1 Positivismus

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1.02 Perspektiven/Ziele

1. Angestrebt wird generell, aber auch im Hinblick auf literarische Texte, die Erkenntnis gesetzmäßiger Beziehungen zwischen Fakten. Man will die Ursachen des Gegebenen ergründen. „Keine noch so treue und gewissenhafte Erforschung der Thatsachen [...] kann den Historiker der Pflicht entheben, die Ursachen dessen zu ergründen, was geschieht“. (Scherer 1893, 66) „Gewissenhafte Untersuchung des Thatsächlichen ist die erste und unerläßliche Forderung. Aber die einzelne Thatsache als solche hat an Werth für uns verloren. Was uns interessirt, ist vielmehr das Gesetz, welches daran zur Erscheinung kommt. Daher die ungemeine Bedeutung, welche die Lehre von der Unfreiheit des Willens, von der strengen Causalität auch in der Erforschung des geistigen Lebens erlangt hat.“ (Scherer 1874, 412) Die „sicher erkannte Erscheinung“ ist auf die „wirkenden Kräfte“ zurückzuführen, „die sie ins Dasein riefen“. (Ebd., 411)

Von diesem Erkenntnisziel her läßt sich die positivistische Methode als „Gesetzeswissenschaft“ bezeichnen, deren Verfahrensweise ‘nomothetisch’ ausgerichtet ist.

Der Anspruch der Wissenschaftlichkeit, den der Positivismus erhebt, besteht also entgegen landläufiger Ansicht nicht in der bloßen Anhäufung von Tatsachen, sondern in der Zusammenstellung von aus diesen Fakten zu gewinnenden Gesetzen und gesetzmäßig ablaufenden Entwicklungen.

2. Aufgabe der Literaturwissenschaft ist es, das literarische Werk, das durch bestimmte Bedingungen determiniert ist, ist auf diese hin zu untersuchen.

Es soll herausgefunden werden, wie weit die Umwelteinflüsse den Künstler und sein Werk determinieren. Die Werke der Kunst sind Fakten, deren charakteristische Züge Resultate bestimmter Ursachen sind, die es zu erforschen gilt. Man sucht vorrangig nach den äußeren Bedingungen eines Kunstwerks, nach den äußeren Gegebenheiten, die zur Entstehung der Werke (und dann auch zu ihrer Wirkung) geführt haben.

3. Das Werk soll biographisch erklärt werden. Hat man das vom Autor Ererbte, Erlernte und Erlebte – seine Naturanlage, seine Erziehung und seinen Lebensgang – erforscht, so ist damit zugleich das Verständnis der Werke gewährleistet. Dichtung ist als Produkt einsehbar und erklärbar.

4. Die literarischen Werke sind auf reale Faktoren zurückzuführen: die Quellen eines Stoffs, die technischen Fertigkeiten des Autors, die geographischen und zeitlichen Details der Entstehungsgeschichte eines Werks. Die Basis der modernen Literaturwissenschaft soll die Auswertung von Quellenmaterial und biographischen Einzelheiten sein.

5. Für den Positivismus charakteristisch ist die Erforschung von Leben und Werk, von Quellen und Einflüssen sowie vom Nachruhm der Autoren.

6. An erster Stelle steht die Frage nach einer gesicherten Textgrundlage, d.h. nach Ausgaben, die die Texte in einer Fassung enthalten, die dem Willen des Autors entspricht oder diesem möglichst nahe kommt. Die Herstellung gesicherter Texte bildet die Voraussetzung für die Erklärung der Werke auf Grund biographischer Forschungen; denn die kausale Verkettung von Leben und Werk macht die Kenntnis der Biographie zur Bedingung für das Verständnis der Literatur. Hinzu kommt die stoff- und motivgeschichtliche Quellenforschung, die die Beziehung zu vorangegangenen Dichtern und Epochen herstellt, sowie die Untersuchung der Wirkung des jeweiligen Textes sowohl auf das Publikum wie auf nachfolgende Autoren.


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