerhalb der Dichtung“ angewandt, sondern auch auf den Autor und seinen Leser.

Bei diesem Vorgehen schleicht sich ein subjektiver Faktor, unbemerkt vom Interpreten, in die Analyse ein. Denn Anti- und Sympathien überträgt der Interpret mehr oder weniger unbewusst auf fiktive Charaktere und Eigenschaften, wobei dann eine bestimmte Vorliebe nur zu leicht zum Vorurteil wird. (Reh, 51f.)

105. Der historische Ansatz. Er geht aus von der zeitgenössischen Psychologie, so weit sie der Autor gekannt hat und sie im Werk sichtbar zu machen ist. Die Poetik des Aristoteles z.B. ist von der Psychologie der attischen Zeitgenossen ausgegangen. Ebenso hat Lessing die Grundperspektiven seiner Wirkungsästhetik aus den psychologischen Erfahrungen des 18. Jahrhunderts entwickelt.

Wer in seiner Interpretation von solchen historisch orientierten fachpsychologischen Ansätzen ausgeht, erfasst damit das ‘Psychologische’ an der Dichtung in dem Maße, in dem es in der jeweiligen historischen Epoche zum Inhalt des Bewußtseins der Dichter und Theoretiker geworden war. In diesem Sinne wurde das Thema Literatur und Psychologie eines der vielen Unterthemen der Geistesgeschichte.

Im geistesgeschichtlich orientierten psychologischen Verständnis des literarischen Werkes und seiner Wirkung ging es um die Erfassung des inneren Verhältnisses von zeitgenössischen psychologischen Erkenntnissen und dichterischem Ausdruck, den diese vor allem in dramatischen und epischen Werken fanden, womit die Hauptfehlerquelle des laienpsychologischen Ansatzes vermieden wurde. (Reh, 52f.)

106. So relevant und legitim dieser literaturpsychologische Ansatz ist, so begrenzt und unvollständig sind seine Ergebnisse. Denn in ihm wird nur der Anteil des ‘Psychologischen’ in der Dichtung erfasst, der zum Inhalt des Bewußtseins des Dichters oder Theoretikers geworden ist. Ausgesprochen oder unausgesprochen basiert dieser Ansatz auf der Prämisse, dass das ‘Psychologische’ im Werk nur die Widerspiegelung dessen sein könne, was der Dichter bewußt hineingearbeitet hat. Wieweit Charaktere, Handlungsmotive und -entwicklungen, poetische Bilder und Symbole Ausdruck unbewußter Intentionen des Dichters sind, das will und kann diese Forschungsmethode nicht zur Diskussion stellen. (Reh, 53)

107. Der fachpsychologische Ansatz. Die interpretatorische Situation änderte sich grundlegend, als die kurz vor der Jahrhundertwende entstandene Tiefenpsychologie in Gestalt der von Sigmund Freud entwickelten Psychoanalyse mehr und mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit drang. „Diese Theorie ... ist bis in die letzten Konsequenzen geprägt von der These, daß es einen Bereich, eine energiegeladene Sphäre gibt, die in höchstem Maße und ohne Unterbrechung aktiv, wirkend ist und von der ich doch nichts weiß.“

„Freuds Stellung zur neuzeitlichen Philosophie ist nun dadurch gekennzeichnet, daß er deren Identifikation von Seele und Bewußtsein zerstörte. Aber anders als seine Vorläufer bei der Formulierung einer Philosophie des Unbewußten  [...] konstatiert Freud nicht einfach die Existenz eines ‘Anderen der Vernunft’, sondern deckte die Dynamik zwischen Bewußtsein und Unbewußtem auf. So erscheint bei ihm das Unbewußte nicht länger als ein Irrationales, vielmehr als eine spezifische Ordnung oder Sprache, die der Entzifferung, und das heißt: der Aufklärung zugänglich ist.“

Die verschiedenen Modellentwürfe vom Unbewussten wurden zu einheitlichen Lehrgebäuden ausgebaut, die sowohl auf den Neurotiker als auch auf den ‘normalen’ Menschen anwendbar waren. (Reh, 54f.)

108. Freuds Beziehung zur Literatur und Kunst ist genuiner Art. Im Gegensatz zur akademischen Psychologie und Psychiatrie seiner Epoche „war es Freuds eigentliches Ziel, menschliche Leidenschaften zu verstehen“. Drama und Roman verhalfen ihm so von Anbeginn an zu einem besseren Verständnis des Leidenschafts-, oder wie er es nennt, des Trieb-Potentials der Psyche. (Reh, 55)

109. Die Psychoanalyse hat es mit inneren Zuständen zu tun, wie sie aus dem Gegeneinander von Wirksamkeit und Abwehr (bis hin zur Verdrängung) der Leidenschaften und der Antriebe entstehen. Sie versucht deshalb zunächst und vor allem den Sinn solcher innerer Zustände wie Depressionen, Manien, Euphorien, Aggressionen, der Minderwertigkeitsgefühle und Geltungsansprüche, der Gefühle der inneren Leere und der Sinnlosigkeit der eigenen Existenz, der verschiedenen Formen der Angst zu verstehen. Für Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen interessiert sie sich nur insoweit, als diese aus solchen inneren Zuständen hervorgegangen sind. (Reh, 55)

110. Ein solcher Forschungs- (und Therapie-)Ansatz ist damit zugleich eine Annäherung an das psychologische Grundthema der Weltliteratur von der Antike bis zur Moderne: nämlich an die Darstellung des inneren Zustands einer fiktiven Gestalt und deren Entwicklung, die Ausdruck einer Wandlung dieses inneren Zustands ist. Es gibt eine Fülle von Beispielen aus der Weltliteratur, in denen ein fiktiver Charakter ein Verhalten zeigt, das in sonst unerklärlichem Widerspruch zu seiner anfänglich oder früher gezeigten Haltung oder zu der Erwartung steht, die an seine gesellschaftliche oder familiäre Rolle gestellt wird.

Von der Analyse des inneren Zustands fiktiver Personen in Roman und Drama ist es dann nur noch ein Schritt zur Analyse des inneren Zustands von Autor und Leser, also zur Psychoanalyse der Genese und der Wirkung, bzw. Rezeption des Werkes. Und selbst das Problem der literarischen Form (bzw. des Stils) haben zumindest Freud und seine Schüler psychoanalytisch zu erhellen versucht. (Reh, 56)

111. Das klassische Freudsche Modell. Die Methode, mit der es Freud gelungen ist, den inneren Zustand eines Menschen in seiner individuellen Ausprägung zu erfassen, ist die Traumdeutung. Der Traum ist für Freud die via regia zum Unbewussten, seine Deutung das Kernstück jeder Psychotherapie. Wie in der Literaturwissenschaft steht also auch im Zentrum der psychoanalytischen Arbeit die Deutung von ‘Phantasiematerial’.

Die besondere Leistung  Freuds in seiner Traumdeutung bestand darin, als erster Träume zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtung gemacht und für ihre Deutung eine wissenschaftliche Methode entwickelt zu haben. Freud vermochte zu zeigen, dass Träume bestimmte Strukturen haben, nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten verlaufen und stets eine Bedeutung haben und zwar zunächst für den Träumer selbst. (Reh, 57f.)

112. Wir träumen aber nicht nur im Schlaf, wir haben auch Tagträume, die uns ständig begleiten und mehr über uns aussagen als unser alltägliches Tun und Sagen.

Die Psychoanalytiker konnten sich mit ihrer These, dass Traum und Dichtung ihrer Natur nach verwandt seien, auf die Dichter berufen. So sagt z.B. Jean Paul: „Der Traum ist unwillkürliche Dichtkunst“.

Was ist Traum und Dichtung gemeinsam? Sie wurzeln – zumindest partiell – im Unbewussten. Während der Nachttraum ein reines Produkt des Unbewussten ist, erfahren die Phantasien des Tagtraums eine deutliche Kontrolle durch das Bewusstsein, in ähnlicher – wenn auch keineswegs gleicher – Weise wie die Einbildungskraft der bewussten Kontrolle (und Gestaltung) des Dichters unterworfen ist. (Reh, 58)

113. Die große Entdeckung der Psychoanalyse war das Phänomen der Verdrängung. Im Gegensatz zur bewussten Unterdrückung von Triebkräften, wie sie z.B. der Asket übt, ist der Persönlichkeit nicht bewusst, wann und was sie verdrängt.

Freud sieht die Psyche als permanenten Konfliktzustand.: der Anspruch der Leidenschaften, des Triebpotentials stößt auf Abwehr und erleidet in vielen Fällen das Schicksal der Verdrängung. Auch Einsichten in Aspekte unseres Selbst, die mit unserem Selbstwertgefühl nicht übereinstimmen, begegnen einem bewussten Widerstand ebenfalls bis hin zur Verdrängung.

Die Verdrängung beginnt als Folge der Erziehungseinflüsse bereits in den verschiedenen Phasen der frühen Kindheit. Sie determiniert dadurch von Anfang an bei jedem Entwicklungsschritt die Bildung des individuellen Charakters. (Reh, 59f.)

114. Mit der Entdeckung des Verdrängungsphänomens war für Freud die Tür geöffnet

– zu einer wirksamen ((Psycho-)Therapie, welche in einer analytischen Technik besteht, durch die das Verdrängte ins Bewusstsein gehoben und integriert werden kann,

– zu einer psychoanalytischen Theorie als Basis dieser Therapie, und

– zu einem neuen Verständnis von Kunst und Literatur, ja der Kulturphänomene überhaupt. Denn jede Kultur hatte und hat einen Wertekanon, der zwar jeweils verschieden ist (oder sein kann), der aber doch als allgemein zu befolgende Norm das Leben jeder Kulturgemeinschaft beherrscht und damit den Einzelnen unter bestimmte Tabus stellt. Den im kollektiven Bewusstsein aufgerichteten Tabus korrespondiert im Unbewussten ein Verdrängungsprozess, der von jenen unter bestimmten Bedingungen ausgelöst wird. (Reh, 60)

115. Vom Verdrängungsphänomen her gesehen ergibt sich für die Traumdeutung folgende psychoanalytische Hermeneutik: Als verdrängte Bewusstseinsinhalte haben die in Gestalt von Träumen erscheinenden unbewussten Phantasien ein doppeltes Gesicht. Die Bilderwelt, so wie sie sich dem erinnernden Bewusstsein im Traume darstellt, nennt Freud die Traumfassade oder den manifesten Trauminhalt. Er unterscheidet ihn vom latenten Trauminhalt. Da für Freud alle menschlichen Leidenschaften in der Triebstruktur wurzeln, ist der latente Trauminhalt stets ein verdrängter Triebwunsch. Als solcher kann er nur auf Umwegen ins Bewusstsein gelangen. Diese ‘Umwege’ nennt Freud die Traumarbeit. In ihr geht der verdrängte Wunsch, der bei Freud auch die Form eines bestimmten Traumgedankens annehmen kann, durch eine Zensur, die durch verschiedene Mechanismen auf den Wunsch wirkt. Solche Mechanismen sind z.B. die Entstellung, die Verschiebung, die Verdichtung und die Verbildlichung des latenten Traumwunsches, der durch sie hindurchgehend zum manifesten Trauminhalt wird. (Reh, 60)

116. In der Entstellung wird der latente Traumwunsch bzw. -gedanke in manifeste Szenen oder Gedanken verwandelt, in denen er oft schwer wiederzuerkennen ist. In der Verschiebung löst sich die Intensität einer Vorstellung von ihr und geht auf eine andere über, die mit der ersteren aber durch eine Assoziationskette verbunden bleibt. In der Verdichtung stellt eine Traumvorstellung gewissermaßen den ‘Knotenpunkt’ verschiedener Traumgedanken dar, so dass oft gegensätzliche Elemente zu einer Einheit mit widerspruchsvollen Zügen zusammengefügt werden. So kann z.B. eine Traumfigur eine ‘Sammelperson’, d.h. ein gemeinsamer Ausdruck für verschiedene Personen sein. Freud nennt das Überbesetzung oder Überdetermination. In der Verbildung wird ein latenter Traumgedanken, bzw. -wunsch in ein

manifestes Traumbild verwandelt. (Reh, 60f.)

117. Die Psychoanalyse spricht in diesem Zusammenhang von einem Primär- und einem Sekundärvorgang. Während des Traumes kann die psychische Energie (Libido) im Primärvorgang, der das Unbewusste kennzeichnet, frei abströmen. Dieser Primärvorgang genannte Prozess folgt damit dem Lustprinzip. Demgegenüber ist beim Sekundärvorgang, der das Vorbewusste und das Bewusstsein kennzeichnet, die Libido zunächst gebunden, d.h. die Befriedigung wird aufgeschoben, da erst die verschiedenen Befriedigungswege gefunden und erprobt werden müssen. Der Sekundärvorgang folgt damit dem Realitätsprinzip.

Freud hat später den Gegensatz von Bewusstsein und Unbewusstem ersetzt durch die Topik Es, Ich und Überich: das Es, das Triebpotential, folgt dem Lustprinzip, das Ich dem Realitätsprinzip und das Überich repräsentiert die innere moralische Instanz. (Reh, 61)

118. Der Beitrag der an der Traumdeutung entwickelten psychoanalytischen Hermeneutik für die Literaturwissenschaft besteht darin, in der Interpretation des Werkes und seiner Beziehung zum Autor wie zum Leser das unbewusste Phantasiematerial bis hin zum Primärvorgang zu entschlüsseln. Die psychoanalytische Hermeneutik kann also nie die literaturwissenschaftliche ersetzen, sondern nur ergänzen.

Und anders als in den Hermeneutiken der historischen Wissenschaften geht es in der psychoanalytischen Hermeneutik um innere Zustände und deren Wandlungen durch therapeutische Arbeit. Erkenntnisbildung findet hier durch praktische Veränderung statt. (Reh 61f.)

119. Die allgemeine Psychologie kennt zwei menschliche Triebkräfte: den Arterhaltungstrieb und den Selbsterhaltungstrieb. Die von Konrad Lorenz und anderen entwickelte Verhaltensbiologie postuliert darüber hinaus noch einen Aggressionstrieb. Die Psychoanalyse hat ihr Gedankengebäude (zunächst) nur auf einen Trieb, auf die Sexualität aufgebaut. (Erst später spricht sie auch von Ichtrieben und schließlich vom Lebens- und vom Todestrieb.) (Reh 63)

120. Am Beginn seiner Forschungen noch fest in der Tradition des wissenschaftlichen Materialismus stehend, konnte Freud sich keine starken seelischen Kräfte ohne nachweisbare  physiologische Wurzeln vorstellen. Das Phänomen, bei dem die Verbindung von Physiologischem und Psychischem schon damals wohl bekannt war, war die Sexualität. Aus dieser Tatsache leitete er seine Arbeitshypothese ab: die Sexualität ist letztlich als die Wurzel aller Leidenschaften anzusehen. Ausgehend von seiner Hypothese, deren Wurzeln eindeutig im wissenschaftlichen Denken seiner Zeit lagen, stieß Freud aber dann auf die Gesetzmäßigkeiten des Unbewussten, die nichts mehr mit der wissenschaftlichen Tradition seiner Zeit zu tun hatte. (Reh, 63)

121. Psychoanalyse des Werkinhalts. Die Psychoanalyse zieht die Lebensgeschichte des Analysanden heran und bringt diesen dazu, sich ungehemmt seinen freien Assoziationen zu seinen Träumen zu überlassen. Durch diese erhält der Psychoanalytiker Hinweise auf die verdrängte „Wahrheit“. D.h. die Bedeutung eines Traumes kann nur aus der ganz persönlichen Situation des Träumers und mit dessen aktiver Hilfe erschlossen werden. Das macht eine direkte Anwendung des psychoanalytischen Modells der Traumdeutung auf das literarische Werk schlechthin unmöglich. Denn dem Interpreten stehen der Dichter und seine freien Assoziationen ja nicht wie dem Psychotherapeuten der Träumer und dessen Assoziationen zur Verfügung. (Reh, 64)

122. Die psychoanalytische Literaturinterpretation sah sich daher gezwungen, den Schritt von den individuellen Aspekten der Träume zum prototypischen Kern zu tun, der nach Freud in allen Träumen wirksam ist. Darunter versteht er den Niederschlag der Grunderlebnisse und

-konflikte, die jede menschliche Entwicklung in ihren verschiedenen Phasen von der Geburt bis zur Reife durchläuft. Es ist demnach die allgemeinmenschliche Triebstruktur, die individuell ausgeprägt in den poetischen Texten zur prototypischen Darstellung kommt.

Diese prototypischen Gehalte weisen auf die Entwicklungsphasen der Libido. In  der kindlichen Entwicklung unterscheidet er die orale, die anale und die phallische (oder ödipale) Phase. Freud hatte einen sehr weiten Begriff von Sexualität: Wo Lust, da Sexualität. (Reh, 65)

123. Das erste und zugleich fundamentalste ‘Triebbefriedigungserlebnis’ des Menschen ist das orale Saugen an der Mutterbrust. Das wohl bekannteste literarische Beispiel einer prototypischen oralen Phantasie beim Erwachsenen ist das Märchen vom Schlaraffenland.

Die zweite, die anale Phase der psychosexuellen Entwicklung ist durch das Interesse des Kleinkindes an der Ausscheidungsfunktion charakterisiert. Die mit ihr verbundene Entspannung, aber auch das Zurück- und Festhaltenkönnen wird vom heranwachsenden Menschenkind als ein weiteres fundamentales Befriedigungserlebnis erfahren.

Die dritte Phase ist die phallische oder ödipale. Die Problemstellung ergibt sich aus der Trias ‘Mutter, Vater, Kind’. Aus Freuds Sicht bestimmt diese Phase die Konkurrenz mit dem Vater um den ‘Besitz’ der Mutter. In der ödipalen Phantasie verbindet sich der Wunsch, die Mutter zu besitzen, mit dem Todeswunsch gegen den Vater. Bei der gelungenen Überwindung des ödipalen Konflikts entsteht das Überich, d.h. der Todeswunsch gegen den Vater wird dadurch aufgegeben, daß die Vaterautorität introjiziert wird. Sie existiert so als Überich weiter, womit dieses zum Träger der Tradition wird. (Reh, 66f.)

124. Freuds Skizze einer Hamlet-Deutung ist zum Modell der klassischen psychoanalytischen Literaturinterpretation überhaupt geworden, d.h. das immer wiederkehrende Thema psychoanalytischer Literaturdeutungen in den ersten, etwa fünfzig Jahren der Psychoanalyse war die Aufdeckung einer latenten ödipalen Thematik hinter der manifesten Form.. Die Monotonie, die sich aus einem solchen Verfahren für den Leser ergab, wurde zu einer der vielen Ursachen für die Ablehnung der psychoanalytischen Literaturdeutung durch die Literaturwissenschaft. (Reh, 67)

125. Bereits beim klassischen Modell der Psychoanalyse öffnet sich der Zugang zum historischen und gesellschaftlichen Umfeld des individuellen Falles: Die historische Entwicklung dieses Umfelds und damit die Zivilisation überhaupt wird gesehen als ein „Fortschreiten der Verdrängung“, als ein Stärkerwerden der Kontrollfunktion des Überichs. (Reh, 69)

126. Die Weiterentwicklung der Psychoanalyse hat heute zu einer Ausfächerung in verschiedene Richtungen geführt. Die Freudschen Grundkonzepte wurden erweitert und durch neue ergänzt.

Die Begriffe orale, anale und phallische Entwicklungsphase sind psychobiologische Modelle. Dieser psychobiologische Ansatz wird bei einigen neueren Richtungen zu einem psychodynamischen erweitert, dessen Fokus auf den Objekt-Beziehungen liegt. Unter Objekten sind dabei vor allem die Beziehungspersonen zu verstehen, soweit sie Objekte von Wünschen, Erwartungen, Ängsten und anderen Projektionen zu werden vermögen.

Nach außen hin öffnet sich damit das gesellschaftliche und historische Umfeld des Individuums, womit die Psychoanalyse den entscheidenden Schritt zu einer Sozialpsychologie tut. Nach innen erweitert sich die an den biologischen Grundfunktionen orientierte Perspektive auf die Entfaltung eines personalen Selbst. Das bedeutet z.B. für die orale Phase, dass sie nicht nur gekennzeichnet ist durch das Befriedigungserlebnis des Kindes an der Mutterbrust, sondern dass die Mutter zugleich zur Beziehungsperson wird, zu der die erste für die Bildung des Selbst entscheidende Gefühlsbeziehung, das Urvertrauen, entwickelt wird. Das alles hat für die psychoanalytische Literaturbetrachtung weitreichende Konsequenzen. (Reh, 72f.)

127. Zur Psychoanalyse des Werkinhalts. Freuds Erklärung des Gewissens als introjizierte Vaterautorität beraubt es nach Erich Fromm aller objektiven Gültigkeit. Denn das Überich ist ja der Träger der Tradition, womit diese dann zum Maßstab des Gewissens wird. Dieses ‘autoritäre Gewissen’ ist die Stimme einer nach Innen verlegten Autorität, die von den Eltern, dem Staat, der öffentlichen Meinung etc. abhängt. Es wurzelt in Angstgefühlen vor der Autorität und in der Bewunderung für sie.

Dem autoritären Gewissen stellt Erich Fromm das ‘humanistische Gewissen’ gegenüber. Es ist die Stimme unseres Selbst, das uns auf uns selbst zurückruft, damit wir das werden, was wir der Möglichkeit nach sind. Im Gegensatz zum autoritären Gewissen, für das alles gut ist, was im Gehorsam gegenüber der Autorität steht, ist für das humanistische Gewissen alles gut, was Wachstum, Entfaltung und Leben fördert, und all das böse, was dem entgegensteht.

Von diesen beiden Konzepten her sieht Fromm den Konflikt des Protagonisten in Kafkas Roman Der Prozeß. (Reh, 73)

128. In dem aus der amerikanischen Ich-Psychologie entwickelten Identitätsmodell Erik H. Eriksons werden Freuds drei Entwicklungsstufen der frühen Kindheit auf acht Lebenszyklen, d.h. auf den gesamten Lebenslauf erweitert. Erikson rückt über das bloße Triebbedürfnis hinaus den ‘inneren Zustand’ des Individuums in den Fokus der Betrachtung, der für jede Lebensphase charakteristisch ist, und die mitmenschlichen und letztlich gesellschaftlichen Bedingungen, die dieser nicht nur ermöglicht, sondern fordert.

So geht es in der ersten, der oralen Phase um die Gewinnung von Urvertrauen gegen Urmisstrauen. Die Beziehung zur Mutter wird hier zur ersten ‘sozialen’ Beziehung, die die Basis legt für alle weiteren menschlichen Beziehungen im Leben der Persönlichkeit.

Der ‘innere Zustand’ in der zweiten, der analen Phase wird durch die Psychodynamik des Konflikts zwischen dem jetzt entstehenden Autonomiegefühl und dem Zweifel sowie dem Schamgefühl bestimmt. Aus der Überwindung dieses Konflikts erwächst die soziale Grundtugend der Willensäußerung als Willenskraft und Selbstbeherrschung.

Die bislang einzige Psychoanalyse eines literarischen Textes, die von allen acht Phasen des Modells ausgeht, hat Erikson selbst geliefert und zwar in seiner Interpretation der Wilden Erdbeeren von Ingmar Bergmann. (Reh, 75f.)

129. Zur Psychoanalyse des Stils. Jede Diskussion über den Stil bzw. die Form eines Kunstwerks führt an das Kernproblem künstlerischer Gestaltung heran. Ist doch der Stil eines Autors das unverwechselbare Charakteristikum seines Werkes, mag er auch noch so sehr der literarischen Tradition verpflichtet und der Werkinhalt dem überlieferten Motivarsenal entnommen sein. Die Psychoanalyse hat deshalb zur Frage der literarischen Form bzw. des Stils weniger zu sagen als zum Werkinhalt. Und wo sie darüber spricht, tut sie das mehr unter generellen, als unter spezifischen Aspekten. (Reh, 78)

130. War das Modell für die inhaltliche Interpretation des dichterischen Werkes die Traumdeutung, so ist dasjenige der formalen Interpretation der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Was den Hörer zum Lachen bringt, ist primär das Formprinzip des Witzes und nur sekundär sein Inhalt. Das wird stets deutlich, wenn man versucht, den bloßen Inhalt eines Witzes ohne Beachtung seiner Form wiederzugeben, was niemand zum Lachen bringt.

Das überzeugende Beispiel für das Formprinzip des Witzes ist der obszöne Witz, in dem eine sexuelle Wunschphantasie nur durch die Form des Witzes gesellschaftlich annehmbar wird. Aus psychoanalytischer Sicht erscheint nun jede künstlerische Form in Analogie zum Witz als das Ergebnis eines Abwehrvorgangs. Simon O. Lesser spricht von drei wesentlichen Funktionen der literarischen Form: „Vergnügen zu bereiten, Angst- und Schuldgefühle zu vermeiden [abzuwehren] und das Empfindungs- und Vorstellungsvermögen zu fördern“ (Lesser   , 125). (Reh, 78f.)

131. Zur Psychoanalyse der Werk-Genese. Freud hat sich letztlich stets auf das Phantasiematerial und die Abwehrmechanismen des Autors bezogen. Die große Mehrzahl der Freudschen Literaturinterpretationen sind wie diejenigen der meisten Freudschüler deshalb zugleich Werk- und Autorenanalyse geworden.

In der Literaturwissenschaft wird die Beziehung zwischen dem Autor und seinem Werk in der Regel auf den autobiographischen Gehalt des Werkes eingeschränkt, den sie aus einem angenommenen kausalen Verhältnis zwischen den biographischen Determinanten und dem Werkinhalt zu erfassen versucht. Bei diesen biographischen Determinanten unterscheidet sie äußere (Einflüsse der natürlichen Umwelt, Lernerfahrungen und Lektüre) von inneren (Charakter und Persönlichkeitsstruktur des Autors). Zwischen diesen Determinanten sieht sie das ‘freie Spiel der Phantasie’ am Werk, das dem einzelnen Opus dann seinen Charakter gibt. (Reh, 79)

132. Aus psychoanalytischer Sicht kann jedoch die sog. äußere Determinante nicht einfach nach dem Ursache-Wirkungs-Schema angewandt werden. Das Kunstwerk ist ‘etwas anderes’ als der einfache Reflex der äußeren Welt.

Was die Persönlichkeit des Autors angeht, hat sich die Literaturwissenschaft auf deren bewusste Elemente beschränkt. Beziehen wir aber das Unbewusste ein, so ist auch der Annahme eines ‘freien Spiels der Phantasie’ zu widersprechen. Auch und gerade die Phantasie folgt Gesetzmäßigkeiten des Unbewussten. So ist und bleibt für die Psychoanalyse das Phantasiematerial, die Figuren- und Bilderwelt des Werkes, der Schlüssel zum Autor, dessen biographische Daten – vor allem solche aus der frühen Kindheit – das aus dem Werk Erschlossene lediglich bestätigen oder variieren. (Reh, 79)

133. Die erste bedeutende Erweiterung des genetischen Aspekts über den klassischen Freudschen Ansatz hinaus ist die von Charles Mauron entwickelte Psychokritik. Vom Autor her gesehen ist für Mauron das Werk kein psychisches Symptom, sondern ein Ziel. Um dieses Ziel in den Griff zu bekommen, geht die Psychokritik nicht von einem einzelnen Werk, sondern – wenn möglich – vom Gesamtkorpus der Werke aus. Diese werden einander gleichsam überlagert, wobei ganz bestimmte Motive, deren Gruppierungen und Metamorphosen sichtbar werden. Das so aufbereitete Material wird unter psychoanalytischen Aspekten interpretiert. Die Biographie des Dichters dient lediglich als Gegenprobe für die Richtigkeit dieses Bildes. Sie fügt gleichzeitig die historische, politische und soziale Situation des Autors hinzu. Dieses Bild der ‘unbewussten Persönlichkeit’ nennt Mauron den „mythe personnel“ des Dichters. Er ist gleichsam der psychische Filter, durch den die seelische Energie hindurch muss. Damit wird er zum Fokus schlechthin aller persönlichen Erfahrungen. (Reh, 79f.)

134. Mauron bleibt nicht bei den prototypischen Phantasien stehen, sondern versucht die individuelle Problematik des Autors zu erfassen und stellt diese in dessen gesellschaftlichen Rahmen.

Maurons literaturpsychologischer Ansatz ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Interpret hinter dem äußeren, dem Kausalnexus folgenden ‘manifesten’ Handlungsverlauf die ‘latenten’ inneren Zustände der Charaktere und die ‘psychischen Prozesse’ sichtbar zu machen versteht, die von der Wandlung der inneren Zustände im Roman ausgelöst werden. (Reh, 80f.)

135. Dem Problem der künstlerischen Verschmelzung des latenten individuellen Phantasiematerials mit dem literarischen Thema ist Peter von Matt nachgegangen. Er stellt fest, dass in den bisherigen Modellen ein Faktor fehlt, der das individuelle, aus dem Unbewussten stammende Phantasiematerial, die Ich-Phantasien, wie er sie nennt, umsetzt in das spezifisch Literarische, das ja formal-ästhetischen Kategorien und sozialen Regeln folgt. Dieser Faktor ist „das im kreativen Prozeß vorphantasierte Werk“, die „Opus-Phantasie“.

Peter von Matts Ansatz versucht Antworten auf zwei alte Fragen der Literaturwissenschaft zu geben, einmal auf die Frage, warum die Weltliteratur immer wieder nach gleichen oder ähnlichen alten Motiven, Themen oder Mustern greift. Zum anderen ist das Konzept der Opus-Phantasie zumindest eine mögliche Antwort auf die Frage, wie sich Ich-Phantasien zum fertigen literarischen Werk verhalten. (Reh, 81f.)

136. Zur Psychoanalyse der literarischen Wirkung und der Leserrezeption. Die bislang am detailliertesten ausdifferenzierte Rezeptionstheorie hat Norman N. Holland geliefert. Die psychoanalytische Rezeptionstheorie interessiert sich für all das, was der Leser bzw. die Leserin unbewusst in das Werk hineinprojiziert, darüber hinaus dafür, womit bzw. mit wem er oder sie sich im Text identifiziert und nicht zuletzt dafür, was er oder sie darin abwehrt.

Wie die Beziehung von Autor und Werk so kann auch die von Leser und Werk nicht auf das Bewusst-Kognitive eingeschränkt werden, das in beiden Beziehungen aus der Sicht der Psychoanalyse bestenfalls die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs darstellt. (Reh, 82f.)

137. Einen völlig anderen Ansatz zu einer psychoanalytischen Rezeptionstheorie hat Alfred Lorenzer ausgearbeitet. Sein Ausgangspunkt ist die methodische Problematik der Literaturpsychologie, die darin besteht, dass eine im therapeutischen Verfahren erarbeitete Theorie unabhängig von der Therapieaufgabe, der Änderung des Patientenverhaltens, zur Grundlage der Auseinandersetzung mit literarischen Texten gemacht wird. Seine erste Frage ist deshalb die nach der Art der Veränderung, die der literarische Text im Verhalten des Lesers bewirkt oder bewirken kann. Daraus ergibt sich die zweite Frage: Was im Text ist es, das eine Verhaltensänderung des Rezipienten hervorrufen kann? Seine Antwort lautet: Wie der Traum, so repräsentiert auch der literarische Text einen Lebensentwurf. Was sich nun bei der Rezeption eines Werkes im Verhalten des Lesers ändert oder ändern kann, sind dessen problematische Lebensentwürfe, die zu der im Text angebotenen Lebenspraxis einen Kontrast bilden, die also vom Text her in Frage gestellt werden. (Reh, 83)

138. Bereits in den ersten Jahrzehnten der Psychoanalyse haben sich neue tiefenpsychologische Richtungen gebildet, die dem Freudschen Modell eigene Konzeptionen gegenübergestellt haben. Für die Literaturpsychologie sind von ihnen das Modell der Individualpsychologie Alfred Adlers und vor allem das der Komplexen Psychologie C.G. Jungs von Bedeutung. (Reh, 85)

139. Adler hob gegenüber dem Arterhaltungstrieb den Selbsterhaltungstrieb hervor, den er als Geltungsstreben des Ich verstand. Ihm steht das Minderwertigkeitsgefühl gegenüber und zwar in dem Sinne, daß dieses von jenem kompensiert wird nach der Formel: Je größer das Minderwertigkeitsgefühl, desto mächtiger das Geltungsstreben. Den Mechanismus des Unbewussten, mit dem das Geltungsstreben sich als Kompensation des Minderwertigkeitsgefühls tarnt, nennt Adler das ‘Arrangement’. Für ihn fallen z.B. Neurosen schlechthin unter das Arrangement ‘Flucht in die Krankheit’, durch die das Ich versucht, gleichsam auf Umwegen wieder obenauf zu sein. Adler tendiert nun dazu, auch im nicht-neurotischen Bereich außergewöhnliche Leistungen sowie betont moralische Verhaltensweisen der Persönlichkeit, mit denen sie sich die Anerkennung der Mitwelt zu erwerben trachtet, als Kompensationen eines versteckten Minderwertigkeitsgefühls zu verstehen. Letzteres wird häufig durch eine Organminderwertigkeit ausgelöst. (Reh, 85)

140. Methodisch wichtig an Adlers Kompensationsmodell ist, dass es im Gegensatz zur Freudschen kausalen Betrachtungsweise, final orientiert ist. Waren für Freud die unbewussten Phantasien ursächlich, letztlich von der Kindheitsproblematik, bestimmt, so fragt Adler, wohin unbewusste Phantasien zielen. Angewandt auf die Dichtung heißt das: die individualpsychologische Interpretation fragt, wohin die Dichtung zielt. Das Ziel der Individualpsychologie als Therapie ist die Erreichung des Gemeinschaftsgefühls, das die Persönlichkeit in sich entwickeln muss, will sie nicht in dem (letztlich neurotischen) Konflikt Geltungsstreben versus Minderwertigkeitsgefühl verharren. Die Therapie besteht in der ‘Umfinalisierung’ des Geltungsstrebens zum Gemeinschaftsgefühl durch Abbau des Minderwertigkeitsgefühls, ein Prozess, dem Adler auch bei fiktiven Figuren nachgeht. Der Beitrag der Individualpsychologie zur Literaturpsychologie besteht also darin, ausschließlich die Inhalte der Literatur, d.h. die Charaktere in Epen, Romanen und Dramen, zum Gegenstand der Analyse zu machen. (Reh, 85f.)

141. Die Archetypenlehre C.G. Jungs. Standen für Freud primär die Phänomene des Unbewussten im Fokus der Aufmerksamkeit, die aus dem Bewusstsein verdrängt worden waren, so richtete Jung den Blick auf das Potential des Unbewussten, das sich ins Bewusstsein drängt. Welches Potential des Unbewussten drängt sich ins Bewusstsein? Nicht dasjenige, was dem individuellen Erlebnishorizont der Persönlichkeit zugehört, sondern dasjenige, was dem kollektiven Erfahrungsbereich des Menschen schlechthin entstammt. Mit anderen Worten: Neben oder hinter dem persönlichen Unbewussten existiert ein kollektives Unbewusstes. Neben der individuellen Bildersprache in Nacht- und Tagträumen erscheint eine kollektive Bilderwelt. (Reh, 86)

142. Jung stellte fest, dass bestimmte Themen, Figurenkonstellationen, Bilder und Motive in den Träumen seiner Patienten (sowie von Gesunden) nicht auf die persönliche Geschichte und Erfahrung des Einzelnen zurückgeführt werden können, da sie auffallende Ähnlichkeiten mit Themen, Figurenkonstellationen, Bildern und Motiven der Volksmärchen und Mythen, also der kollektiven Schöpfungen aller Völker haben. Das heißt: Ihr Ursprung – auch in den Träumen moderner Menschen – muss kollektiver und archaischer Natur sein. Er bezeichnete sie deshalb als Archetypen oder Urbilder und versteht sie als Konstellationen der sich in den Generationszyklen wiederholenden Grunderfahrungen der Menschheit. In Analogie zu Kants apriorischen Anschauungsformen und Denkkategorien sieht er die Archetypen des kollektiven Unbewussten daher als a priori vorhandene ‘Bedingungen der Erfahrung’. (Reh, 86)

143. Als Ausdruck des kollektiven Unbewussten zeichnen sich archetypische Bilder durch ihre Autonomie innerhalb des psychischen Geschehens und durch den Eindruck der Fremdheit aus, den sie auf das individuelle wie gesellschaftliche Bewusstsein machen. In archetypischen Bildern drückt sich das dem Einzelnen wie dem ‘Zeitgeist’ noch Unbekannte, das der bewussten Einstellung in ihrer Einseitigkeit Mangelnde aus. Damit weisen sie auf ein zu erreichendes telos, das in der Jungschen Psychotherapie das potentielle ‘Selbst’ als eine coniunctio oppositorum der Ganzheit der Persönlichkeit ist. Kulturpsychologisch bedeutet dieses telos die Überwindung der Einseitigkeit einer Kultur, z.B. der materiellen Orientierung im Denken und des Glaubens an das technisch Machbare in allen Bereichen, wie sie die westliche Zivilisation charakterisieren. (Reh, 86f.)

144. Im unbewussten Phantasiematerial unterscheidet Jung entsprechend zwischen bloßen Zeichen (oder Symptomen) und Symbolen. Wenn die Bilderwelt in Träumen und Phantasien aus dem persönlichen Unbewussten eine Manifestation latenter und d.h. aus dem Bewusstsein verdrängter Inhalte ist, dann versteht er sie als Zeichen (oder Symptome), die auf dieses Verdrängte verweisen. Da die Bilderwelt des kollektiven Unbewussten keine Manifestation verdrängter Bewusstseinsinhalte ist, sondern in ihr ein dem Bewusstsein noch Unbekanntes zum Ausdruck kommt, nennt Jung ausschließlich sie symbolisch. Symbolisch ist für Jung deshalb vor allem die Dichtung, die er visionär nennt, d.h. in der dem ‘Zeitgeist’ Gegenbilder gegenübergestellt werden, wie z.B. in Goethes Faust II. (Reh, 87)

145. Jung findet die Antwort auf die literaturpsychologische Frage nach der Beziehung von Autor und Werk nicht in der individuellen (letztlich neurotischen) Problematik der Dichterpersönlichkeit, sondern im Durchbruch überpersönlicher archetypischer Bilder, die sich ins Bewusstsein des Autors drängen.

Damit ist auch die Funktion des Dichters und seines Werkes im gesellschaftlichen Prozess definiert. Die Kunst arbeitet nach Jung „stets an der Erziehung des Zeitgeistes, denn sie führt jene Gestalten heraus, die dem Zeitgeist am meisten mangeln“. In diesem Sinn versteht Jung den Künstler als den „Erzieher des Zeitalters“. Das Wort ‘Erziehung’ weist auf den Prozess der Individuation hin. (Reh, 87f.)

146. „Bevor die Individuation zum Ziele genommen werden kann, muss das Erziehungsziel der Anpassung an das zur Existenz notwendige Minimum von Kollektivnormen erreicht sein.“ (Bd. VIII, 478) Den psychischen Habitus, der bei dieser „Anpassung“ entsteht, nennt Jung die Persona. Dieser Anpassungshabitus, ohne den kein Zusammenleben in einem Gemeinwesen möglich wäre, führt im einzelnen Menschen zu einem Kompromiss zwischen seiner Persönlichkeit und den ‘Kollektivnormen’, zu einer Einschränkung der Individualität zugunsten einer Rolle.

Das Problem ist die Gefahr der unbewussten Identifikation mit einer solchen Rolle. Die Weltliteratur hat diese Identifikation, in der das Individuum zur bloßen Persona, zur bloßen Maske wird, seit jeher beschäftigt. (Reh, 88)

147. Je stärker der Einzelne mit einer Persona identifiziert ist, umso mehr hat er diese Seiten seines Selbst in den ‘Schatten’ drängen müssen, wo sie einen ständigen psychischen Explosivstoff bilden. Die Bewusstwerdung des Schattens und die Auseinandersetzung mit ihm ist deshalb der erste Schritt im Individuationsprozess.

Als Schatten bezeichnet Jung alles Verneinte und Verdrängte, aber auch alles nicht bewusst Gelebte und Entwickelte. Wie jeder Einzelne seinen persönlichen Schatten, so hat auch jedes Kollektiv, jede Gesellschaft, jede von einer Ideologie bestimmte Gruppe, einen kollektiven Schatten.

Im Traum und in der dichterischen Phantasie erscheint der Schatten als dunkle, gleichgeschlechtliche Gestalt, als Doppelgänger, als unverkennbare Gegenfigur zu allen Vor- und Leitbildern.

Die Konfrontation des Protagonisten mit dem eigenen Schatten ist das Grundthema in Hermann Hesses Demian und Steppenwolf. (Reh, 89)

148. Für Jung ergibt sich aus dem Konzept des kollektiven Unbewussten, das gegenüber dem Bewusstsein autonom ist, auch eine Autonomie des ethischen, des geistigen und des religiösen Bereichs, die nicht wie bei Freud als Epiphänomene, sondern als Phänomene sui generis verstanden werden. Das ethische, geistige und religiöse ‘Bedürfnis’ des Menschen ist für Jung ebenso genuin wie der Selbst- und Arterhaltungstrieb, wie Hunger, Durst und Sexualität. (Reh, 90)

149. Die Syzygie Anima und Animus ist das andersgeschlechtliche archetypische Gegenbild der bewussten Persönlichkeit: die Anima die unbewusste weibliche Seite des Mannes, und der Animus die unbewusste männliche Seite der Frau.

Hinter der leiblichen Mutter wird letztlich das Bild, die Imago des Mütterlichen schlechthin sichtbar: die Mutter Erde, „Geburt und Grab“.

Wie sich die Anima-Imago bis hin zur Magna Mater, zum Archetyp des stofflichen Prinzips hin amplifizieren lässt, so auch die Animus-Imago über das Vaterbild bis zum Archetypus des geistigen Prinzips. (Reh, 90)

150. Das potentielle telos des Individuationsprozesses nennt Jung das Selbst (im Unterschied zum Ich). Als coniunctio oppositorum kann es als archetypisches Bild in Gestalt von Quaternitäts- und Mandalssymbolen erscheinen, die ebenfalls in den mythologischen und religiösen Bereich hin amplifiziert werden können. (Reh, 91)

151. Aus dem Dargestellten ist ersichtlich geworden, warum sich die deutsche Literaturwissenschaft gegen die Archetypenlehre und Typologie C.G. Jungs weniger gesperrt hat als gegen die klassische Psychoanalyse Sigmund Freuds. Gibt es doch zwischen dem Bild- und Symbolverständnis der Literaturwissenschaft und dem der Analytischen Psychologie mehr Berührungspunkte als dem der klassischen Psychoanalyse Freuds. (Reh, 91)

152. Nach zögernden Annäherungen in den drei Jahrzehnten vor 1933 bedeuteten die zwölf Jahre des Nationalsozialismus mit dem Verbot der Psychoanalyse einen radikalen Abbruch der erst im Entstehen begriffenen Beziehungen zwischen Psychoanalyse und deutscher Literaturwissenschaft. Diese wurden erst nach 1968 wieder aufgenommen, als mit der internationalen Studentenbewegung die Einseitigkeit der nach 1945 vorherrschenden werkimmanenten Interpretation durch Öffnung auf Bezugswissenschaften wie Soziologie, Kommunikationswissenschaft u.a. überwunden wurde. Damit kam auch die Psychoanalyse ins Blickfeld. (Reh, 92)


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