3 Hermeneutik 1: Ältere Ansätze bis zu Dilthey

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3.05 Kritik

1. (Zu Platon:) Die Lösung, die Sokrates (bzw. Platon) selbst nannte, wurde lange – und vielfach bis heute – als eine solche angesehen. Tatsächlich verschiebt sie aber nur das Problem. Die Frage, was der Dichter meinte, ist keine Frage einer Text-Hermeneutik, sondern allenfalls eine, die durch ‘Einfühlung’ in ein fremdes und fernes Subjekt zu beantworten wäre. Dass Dilthey diesen Weg im vermeintlichen Anschluss an Schleiermacher betont hat, beruht auf einem Missverständnis der Schleiermacherschen „Hermeneutik“.

Bei Schleiermacher heißt es: „Man muß so gut verstehen und besser verstehen als der Schriftsteller.“ (Schleiermacher 1959, 56) Darin spricht sich keine Hybris des Interpreten gegenüber dem Autor aus. Es bleibt dabei, dass die Hermeneutik in bezug auf die literarischen Werke ein nachträgliches Unternehmen ist. Was mit der genannten Maxime vielmehr bezweifelt wird, ist die Bedeutung des Autors für die Interpretation und für den hermeneutischen Diskurs.

Die Auffassung, man könne den Sinn eines Werks nur richtig verstehen, wenn man weiß, was der Autor gemeint hat, ist erstens zirkulär: weil wir bei den meisten Autoren eine ‘Meinung’ nicht anders verstehen als durch die Interpretation von Texten. Zum anderen sind Ausführungen eines Autors zu seinem Werk zwar immer interessant, aber für die Interpretation nicht entscheidend. Sicherlich kann ein Autor auch ein guter Interpret sein (auch seiner eigenen Werke), nur legitimiert sich diese Interpretation nicht durch seine Autorschaft, sondern durch seinen Beitrag zum hermeneutischen Diskurs. (Japp, 583f.)

2. (Zu Boeckh:) Hier besteht ein entscheidender Unterschied zur sokratischen Frage in Platons Ion. Ions Anspruch als Interpret (bzw. Rhapsode) bestand insbesondere darin, gut über Homer und andere Dichter sprechen zu können. Nun würden wir aber das von den Dichtern Producirte nicht als ein gegebenes „Wissen“ ansehen, wie wir eine Dichtung auch nicht unbedingt als etwas „Erkanntes“ auffassen, sondern als etwas Erfundenes oder eben Gedichtetes. Die Formel vom Erkennen des Erkannten berücksichtigt gerade das Spezifische der Dichtung (und der Interpretation von Dichtung) nicht. Während der Interpret tatsächlich ein bestimmtes Wissen vermitteln will, gilt dies so von dem Dichter nicht.

Boeckhs Definition lässt sich u.a. dadurch erklären, dass er in erster Linie klassischer Philologe war und daher mehr an philosophische als an ausgesprochen dichterische Texte dachte. Ein literarischer Text unterscheidet sich aber durchaus von einem philosophischen Text, obwohl die Differenz gelegentlich von beiden Seiten her überschritten wird (etwa im philosophischen Roman Voltaires oder im philosophischen Dialog Platons). Eben weil es sich in bezug auf die Literatur nicht um ein gegebenes Wissen handelt, das wir nur wiederzuerkennen brauchten, sondern um Sinn, den wir ebenso gut verstehen wie missverstehen können, gibt es die philologische Hermeneutik. (Japp, 581f.)


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