1 Positivismus

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1.11 'Übergreifende' Hintergründe

1. Positives Wissen über die wirklichen Gegebenheiten der Welt wird angestrebt. Was der Erfahrung (Empirie) nicht zugänglich ist, kann wissenschaftlich nicht untersucht werden.

Ziel der Wissenschaft ist die Formulierung von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, die die Gegenstände und Sachverhalte in kausale Beziehungen zueinander setzen. Ausgegrenzt werden

metaphysische Spekulationen ebenso wie Rekonstruktionen von nicht näher nachvollziehbaren geistigen Vorgängen.

2. Das positivistische Denken ist grundsätzlich anti-metaphysisch. Die Nachprüfbarkeit der Aussagen muss gewährleistet sein; durch die Erfahrung nicht kontrollierbare Annahmen sollen ausgeschaltet werden. Alles Metaphysische gilt als müßig, nutzlos und irrelevant. Die Wissenschaft hat sich auf die übersichtliche Darstellung des Tatsächlichen zu beschränken.

Es gilt als unmöglich, durch reines Nachdenken und ohne empirische Kontrolle (mittels Beobachtungen) einen Aufschluss über die Beschaffenheit und über die Gesetze der wirklichen Welt zu gewinnen. Die Konstruktion auf der Basis vorgegebener philosophischer Prinzipien wird abgelehnt. Das empirisch Nachweisbare steht im Vordergrund. „Wir fliegen nicht gleich zu den letzten Dingen empor. Die ‘Weltanschauungen’ sind um ihren Credit gekommen“. (Scherer 1874, 411)

3. Verbreitet ist die folgende erkenntnistheoretische Auffassung, die Comte entfaltet hat: Quelle jeder menschlichen Erkenntnis sind allein die beobachtbaren, für die sinnliche Erfahrung wahrnehmbaren Tatsachen. Diese stellen sich als eine Vielzahl von Erscheinungen dar, in denen bestimmte Regelmäßigkeiten festzustellen sind, von denen ausgehend sich auf induktivem Weg die Gesetze ihrer Erscheinungsweise formulieren lassen.

Jede philosophische Position, die hinter den die Menschen umgebenden Erscheinungen eine eigene, metaphysische Wirklichkeit als einzige Quelle wahrer und sicherer Erkenntnis sieht, wird abgelehnt, da diese der sinnlichen Wahrnehmung nicht zugänglich ist.

4. Man ist generell von der strengen Kausalität alles Geschehens überzeugt. Alles soll auf die sie bewirkenden Kräfte und Einflüsse zurückgeführt werden.

Zufall und metaphysische Einwirkungen werden als geschichtsbildende Mächte ausgeschlossen.

Mit naturgesetzlicher Notwendigkeit musste alles so kommen, wie es kam.

5. Charakteristisch für die positivistische Geschichtsbetrachtung ist die Auffassung der Einheit von Natur und Gesellschaft in der Form der Reduktion der Gesellschaftsgeschichte auf Naturgeschichte; daher die Annahme des gesetzmäßigen Verlaufs der Gesellschaftsgeschichte in der Form der Gleichsetzung der angenommenen Gesetzmäßigkeiten mit Naturgesetzen; die Voraussetzung einer ‘strengen’ – linearen – Kausalität in allen Bereichen des gesellschaftlichen, also auch des geistigen Lebens; die strenge Observanz der Methodologie der Naturwissenschaften, d.h. die Orientierung auf induktive, empirische Arbeit unter Ausschluß jedes wertenden Moments.

6. Das Psychische (‘Seele’, ‘Geist’) existiert nicht unabhängig vom Physischen, es besteht eine Einheit von  Psyche und Physis. Es gibt keine Kluft zwischen der materiellen und geistigen Welt. (+)

7. Die Induktion hat den Vorrang vor der Deduktion.

8. Comtes Drei-Zeitalter-Modell der menschlichen Erkenntnis oder Dreistadiengesetz, das zwischen einem theologischen, einem metaphysischen und einem positiven Stadium unterscheidet, ist vielfach als Hintergrundtheorie wirksam. Nach Comte ist das positiv(istisch)e Denken die Konsequenz einer notwendigen, nicht umkehrbaren Entwicklung der Welt- und Naturerklärung, die einen Fortschritt der Menschheit darstellt. Jede Wissenschaft wie auch jeder Mensch macht demnach im Laufe der Entwicklung drei einander ablösende Phasen durch.

Im ersten – theologischen oder fiktiven – Stadium strebt der Mensch auf der Grundlage seines religiösen Weltbildes absolute Erkenntnis an und führt die Naturerscheinungen auf die Einwirkung göttlicher Wesen zurück. Im zweiten, dem metaphysischen oder abstrakten Stadium treten Philosophie und Metaphysik an die Stelle von Theologie und Religion; das bedeutet noch nicht die Aufgabe des Wunsches nach absoluter Erkenntnis, doch werden die übernatürlichen göttlichen Mächte durch abstrakte Kräfte oder Wesenheiten ersetzt wie beispielsweise die Vorstellung vom Wirken der Natur. Erst in dem positiven Stadium, auf das die ganze Entwicklung hinsteuert, verzichtet das menschliche Denken auf Erklärungen der Wirklichkeit, die außerhalb der erfahrbaren Tatsachen liegen. Die Bestimmung der ‘eigentlichen’ Ursachen, die unerreichbar ist, wird ersetzt durch die einfache Erforschung von Gesetzen, d.h. der konstanten Beziehungen, die zwischen den beobachteten Phänomenen bestehen. 

Das besagt auch: Das Relative wird an die Stelle des Absoluten gesetzt.

Sichere Erkenntnis ist nur durch Beobachtung und Experiment zu gewinnen, indem man auf induktivem Wege, d.h. fortschreitend von dem Besonderen zum Allgemeinen, zur Feststellung allgemeiner Tatsachen kommt.

9. Comte sieht das Dreistadiengesetz auch als Grundlage für den gesamten geschichtlichen Zivilisationsprozess an; in Analogie zur wissenschaftlichen Entwicklung spricht er von dem theologisch-militärischen, dem metaphysisch-juristischen und dem wissenschaftlich-industriellen Zustand der europäischen Gesellschaft. Dieser geschichtsphilosophischen Konstruktion verdankt der Positivismus seine starke Anziehungskraft. Er versprach Antwort zu geben auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte, dem Ziel geschichtlicher Entwicklung und der Bewertung einzelner Zeiträume, und er schien die Geschichte zur Wissenschaft zu erheben.

10. Die naturwissenschaftlich-technische Entwicklung wird grundsätzlich bejaht. „Die Naturwissenschaft zieht als Triumphator auf dem Siegeswagen einher, an den wir Alle gefesselt sind“. (Scherer 1874, 411)

11. Zu den Weltbildannahmen und Wertüberzeugungen Scherers:

Scherer fühlte sich einer neuen Generation zugehörig, die in fundamentalem Gegensatz zu Hegel und seiner dialektischen Schule stand.

Während seines ganzen Lebens hört Scherer niemals auf, dem Gedanken eines vereinigten Deutschlands unter preußischer Führung seine glühende politische und geistige Unterstützung

zu widmen.

Scherer glaubte an eine geistige Einheit, welche die deutschsprachigen Gebiete in ihrer ganzen Geschichte durchdrang. Im Mittelpunkt seines Interesses steht der Geist der Nation als eine Einheit.

Scherer setzt einen „Nationalcharakter“ voraus, der sich aus erblicher Veranlagung, natürlichen Lebensbedingungen und ursprünglicher Lebensweise des Volkes in vorgeschichtlicher Zeit gebildet habe und das Auftreten dieses Volkes in der Geschichte bestimmen sollte. Die Völker sind demnach die Subjekte der Geschichte. Und Geschichte wird als Geschichte des Aufeinandertreffens von Nationalcharakteren gesehen.

Scherer zeigt eine dezidiert kirchenfeindliche Haltung. Die katholische Kirche bildet für Scherer ein mächtiges Hindernis gegen den geistigen Fortschritt, besonders seit ihm dieser Fortschritt nur mit den Methoden der Naturwissenschaften realisierbar zu sein schien. Die Religion ist in den Bereich des Mythos und des Aberglaubens zu verweisen. Scherer behauptet sogar, organisierte Religion in Deutschland sei zu allen Zeiten der literarischen Schöpferkraft abträglich gewesen.

12. Wir wollen versuchen, die positivistische Denkweise in den schematischsten, allgemeinsten Begriffen zu charakterisieren. Der Positivismus ist eine bestimmte philosophische Haltung, die das menschliche Wissen betrifft. Er stellt Regeln darüber auf, welche Art von Inhalten, die in unseren Aussagen über die Welt enthalten sind, den Namen Wissen verdienen, er nennt die Normen, die die Unterscheidung zwischen dem erlauben, was den Gegenstand einer möglichen Frage darstellt und dem, wonach vernünftig nicht mehr gefragt werden kann. Es wird unterschieden zwischen philosophischen und wissenschaftlichen Kontroversen, die zu führen es sich lohnt, und denjenigen, die keine Chance auf Entscheidung haben und demzufolge keine Beachtung verdienen. Falsch formulierte Probleme lassen sich nach positivistischer Auffassung vermeiden, wenn man vor allem die folgenden vier Regeln bzw. Ideen anwendet.

1. Regel des Phänomenalismus. Sie besagt: Es besteht kein realer Unterschied zwischen ‘Wesen’ und ‘Erscheinung’. Das ist eine Abgrenzung gegenüber traditionellen metaphysischen Doktrinen, denen zufolge verschiedene wahrgenommene oder wahrnehmbare Phänomene Erscheinungsweisen einer Wirklichkeit seien, die der sinnlichen Erkenntnis nicht unmittelbar sich offenbaren könne. Nach positivistischer Auffassung haben wir zwar das Recht, das zu registrieren, was sich der Erfahrung tatsächlich zeigt, jegliche Meinungen über verborgene Existenzen, deren Erscheinungen die empirischen Daseinsweisen sein sollen, sind jedoch unglaubwürdig. Kontroversen in Fragen, die über den Erfahrungsbereich hinausgehen, haben rein verbalen Charakter.

Damit wird nicht jegliche Unterscheidung zwischen ‘Erscheinung’ und ‘Ursache’ kritisiert. Niemand zweifelt daran, dass Keuchhusten als eine besondere Art von Hustenanfall ‘in Erscheinung’ tritt, doch sofern eine derartige Krankheitseinheit isoliert wurde, ist es nicht mehr legitim, den Husten als ‘Erscheinung’ anzusehen und Fragen nach dem eigentümlichen ‘verborgenen Mechanismus’ dieser Erscheinung zu stellen. Den Phänomenalisten geht es nicht um die Elimination von Fragen, die sich auf unmittelbar nicht sichtbare Ursachen des beobachteten Phänomens beziehen, sondern um die Erklärung des Phänomens durch die Anwesenheit von verborgenen Existenzen, die sich grundsätzlich nicht mit dem Menschen zugänglichen Mitteln entdecken lassen.

Wenn z.B. ‘Materie’ oder ‘Geist’ etwas vom Gesamt der beobachteten Welteigenschaften Unterschiedliches und etwas sein soll, dessen Gegenwart uns die beobachteten Erscheinungen nicht besser erklärt, als man sie ohne Zuhilfenahme dieser Begriffe erklären kann, gibt es keinen vernünftigen Grund, auf diese Gebilde zurückzugreifen.

2. Regel des Nominalismus. Sie besteht im Verbot der Annahme, dass irgendwelches Wissen, das in Allgemeinbegriffen formuliert ist, andere Entsprechungen in der Wirklichkeit besitze als die konkreten singulären Gegenstände. Wir sind immer dann berechtigt, die Existenz gleich wessen anzuerkennen, wenn uns die Erfahrung dazu zwingt. Keine Erfahrung zwingt uns jedoch zur Annahme, daß z.B. unserem allgemeinen Wissen von den Eigenschaften des Dreiecks ein bestimmtes Sein entspricht, das sich von dem der singulären dreieckigen Körper unterscheidet und eine selbständige Existenz besitzt.

Bestimmte Idealsituationen – wie mechanisches Vakuum, isoliertes System, jede geometrische Figur – sind unsere eigenen Hervorbringungen, die zur besseren, verknappten und verallgemeinernden Beschreibung der empirischen Realitäten dienen. Es gibt keinen Grund für die Annahme, daß solche Situationen, die wir aus Rechnungsbequemlichkeit voraussetzen, irgendwo in der Wirklichkeit eintreten müssen. Das System, das unsere Erfahrung ordnet, muss so geartet sein, dass es keine zusätzlichen seienden Wesenheiten in die Erfahrung hineinträgt, die nicht in ihr enthalten sind, oder dass es, falls es sich abstrakter Werkzeuge bedienen muss, stets die Erinnerung daran wach hält, dass es sich eben um Werkzeuge, um menschliche Gebilde handelt, die die Erfahrung gliedern, die jedoch keinen Anspruch auf selbständiges Sein erheben dürfen.

Das abstrakte Wissen verschafft uns also keinen Zugang zu Wirklichkeitsbereichen, die der Erfahrung verschlossen sind. Alle allgemeinen Entitäten, mit denen die frühere Metaphysik die Welt füllte, sind Hirngespinste, die daraus entstanden sind, dass etwas als Seiendes anerkannt wurde, das außerhalb des Wortes selbst nicht existieren kann. In der Welt der Erfahrung gibt es nichts ‘Allgemeines’.

3. Regel, die Werturteilen und normativen Aussagen den Erkenntniswert abspricht. Keine Erfahrung kann uns dazu nötigen, mit Hilfe logischer Operationen Aussagen anzuerkennen, die Gebote oder Verbote beinhalten, die also besagen, dass man etwas zu tun oder zu unterlassen habe. Zwar lassen sich im Hinblick auf das Ziel, das sich jemand setzt, Urteile rechtfertigen, die Aussagen über die Wirksamkeit der Mittel treffen, die zu diesem Zweck angewandt werden; derartige Urteile haben technischen Charakter. Unzulässig ist hingegen die Annahme, dass jede beliebige Affirmation von Werten, die wir an sich – und nicht in bezug auf etwas anderes – anerkennen, durch Erfahrungsdaten zu rechtfertigen sei. Wenn man einen Wert anerkennt, muss man das mit dem Bewusstsein der Arbitrarität dieser Entscheidung tun.

Aus der Regel des Phänomenalismus folgt, dass die Annahme abzulehnen ist, die Werte seien Eigenschaften einer Welt, die der ‘wahren’ Erkenntnis zugänglich wären. Und aus der Regel des Nominalismus folgt der Verzicht auf die Vermutung, dass außerhalb der sichtbaren Welt ein Bereich selbständig seiender Werte existiere. Werturteile haben keine wissenschaftlichen Rechtsgründe und lassen sich nur durch unsere Entscheidung begründen.

4. Glaube an die grundsätzliche Einheit der Wissensmethode. In der allgemeinsten Form geht es hier um die Überzeugung, dass die Methoden der Aneignung wertvollen Wissens in allen Erfahrungsbereichen grundsätzlich identisch und dass auch die wichtigsten Etappen der Verarbeitung von Erfahrung in der theoretischen Reflexion identisch seien. Es ist somit kein Grund zu der Annahme gegeben, dass die qualitativen Besonderheiten der einzelnen Wissenschaften etwas anderes darstellen als das Symptom eines bestimmten historischen Stadiums der Wissenschaft; hingegen ist die Hoffnung berechtigt, dass der weitere Fortschritt zur allmählichen Aufhebung der Unterschiede und sogar, wie viele meinen, zur Reduktion aller Wissensdisziplinen auf eine einzige führen würde. Man stellte sich hierbei häufig vor, dass die Physik jene alleinige Wissenschaft im eigentlichen Wortsinn werden würde, da sie unter den empirischen Disziplinen die exaktesten Methoden der Beschreibung erarbeitet hatte und da sie mit ihren Erklärungen die allgemeinsten Eigenschaften und Erscheinungen in der Natur umfasst, d.h. diejenigen, ohne die keine anderen stattfinden.

Der Positivismus ist insgesamt ein Ensemble von Verboten, die das menschliche Wissen betreffen und die die Bezeichnung ‘Wissen’ und ‘Wissenschaft’ denjenigen Verfahren vorzubehalten suchen, die man in der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft beobachten kann. Der Positivismus richtete die Spitze seiner Polemik gegen metaphysische Überlegungen jeglicher Art, die ihre Ergebnisse entweder nicht gänzlich auf empirische Daten zu stützen vermochte oder die ihre Urteile in einer Weise formulierte, dass die empirischen Daten ihnen nie widersprechen konnten. Der Positivismus richtete seine Kritik gleichermaßen gegen die religiösen Weltinterpretationen wie gegen die Metaphysik des Materialismus und ist auf der Suche nach einem Beobachtungsstandort, der völlig frei wäre von jeglichen metaphysischen Voraussetzungen.


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