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klaus-juergen bruder

Klaus-Jürgen Bruder, Jg. 1941,
Psychoanalytiker, Professor für Psychologie,
Freie Universität Berlin, FB 12, Arbeitsbereich Theorie und Geschichte der Psychologie,
Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin;
Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP);
Herausgeber der Schriftenreihe Subjektivität und Postmoderne im Psychosozial-Verlag Giessen;
Mitherausgeber der Zeitschrift Geschichte der Psychologie

Veröffentlichungen u.a.:

Klaus-Jürgen Bruder

La condition postmoderne - est-ce qu'elle est passée?
Eine Zeitdiagnose

Um die Postmoderne ist es merkwürdig still geworden. Das „alles ist möglich“ scheint dem TINA-Prinzip gewichen: „es gibt keine Alternative“ - zu den herrschenden Zuständen des Lebens und Zusammenlebens, der Politik. Die „Notwendigkeit“ der Ökonomie, der „Globalisierung“ hat sich wieder auf die übermütigen Subjekte gelegt: Rückfall in die Moderne?
Der postmoderne Diskurs hatte das Ende, die Auflösung der „Großen Erzählungen“ der Moderne behauptet, und damit zugleich die Befreiung der Subjekte aus dem Zwangskorsett der „Identität“. Denn auch die „Identität“ des Subjekts war unter die Großen Erzählungen eingereiht worden. Wir seien frei darin, unsere „Identität“ jeweils neu zu erfinden, sie durch unsere - kleinen - Erzählungen über uns, über unsere Geschichte, unsere Pläne und Hoffnungen, „narrativ“ zu erschaffen (Bruder 1990; 1993; 1994; 1999).
Diese Selbsterschaffung hat sich inzwischen immer mehr als Zwang herausgestellt: Zwang zur Selbstverwirklichung, Autonomie, Kreativität, Flexibilität (s. Boltanski & Chiapello 1999; s.a. Bruder 2005 b). Was als Befreiung gefeiert worden war, zeigt sich nun als eine Abstraktion von den tatsächlichen Beschränkungen, Forderungen, Zumutungen - der Macht. Die Macht war lediglich unsichtbar geworden, abstrakt, dem Bewusstsein entzogen, unbewusst.
Wir „konstruieren“ zwar uns und unsere Welt. Aber zugleich sind wir nicht frei, jede beliebige Geschichte zu wählen, jede beliebige Konstruktion. Unsere Wahl bewegt sich zunächst innerhalb des Rahmens jener Geschichten, die wir von anderen gehört haben, die andere über uns (und über sich) uns erzählt haben, - zunächst die Eltern, dann andere. Und immer gehen in diese Erzählungen die Geschichten ein, die sie selbst gehört und gelesen haben, also die Diskurse außerhalb der Dyade, heute in ganz entscheidendem Umfang der „Medien“.
Wir übernehmen diese Geschichten nicht einfach, wir variieren sie - wie das Thema einer Sonate. In der Narration geben wir dem Thema seine konkrete Gestalt, verwirklichen wir das Thema des Diskurses. Aber zugleich ist es das Thema, das sich durch seine Variationen durchhält. Unsere „Selbstschöpfung“ folgt also einem Imperativ, den nicht wir aufgestellt hatten: „uns zu dem zu machen, zu dem wir gemacht worden sind“ (Sartre). Nicht bewusst und absichtlich, sondern ohne dass wir dies wissen und gegen unseren - bewussten - Willen. Als ob wir einer Macht jenseits unseres Willens und Bewusstsein folgten.

Dies war bereits die Sicht der Psychoanalyse. Während die Postmoderne, als Kritik der „Metaerzählungen“ (der Moderne), ihrer Auflösung in die Vielfalt und Vielstimmigkeit der Narrationen, die Macht selbst, das „Jenseits“ des Bewusstseins (des Subjekt) zu vergessen schien und sie auf der Ebene des Imaginären (der Dyade) ansiedelte, war für die Psychoanalyse das Subjekt nicht Herr im eigenen Haus, vielmehr einer Macht unterworfen, die das Subjekt lediglich verleugnet, die sein Denken und Handeln bestimmt, gegen seinen Willen und hinter dem Rücken seines Bewusstseins, die „jenseits“ seines bewussten Willens angesiedelt ist: im „Unbewussten“, aus dem Unbewussten wirkt (Bruder 2005 c). Gegen das „Unbewusste“ hat sich die Psychologie immer schon gewehrt. Darin erweist sie sich als moderne Wissenschaft, die versucht gerade „mit dem Rücken zum Unbewussten voranzuschreiten“ (Foucault 1966).
Für eine Kritik an der Moderne müssen wir also von der Psychoanalyse ausgehen. Allerdings hat Freud nicht nur die moderne Vorstellung vom Subjekt als Souverän seines Handelns und Denkens bereits desavouiert, sondern Freud hatte zugleich diese Selbstüberschätzung des modernen Subjekts wieder machttheoretisch zurückgenommen: er hat die Macht, die unser Denken und Handeln bestimmt in uns selbst zurückverlagert, im Unbewussten als psychischer Instanz verkörpert.
Recht hatte Freud insofern, als Herrschaft durch das Subjekt selbst aufrechterhalten wird - und gleichzeitig verleugnet, unbewusst gehalten. Aber indem er diese entscheidende Qualität der Macht, uns nicht bewusst zu sein, unbewusst, ohne Willen und Bewusstsein ihr zu folgen, als „Instanz“ in uns selbst - verdinglicht hat: das „Unbewusste“ -, hat die Psychoanalyse aus der Bedingung der Wirkung der Macht eine Macht (in uns) gemacht und damit die Macht (außerhalb) „vergessen“, unbewusst gemacht. Und: einen Schritt weiter begründet Freud Herrschaft durch das Subjekt selbst aus der Notwendigkeit, seine „Triebe“ zu unterdrücken (Bruder 2002; 2005 a; 2006 b).
Für eine Kritik an der Moderne reicht deshalb die Psychoanalyse Freuds nicht aus. Und zwar aus demselben Grund, wie der postmoderne Diskurs nicht ausreicht: aus dem Grund ihrer Machtvergessenheit (Bruder-Bezzel 1985). Das Unbewusste ist zuerst beim anderen, bevor es beim Subjekt ist. Das Unbewusste als die Macht, die unser Denken und Handeln bestimmt, ist außerhalb des Subjekts (Lacan). Ich wende mich deshalb Lacans Reformulierung der Psychoanalyse zu, die dieses Unbewusste in jenem - „überindividuellen“ - Diskurs (des Anderen) verortet und damit die Macht, die uns gegen unseren Willen und hinter dem Rücken unseres Bewusstseins bestimmt - wieder an ihren Ort zurück setzt (Bruder 2003).
Zugleich hat Lacan die Postmoderne vorweggenommen. Lacan war in der Tat für die postmoderne Diskussion - zunächst der „französischen“ - der entscheidende - und bislang unbeachtete - Boden und Horizont. Alle waren sie bei Lacan in die Schule gegangen, die meisten hatten an seinen Seminaren teilgenommen. Bei Lacan tauchen bereits die postmodernen Topoi auf - 25 Jahre vor Lyotards (1979) stichwortgebendem Essay: Kritik des „autonomen Ich“, die Konstitution des Subjekts im - „überindividuellen“ - Diskurs.

Zugleich und darüber hinaus haben diese Formulierungen bei Lacan einen kritischen Glanz, den sie inzwischen - zumindest in der anglo-amerikanischen Diskussion - verloren zu haben scheinen. Diese macht eher den Eindruck einer gewissen routinierten Abgeklärtheit, von „Plaudereien am Kamin von Richard Rorty“ (Deleuze & Guattari 1991), die den aktuell brennenden Themen und Problemen außerhalb gegenüber abgestumpft zu sein scheint: den neoliberalen Globalisierungsstrategien des Abbaus des Sozialstaats, wie des begleitenden Ausbaus des Sicherheitsstaats, der Produktion von Arbeitslosigkeit und Armut, mit der Beschwörung des Wirtschaftswachstums, der Brutalisierung politischen Handelns, der flächenbrandartigen Ausbreitung von Kriegen. Dieses Heraustreten der Macht als gewaltförmiger, kriegerischer - nicht nur in den Kriegen zwischen Staaten, sondern zugleich als Krieg gegen die Bevölkerung in der neoliberalen Offensive - eine (teilweise) Aufhebung der Abstraktheit der Macht durch diese selbst hat möglicherweise den Diskurs der Postmoderne selbst aufgehoben.

I.

Beginnen wir also mit Lacan. Lacan eröffnet seine Seminare mit der Darstellung des Feldes der Sprache und der Funktion des Sprechens in der Analyse. Er entwickelt dort das folgende „Schema des Sprechens“ (2. Seminar: 1954/55).

XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX

Indem das Ich (a')[1] sich an a (den anwesenden anderen) wendet, zu diesem zu sprechen meint, antwortet es () auf A (den abwesenden Anderen), den anderen aus seiner vergangenen Geschichte: die „Übertragung“.
Dass auf A antwortet ist a' nicht bewusst. Der Diskurs des Anderen ist das Unbewusste. Er bestimmt unser Denken, Sprechen, usw. indem in ihn eintreten.
In diesem Sinne ist der Diskurs des Anderen die Macht, die unser Denken und Sprechen bestimmt. Und in diesem Sinne ist diese Macht unbewusst, wirkt ohne dass es uns bewusst wäre (oder zu sein brauchte).

Die Behauptung des Unbewussten durch die Psychoanalyse war bereits gegen die Moderne gerichtet, gegen die moderne Vorstellung vom souveränen Subjekt.
Das A, das hier durch die Psychoanalyse eingeführt, war in der Subjekt-Vorstellung der Moderne gestrichen, die Stelle die Macht war leer geblieben.

------------ a a'

Dadurch gerade hatte sich das moderne Subjekt als Herr, als souverän gesetzt.

Die Psychoanalyse macht sich lustig über diesen „dummen August“, der noch nicht einmal Herr im eigenen Haus sei. Der lediglich verleugnet, dass es eine Macht gibt, die sein Handeln und Denken bestimme.

II.

Auch die Postmoderne ist eine Kritik des modernen Subjekts. Bei Lyotard scheint die Rolle eines Subjekts eher den Diskursen, Diskurs-Arten und Satzregelsystemen zuzufallen (Lyotard 1983, S. 10).
Ein Satz wird von einer Gruppe von Regeln gebildet (Regelsystem, Regime). Es gibt mehrere Regelsysteme von Sätzen: Argumentieren, Erkennen, Beschreiben, Erzählen, Fragen, Zeigen, Befehlen usw. Zwei Sätze ungleichartiger, heterogener Regelsysteme lassen sich nicht ineinander übersetzen. Sie können in Hinblick auf einen durch eine Diskursart festgelegten Zweck miteinander verkettet werden. Wobei der Einsatz darin besteht, dass die beiden Parteien Übereinstimmung hinsichtlich der Bedeutung eines Referenten erzielen. Diese Diskursarten liefern Regeln zur Verkettung ungleichartiger Sätze, mit denen Ziele erreicht werden können: Wissen, Lehren, Rechthaben, Verführen, Rechtfertigen, Bewerten, Erschüttern, Kontrollieren (Lyotard 1983, These).
Die Ziele aber „erwachsen [...] aus den Diskursarten. “Sie nehmen von den Sätzen Besitz und von den durch sie dargestellten Instanzen, insbesondere von „uns“. „Wir“ streben sie nicht an. Unsere „Absichten“ sind die Spannungen bei gewissen Verkettungsweisen, die die Diskursarten übertragen auf die Empfänger und Sender von Sätzen, auf deren Referenten und Bedeutungen. "Wir glauben, dass wir überreden, verführen, überzeugen ... - doch zwingt nur eine dialektische, erotische, didaktische, ethische, rhetorische, "ironische" Diskursart "unseren" Satz und "uns" selbst ihren Verkettungsmodus auf. Es gibt keinen Grund, diese Spannungen Absichten und Willen zu nennen, außer der Eitelkeit, - der Verkehrung des Anthropozentrismus - auf unser Konto zu verbuchen, was dem Vorkommnis und dem Widerstreit zukommt, den es zwischen den verschiedenen Weisen daran anzuknüpfen, hervorruft“ (Lyotard 1983, Paragraph 183). Das Subjekt ist „immer auf "Knoten" des Kommunikationskreislaufes gesetzt, auf Posten, die von Nachrichten verschiedener Natur passiert werden. [...] Sie durchqueren es, indem sie ihm die Stelle entweder des Senders oder des Empfängers oder des Referenten zuordnen“ (Lyotard 1979, S. 55).
Der Satz: enthält die Positionen:

Sender Empfänger/Adressat Referent Bedeutung (Sinn)

"Sender und Empfänger sind markierte oder nicht-markierte Instanzen, die durch einen Satz dargestellt werden. Dieser Satz ist keine Botschaft, die von einem Sender zu einem Empfänger - beide von ihm unabhängig - gelangt. Sender und Empfänger werden im Universum, das der Satz darstellt, situiert, genauso wie dessen Referent und dessen Sinn“ (Lyotard 1983, Paragraph 18). Sie sind erst mit dem Satz gegeben, gehen ihm keinesfalls voraus.
Vergleichen wir diese Struktur mit dem Schema des Sprechens (bei Lacan), so fällt zunächst die Eindimensionalität auf: es fehlt der „2. Satz“ hinter, unter, jenseits des ersten, der gemeinte, jenseits des gesagten Satzes - der „Positivismus“ der Postmoderne (Foucault).

Dies wird noch deutlicher, wenn wir die Positionen im Satz anders schreiben, statt in einer Linie, folgendermaßen:

Sender Empfänger / Adressat Referent Bedeutung (Sinn)

Wir können darin die Lacansche Formel des Diskurses erkennen (im Folgenden: Lacan 1969/70: Seminar XVII):

S1 → S2 a

Der Signifikant (S1) ist dadurch definiert, dass er ein Subjekt () für einen anderen Signifikanten (S2) repräsentiert.
Auch hier haben wir 4 Positionen (die hier von S1, S2, und a eingenommen werden):

Herrensignifikant → Wissen Subjekt Genießen

Ebenfalls werden auch hier die Positionen nicht durch S1, S2, und a definiert, sondern durch den Diskurs:

Begehren → Anderer Wahrheit Verlust (des Genießens)

Durch die unterschiedliche Positionierung auf den Positionen ergeben sich vier unterschiedliche Diskurse:
Diskurs des Herrn, der Wissenschaft, des Analytikers und der Hysterika:

Zugleich sind die Diskurse - durch eine Vierteldrehung - miteinander verbunden, die zeigt, dass sie alle den Diskurs des Herrn stützen. Die „Vielfalt“ der Diskurse ist also eine des „Diskurses des Herrn“, in dem das Subjekt als „gespaltenes“ () produziert wird: als „Sklave, der sich als Herr fühlt“.
Zurück zu Lyotard:

S1 → S2 Sender Empfänger/ Adressat a Referent Bedeutung (Sinn)

Zwar ist das Subjekt nicht Subjekt seines Satzes, Subjekt seiner Position - bei Lyotard ebenso wenig wie bei Lacan. Die Position wird ihm zugewiesen - durch den Satz. Es wird „gesprochen“ (Lacan). Die Diskursart schreibt die Verknüpfung vor, dh in der Diskursart des Befehls kann man nur gehorsam folgen (oder Gehorsam verweigern; schweigen). Der Diskurs (die Diskursart) schreibt vor, wie, mit welchem Satz wir in ihn eintreten, wie wir unsere Sätze bilden („verketten“) - oder schweigen (müssen). In einem bestimmten Diskurs(Diskursart) nicht mögliche Sätze können nicht gebildet werden - sie können nur durch Schweigen vertreten werden. Die Macht (das Unbewusste) ist die Macht des Diskurses, Diskursmacht
Aber: das Unbewusste, bei Lacan der Diskurs des Anderen, wird hier (bei Lyotard) um den Anderen verkürzt. Das Unbewusste ist nur noch der Diskurs - ohne einen Anderen, der sein Subjekt wäre. Der Andere fehlt hier (in der postmodernen Formulierung Lyotards), und zwar nicht der konkrete andere, es fehlt nicht das Du der Dyade, sondern der abwesende Andere. Der Diskurs bleibt eigenartig „Herrenlos“.
Der Diskurs ist nicht mehr die „Dritte“ Dimension, jenseits der Dyade:

Alles spielt sich so ab, es gäbe es nur die Ebene a' - a, die Ebene der Dyade. Auf ihr ist somit die „Intersubjektivität“ anzusiedeln, die der „Narration“. Und damit die Selbstkonstitution (in der Narration).
Wir stellen uns selbst her, ebenso wie unsere Welt, durch unsere Erzählungen, durch das Erzählen der Geschichte über mich (und andere). Es erscheint so, als ob das Subjekt wieder in seine Herrenrolle eingesetzt wäre, so als ob sich das Unbewusste aufgelöst hätte und damit: die Macht, die unser Reden, Denken, Handeln bestimmt, gegen unseren Willen und ohne unser Bewusstsein.

Zugleich ist aber diese Macht nicht zu bestreiten, die unser Reden, Denken, Handeln usw. bestimmt - gegen unseren Willen und hinter dem Rücken unseres Bewusstseins. Das ist die Situation der Postmoderne, die „condition postmoderne“ (Lyotard): die Macht ist unserem Bewusstsein nicht zugänglich. Sie ist “jenseits“ unseres Lebenshorizonts angesiedelt, unpersönlich, unserer bewussten Erfassung, unserer sinnlichen Erfahrung entzogen, abstrakt: nur an ihren Wirkungen zu erfassen (Foucault), die ohne unser Bewusstsein wie gegen unseren Willen zustande kommen: unbewusst.

III.

Die Wirkungen der (abstrakten) Macht zeigen sich unbestreitbar in unserem Alltag. Dort sind sie (konkret) zu erfahren: in der Intersubjektivität personaler Beziehungen.
Und weil sie dort, in den Beziehungen erfahren werden, werden sie (die Wirkungen der abstrakten Macht) auch als solche (Wirkungen) der konkreten Beziehung wahrgenommen, als vom (anwesenden) anderen kommend, vom Subjekt beantwortet, agiert: Die „Machtkämpfe“ in den Beziehungen - als Kämpfe um Anerkennung des Subjekts durch den anderen, Kämpfe um Überlegenheit (Adler), als „Souveränität“ des Subjekts.
Und im Umkehrschluss werden die (gesellschaftlichen) Machtbeziehungen (-verhältnisse) nach dem Muster dieser Erfahrung/Wahrnehmung (in der Dyade) als Machtbeziehungen zwischen Personen gedeutet und in den Beziehungen begründet, als grundlegende, überhistorische condition humaine. Die Abstraktheit der (gesellschaftlichen) Macht wird konkretisiert, mit den Figuren unserer persönlichen Erfahrungswelt bevölkert. Deshalb ist (immer noch) die Max Webersche Definition von Macht überzeugend: Macht als „Chance“, innerhalb einer „sozialen Beziehung“ - seinen „eigenen Willen durchzusetzen“ (Weber 1922, S. 28). Macht als personale Macht über andere - innerhalb einer sozialen Beziehung: Die “Phantasmen der Macht“.
Mario Erdheim (1982) sieht in ihnen die Weise, wie sich die Beherrschten ihre für sie unerträglichen Lebensbedingungen, den Zustand gesellschaftlicher Herrschaft erträglicher zu machen versuchen, die Abstraktheit der Macht mit Fleisch und Blut auszustatten, fassbar zu machen. Sein Beispiel: Freud gegenüber der Kriegserklärung Franz Josefs. Dieser konnte sich nicht vorstellen, dass der Kaiser nicht - wie der ersehnte gütige Vater - alles für sein Volk gibt und den Feinden des Volkes die Stirn bietet - so wie es heute für uns unvorstellbar ist, Bush hätte den Anlass für den Krieg gegen den „Terrorismus“ selbst initiiert (Wie in dem Film „Loose Change“ (Kleingeld) von Dylan Avery ein US-Geheimdienst).
Allenfalls beurteilen wir die ergriffenen „Konsequenzen“ als falsch: der Krieg gegen den Terrorismus verstärke diesen erst, sagen wir, er zerstöre die Demokratie - der Zustand in Afghanistan und Irak bestätigt dies. Aber wir können kaum glauben, dass dies das Ziel (gewesen) sein könnte. Wir können sogar soweit gehen, die Erscheinungen (des Terrorismus in der arabischen Welt) als Folgen falscher Entscheidungen, Handlungen (des Westens) in der Vergangenheit zu erklären (die Demütigung der islamischen Welt - durch die westliche Überheblichkeit (Imperialismus). Wir können uns aber nicht vorstellen, dass diese „Folgen“ einkalkuliert (beabsichtigt) gewesen sein könnten, dass sie bereits in die Planung der „falschen Gründe“ eingegangen, einbezogen worden waren.
Genauso wie wir denken, es sei falsch, die bestehende Arbeitslosigkeit durch Verlängerung der Arbeitszeit zu bekämpfen - womit wir recht haben. Aber wir unterstellen dabei, dass es das Ziel der Politik sei, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.

Wir betrachten die Welt nicht aus der Perspektive der Herren, die die Folgen viel genauer im Auge haben, von denen wir immer nur überrascht sind, weil sie die „Ursachen“ selber geschaffen haben. Wir trauen den Machthabern nicht zu, derart zynisch jene „Folgen“ zu provozieren, dass sie den Tod von Tausenden einkalkulieren. Wir denken von der Herrschenden, sie seien „Menschen wie „du und Ich“ - Obwohl wir immer wieder eines Schlechteren belehrt werden.

IV.

Die Phantasmen der Macht entstammen aber nicht nur unserer Erfahrung der Macht(Wirkungen) in der Dyade, sie sind nicht nur Ausgeburt unserer Phantasie (des dummen August). Sie werden uns tagtäglich durch die Medien, durch die Politiker und „Meinungsmacher“ in den Medien angeboten, geradezu aufgedrängt. Sie reduzieren die gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenhänge auf die Eigenschaften und Interessen von Personen, auf persönliche Beziehungen (die Figur des „Landesvaters“ - ebenso wie die „Verschwörungstheorien“). Sie sind also Produkte des Diskurses, der sie von außerhalb, aus dem “jenseits“ der Dyade in die (Narrationen der) konkrete(n) Lebenswelt eingeführt hat.

Der Diskurs bietet uns die Phantasmen an - als „Deutungen“, Interpretationen der Wirkungen der Macht. Er macht aus den Bildern, den Vorstellungen, die er den Narrationen der Lebenswelt entnommen hat, diskursive Elemente, er macht aus den Wirkungen der Macht eine Proposition, eine Behauptung, eine „Position im Satz“, auf die wir gemäß den Regeln der Diskursart „antworten“ können („Verkettung“). Er bietet sie unserer Stellungnahme an, gibt sie uns als die „Argumente“, denen wir unsere Zustimmung geben können (oder sie verweigern).
In der Möglichkeit der Zustimmung sind wir als Subjekte aufgerufen, nicht als Unterworfene, Beherrschte, nicht in Form von Befehl und Anordnung, sondern von Verführung und Anstachelung. “Die Macht unterdrückt nicht, sie stachelt an“ (Foucault 1982). Sogar während des NS gab es keinen Befehl für die Horrorversuche der Biologen (s. Deichmann 1995).
Aber dadurch, dass er in die Dyade von außen eingreift, ihre Erfahrungsbilder zu Argumenten für die Zustimmung zur Macht macht, fungiert der Diskurs (der Medien) als Diskurs der Macht (Bruder 2004) - nicht allein dadurch, dass die Medien in immer weniger Konzernen konzentriert sind und dass diese Konzerne selbst ökonomische Interessen haben, denen sie mit der Unterstützung anderer Unternehmen und der - kapitalistischen - Ökonomie dienen: Chomsky (2002), Bourdieu (1996).
Und zugleich versteckt dieser Diskurs der Medien die Macht hinter den Bildern der Dyade, macht diese Bilder zu Phantasmen der Macht: “Verstecken durch Zeigen“ (Bourdieu). Er entzieht die Macht unserer bewussten Wahrnehmung, macht sie unbewusst und verdoppelt so ihre Wirkungen.
Der Diskurs der Macht ist das Medium zwischen uns und der Macht: wir erfahren von der Macht nur - über ihre „blinden Wirkungen“ hinaus - was die Macht uns zu wissen gibt. Und zu wissen bekommen wir nur, was unserer Zustimmung dienlich, was sie befördern könnte: das Verschweigen der Macht - bis hin zur Lüge.
Die Lüge ist nichts anderes als Verstecken durch Zeigen: hinter der Lüge, dem geäußerten Satz steht immer ein zweiter, der nicht geäußert wird, der versteckt wird, durch den gesagten (Weinrich 1966). Hinter der Behauptung, durch den Krieg (gegen den Terrorismus) werde die Freiheit verteidigt, steht die nicht genannte Freiheit des Westens, der USA, der Ölkonzerne, die verteidigt werden soll. Hinter der Behauptung, durch Verlängerung der Arbeitszeit würden Arbeitsplätze erhalten, wird versteckt, dass das ganze Spiel selbstverständlich nur dann aufgeht, wenn gleichzeitig genügend Arbeitsplätze gestrichen werden. Diejenigen, die länger arbeiten „retten“ also ihre Arbeitsplätze um den Preis, dass sie einen Teil ihrer Kollegen in die Arbeitslosigkeit schicken (lassen).
Hannah Ahrendt hebt die realitätsverändernde Wirkung des behaupteten Satzes hervor: der Lügner will, dass sich die Sache so verhalte, wie er sie darstellt, dass die Welt sich nach seinen Behauptungen richtet. Insofern geht es ihm darum, mit der Behauptung der Unwahrheit die Realität zu verändern. In dieser Hinsicht sei der Lügner der Politiker par excellence.
Versteckt wird das - partikulare - Interesse der Mächtig(er)en, indem es als allgemeines dargestellt wird, das „Wachstum“ - „der Wirtschaft“ statt der Unternehmen, Konzerne erfordere „die Steuern“ zu senken, statt die Unternehmenssteuern, die Steuern auf Unternehmergewinne, es erfordere, die Lohnkosten und Sozialabgaben zu senken - für die Unternehmen, nicht für die Arbeitnehmer, “die Bürokratie“ abzubauen - nämlich diejenige, die der Freiheit der Unternehmen Schranken setzt, nicht die Bürokratie innerhalb der Unternehmen selbst, deren Kommandostruktur eher der militärischen Befehlsgewalt abgewonnen als der demokratischen Vorstellung von Mitbestimmung, die Freiheit der Unternehmen, sich keinen anderen „Gesetzen“ als denen des Marktes unterzuordnen (s. z.B.: Butterwegge 2005).
Verstecken durch Zeigen schließlich durch die Form, in der der Diskurs der Macht auftritt: als „vielstimmiger“, durch seine Vervielfältigung - die spezifisch „postmoderne“ Form des Versteckens durch Zeigen. Sie ist verbunden mit der medialen Vermittlung des Diskurs der Macht. Die Macht verschwindet hinter den Diskursen, die sie gleichwohl konzertant begleiten.

Diese „Vielfalt“ von Diskursen ist die des „Diskurses des Herrn“ (Lacan), sie organisieren alle die Zustimmung zur Macht. „Sie kommunizieren und zielen in jedem Augenblick auf den Punkt der größten Kraft hin, um die politisch-ökonomische Hegemonie und den Imperialismus zu sichern“ (Derrida 1993, S. 91). „Dank der Vermittlung der Medien“ werden „die Diskurse der politischen Klasse, der massenmedialen Kultur, und der akademischen Kultur“ „zu einem einzigen Diskurs verschmolzen“, der „überall die öffentliche Kundgebung, die Zeugenschaft im öffentlichen Raum“ „organisiert und beherrscht“(ebd., S. 90). Derrida charakterisierte ihn als einen „herrschsüchtigen Diskurs“, der „das „Überleben“ der „alten Modelle der kapitalistischen und liberalen Welt“ „feiert“(Derrida 1993, S. 89).

V.

Durch unsere Zustimmung zum Diskurs der Macht, durch die Übernahme seiner Parolen machen wir uns zu Subjekten, Herren (Adler), behaupten uns als Herren.

S1 → S2 a

Wir machen uns zu Subjekten vor dem Hintergrund der Ideologie des souveränen Subjekts, die damit affirmiert wird, verstärkt, den Phantasmen des dummen August. Die Phantasmen sind wirkungsvoll, sie sind das, womit die Macht uns folgen macht, folgen lässt. Um zu folgen, müssen wir uns als Subjekt angesprochen fühlen, müssen wir verleugnen, unterworfen zu sein, die Beschämung, einer Macht unterworfen zu sein, verleugnen, und dazu müssen wir die Zustimmung selbst verleugnen.
Es scheint so, als übernehmen wir - zumindest die Journalisten - die angebotenen „Argumente“ des Diskurs der Macht dankbar, denn sie ermöglichen uns, zustimmen zu können, ohne dass wir beschämt einräumen müssten, uns unterworfen zu haben.
Wenn durch Senkung der Lohnkosten Arbeitsplätze geschaffen werden, können wir selbst der Verlängerung der Arbeitszeit zustimmen; wenn der Krieg „für die Demokratie“, für die „Freiheit“ geführt wird, mit welchen Argumenten können wir dann unsere Zustimmung verweigern? Auch wenn wir anfangs darüber gelacht hatten, so ist uns das inzwischen vergangen, hat doch dieser Diskurs seine Wirkung so weit erzielt, dass wir bereit sind, der Verurteilung derer zuzustimmen, die sich gegen „unsere“ Bevormundung zur Wehr setzen. Der Chor der Empörung gegen die „Feinde der Freiheit“ ist einstimmig, wenn wir unsere Freiheit bedroht sehen, die Freiheit, überall auf der Welt einzugreifen, unsere Ordnung durchzusetzen, unsere Interessen. „Wir lassen uns nicht ...“, „wir beugen uns nicht der Gewalt“ - eigenartig: aus dem Mund des Herrn (bzw. seines Hofstaates). Die Verteidigung der Macht mit den Argumenten ihrer Kritik.
Die neueste Ausgabe der Studie „Deutsche Zustände“, die unter der Federführung von Wilhelm Heitmeyer von der Universität Bielefeld seit 2001 die ausländerfeindlichen Einstellungen der Deutschen erfasst, zeigt eine Zunahme der Ablehnung gegenüber den muslimischen Bevölkerungsteilen. Während im Jahr 2004 24% der Befragten Deutschen der Behauptung zustimmten “Die Zuwanderung sollte Muslimen generell untersagt werden“, ist deren Anteil im Jahr 2006 auf 28,5% angestiegen. Zum Vergleich: die Zustimmung zu der Behauptung “Juden haben zuviel Einfluss in Deutschland“ ist von 21,5% im Jahr 2002 auf 14,1% im Jahr 2006 gesunken.
Dieser „Bewusstseinswandel“ spiegelt die Berichterstattung in den Medien. Wie das „Zentrum für Türkeistudien“ feststellt, war zwischen 2000 und 2004 von Muslimen und dem Islam hauptsächlich dann die Rede, wenn es um Terroristen, Gewalt und andere negative Aspekte ging (s. Freitag vom 15.12.06, S. 4). Dieser Bewusstseinswandel ist nicht anders zu erklären, als jener unter der rot-grünen Regierung zu „mehr Markt“ vollzogene, und zwar, wie Klaus Dittko, Manager bei der PR-Agentur Scholz & Friends über diesen sagt: „letztlich nur durch medialen Druck“. Waren 1999 noch 60% der Deutschen der Meinung, „der Markt sei schuld an der hohen Arbeitslosigkeit“ und betrachteten nur 20% die Marktwirtschaft als eine Ordnung, die dem einzelnen besonders viel Freiheit biete, so waren 6 Jahre später, im Jahr 2005 bereits 43% für „mehr Markt“ - statt für „mehr Sozialstaat“. 11 Jahre davor, 1994 waren das 25 % [2] gewesen. Nur eine Minderheit vertritt: „mehr soziale Absicherung“. 1994 hatte fast die Hälfte der Befragten gemeint: „Aufgabe des Staates“ sei es „den Wohlstand zu sichern“. Inzwischen meinen dies nur noch 1/3, 2/3: denken, sie seien selbst dafür verantwortlich.[3]
Hinter dem „medialen Druck“ stehen allerdings andere Mächte, die von sich behaupten können: “wir haben das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Reformen gestärkt“ - so Tietmeyer, früher Bundesbankpräsident oder Gesamtmetall-Präsident Kannegiesser: „Wir haben den Konsens darüber hergestellt, was für Reformen sinnvoll sind und das Land stärken“: “Dass der Sozialstaat schrumpfen müsse, dass die Wirtschaft mehr Freiheiten brauche“ (Dieter Rath von der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ des Arbeit-Geberverbandes Gesamtmetall).
Die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, die als „nationales Kampagnen-Hauptquartier der Neokonservativen“ aus Wirtschaft und Politik bezeichnet wird („The International Economy“ (Winter 2005, S. 22), tritt als unabhängige Organisation von Bürgern auf, repräsentiert durch wissenschaftliche Experten, Paul Kirchhof wurde ja mittlerweile als Mitglied bekannt, neben ihm sind Meinhard Miegel, Hans-Werner Sinn, Bert Rürup noch bekannter. Auch eine Handvoll Journalisten befindet sich in ihren Reihen. Die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ hat “Botschafter“ in allen Parteien, die dem neoliberalen Druck bisher nachgegeben haben von Kurt Biedenkopf, Lothar Späth und Gloß in der CDU über Dohnanj in der SPD bis zu Oswald Metzger von den Grünen. Sie treten in den Medien als unabhängige Experten auf oder führen als politische Konkurrenten in Talk-Runden (wie bei Christiansen) Scheingefechte (Gammelin & Hamann 2005, S. 154).

Die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ ist nur eines von mehreren „Netzwerken“ der großen Unternehmen, die geheimbündlerisch im Hintergrund agieren, die offensiv die „neo“liberalen „Visionen“ in die Medien pushen: Senkung der Steuern auf die Gewinne der großen Unternehmen, Senkung und Deregulierung der Löhne, Privatisierung des sozialen Sektors. Wenn die Medien ihnen folgen, indem sie ihre Interpretationen und Kampagnen übernehmen, wenn sie ihre Interessen, Interpretationen bei den Darstellungen in den Medien durchsetzen, ihre Sicht, ihre Interpretation, ihre Vorschläge als Information verbreiten, so sind wieder sie die Macht, der wir konfrontiert sind, die sich aber unsichtbar macht, indem sie sich versteckt hinter der Unabhängigkeit der Medien, bzw. die Medien, die die Macht verstecken, hinter der Unabhängigkeit ihrer Berichterstattung.
Durch unsere Zustimmung zu den Parolen des Diskurses der Macht machen wir uns zu Subjekten - Subjekten des Diskurses. Indem wir in den Diskurs eintreten, nehmen wir die Position des Subjektes ein, die im Diskurs vorgesehen. Unser Beitrag zum Diskurs: der Beitrag von „“ ist Antwort auf (A) , entsprechend den Regeln des Diskurses (Lyotard). Subjekt also iS des Unterworfenen.
Unser Sprechen und Argumentieren, unsere Vorstellungen und Meinungen, die der Erfahrungswelt unseres konkreten Lebenszusammenhangs angehören, werden ins Register des Imaginären, Phantasmatischen gedrängt, indem der Diskurs (der Macht), der „überindividuelle“ Diskurs des symbolischen Registers, sie sich aneignet, durchdringt und sie zu „Argumenten“ der Unbewusstmachung der Macht macht.

Dem Subjekt enteignet treten seine Narrationen ihm als fremde Macht entgegen: als Teil, Momente des Diskurses der Macht, als Botschaft von Werbespots oder der „Inszenierung politischer Ereignisse“ (Meyer & Kampmann 1998). Immer sind sie ein Rückgriff auf die Ebene der Erfahrung, der Beziehungen, des Imaginären, wenn zB politische Ereignisse und Konflikte in den Medien als Konflikte zwischen Personen dargestellt werden oder politische Personen als Verkörperungen von Eigenschaften, Kräften, Tendenzen, Tugenden, Programmen oder Mächten; oder als Verkörperungen archetypische Figuren: der Vater, die Mutter, der Freund, der Feind, der Gute, der Böse, der Verräter, der Unschuldige, der Weise, der Streber, der Intrigant, der Mächtige oder der Ohnmächtige usw. (Meyer & Kampmann 1998).
Die Lebenswelt wird abgelöst von der Medienwelt (Hanzig-Bätzing & Bätzing 2005, 143), die bis in die letzten Winkel des Alltäglichen vordringt, immer mehr mit der Wirklichkeit verschwimmt. Sie ersetzt die konkrete Erfahrbarkeit, sie stellt die Beziehungen der Menschen untereinander und zu den Dingen in der Welt her. Unser Verhältnis zu Anderen begründet sich immer weniger aus sozialen Erfahrungen, sondern den medial vermittelten. Denn: nicht mehr der Ort zwischenmenschlichen Begegnens ist das Beziehung stiftende, sondern die Medien. Und sie durchdringen das Selbstverständnis des Einzelnen.
Diese Entfremdung des Subjekts (von sich, von seinen Beziehungen und Verhältnissen, von den Dingen seiner Welt, seinen eigenen Produkten) bestimmt die Subjektivierung im Diskurs der Macht: das sich selbst entfremdete Subjekt, seinem Begehren entfremdet, unbewusst. An dessen Stelle treten: die - falschen - Bedürfnisse, jemandem zu gefallen, Anerkennung durch andere: der „außen-geleitete Charakter“, von den Ansprüchen der anderen geleitet, sie zu erfüllen, ihnen zu genügen, den Parolen der anderen zu folgen, der Werbung, des Diskurses der Macht.
Postmoderne Subjektivität sei „die Fähigkeit, überall zugleich zu sein und sein Selbst überall verfügbar zu machen“ (Hanzig-Bätzing & Bätzing 2005, 142ff): die von den Medien geforderte „Unabhängigkeit“, „Autonomie“, „Flexibilität“. Diese Verfügbarkeit werde als Freiheitsgewinn ausgegeben. Beispielhaft dafür sei das Selbstverständnis des „neuen Angestellten“, von dem die Anforderungen des Arbeitgebers nicht mehr als fremde Ansprüche wahrgenommen werden“, sondern als Herausforderungen des Arbeitslebens selbst, und damit als Möglichkeit der Selbstverwirklichung. „Die einst als Unterwerfung unter die Logik der Marktwirtschaft erfahrene Arbeit gerät zur zynischen Metamorphose der Selbstunterwerfung des Arbeitnehmers“. „Die Widersprüche zwischen Unternehmer und Arbeitnehmer“ „bekommen das Aussehen eines intrasubjektiven Konflikts“. Es “entsteht ein neues, in sich gespaltenes Subjekt, eine Arbeitnehmer-Unternehmer-Identität, die in nichts anderem besteht als in dem scheiternden Versuch, diese beiden antagonistischen Seiten seiner Innenwelt gegenseitig zu integrieren und zu versöhnen“: Das „gespaltene“ Subjekt . Es wird nicht mehr dafür bezahlt, dass es seine Arbeitsfähigkeit für eine bestimmte Zeit zur Verfügung stellt, vielmehr dafür, dass es - anstelle des Unternehmers - Verantwortung trägt - für das Arbeitsergebnis, dem es notwendigerweise seine gesamte Lebensplanung und schlussendlich sich selbst, seine Intelligenz und Kreativität, seine Person als Ganzes unterordnet“.
Die Konstruktion dieser „neuen“ Identitäten erfolgt durch das Individuum selbst. Es ist dem Individuum nicht bewusst, bzw. es wird verleugnet, dass sie Produkt des - vielstimmigen - Diskurses (der Medien) sind. Bewusst ist nur, was sich auf der Ebene des Imaginären abspielt, was das Subjekt über sein Tun und Wollen denkt, über die anderen, sein Bild von sich und den anderen.
Deshalb rekurriert der Diskurs der Macht auch auf diese Ebene, auf die Narrationen, der Dyade, deshalb wirkt er auch über diese Ebene, unbewusst. Durch ihn werden die Narrationen verbreitet, die die Individuen sich erzählen, Beziehungen stiften, durch sie werden die Beziehungen der Menschen organisiert.
Nicht bewusst ist die Besetzung dieser Ebene der konkreten Erfahrung, bzw. ihrer Narrationen durch den Diskurs der Macht, nicht bewusst ist, dass es die eigenen Produkte sind, die als fremde uns entgegentreten, als Teil des Diskurses der Macht, die Enteignung, die Entfremdung ist nicht bewusst.

Darauf baut die Vorstellung der Bewusstmachung als Perspektive der (Wieder)Aneignung der enteigneten, entfremdeten Produkte des Subjekts (durch das Subjekt selbst) als Möglichkeit der Aufhebung der Entfremdung und damit der Aufhebung der (entfremdenden, entfremdeten Macht): Das Projekt der Psychoanalyse - jedenfalls in der von Lacan vertretenen Form. Aber wir können darin auch das Projekt der Postmoderne einordnen.

VI.

Lyotards Satz: „Es gibt keinen Meta-Diskurs“ ist (auch) so zu verstehen: der Meta-Diskurs ist nicht diskurstheoretisch zu begründen - sondern nur macht-praktisch - als Diskurs der Macht. Seine Hegemonie gründet auf der Macht jenseits des Diskurses, die er seinerseits sichert.
„Es gibt keinen Meta-Diskurs“ wäre also zugleich auch als eine Verweigerung zu verstehen, irgendeinen Diskurs als Meta-Diskurs anzuerkennen, die Eröffnung der Perspektive, sich mit der Macht selbst auseinanderzusetzen, die er sichert.
Hier liegt aber zugleich auch die Schwierigkeit: in der Abstraktheit der Macht. Die Abstraktheit der Macht ist nicht die des Diskurses, sondern dessen Bedingung. Sie ist die Bedingung für die Möglichkeit der Erfindung weiterer Abstraktionen, wie der damit eröffneten Möglichkeit ihrer „Konkretisierung“ mittels der Phantasmen.
Die Abstraktheit der Macht gründet in der Abstraktheit der gesellschaftlichen Synthese. Diese wird vermittelt nicht durch die gesellschaftlichen Beziehungen der Subjekt unmittelbar, nicht durch die Beziehung von „Herr und Knecht“, sondern die - wertproduzierende (abstrakte) - Arbeit.
Dh zugleich: der gesellschaftliche Zusammenhalt wird nicht durch den Diskurs (selbst) hergestellt. Abstrakte Macht ist die Herrschaft des Wertgesetzes. Durch den Diskurs wird Macht / Herrschaft nicht begründet, sondern legitimiert. Nicht erst der Diskurs der Macht abstrahiert, sondern bereits das Wertgesetz selbst. Die Dominanz des Diskurses des Herrn ist in dessen Herrschaft begründet. Solange die Produktion von Wert (dh Mehrwert) die gesellschaftlich bestimmende bleibt, bleibt jeder Diskurs dem Diskurs des Herrn unterworfen, reproduziert diesen.

S1 → S2 a Herrensignifikant → Wissen Subjekt Genießen S2 → a S1 Befehl/Agent → Arbeit Wahrheit Produktion (Mehrwert)

Die Herrschaft des Wertgesetzes, die abstrakte Herrschaft ist, die Macht der Abstraktion - gegenüber dem konkreten Leben - Herrschaft des Werts über den Gebrauchswert, des stofflichen Reichtums gegenüber dem entfalteten Individuum, des Mehr“werts“ statt der Mehr“lust“ (Lacan).

Bereits durch die Herrschaft des Wertgesetzes wird die Dimension des Konkreten in seiner Form verändert. Nicht erst durch den Diskurs der Macht treten uns die alltäglichen Dinge und Beziehungen, unter denen sie hergestellt werden als fremde Macht entgegen, die uns fordert, antreibt, hetzt, statt dass wir sie genießen können („Mehrwert statt Mehrlust“). Die Entfremdung ist das Ergebnis bereits der abstrakten Herrschaft des Wertgesetzes. Die abstrakte Form(bestimmung) bestimmt das Subjekt, seine Subjektivierung (und die Abstraktionen - des Diskurses - der Psychologie).
Aber der Diskurs der Macht ist kein bloßes Begleitphänomen der abstrakten Macht. Der Diskurs zielt auf Zustimmung zur Macht, Zustimmung zum Diskurs der Macht. Er organisiert die Zustimmung (manufactoring consent: Chomsky).
Und Zustimmung zum Diskurs der Macht ist der Inhalt von “Subjektivierung“: sich zum Subjekt (seines Handelns) zu machen, indem man die Parolen des Diskurs der Macht als eigene ausgibt und vertritt.
Diese Form der Subjektivierung bedeutet die Unbewusstmachung der Macht, die das Individuum davon abhält, die Herrschaft des Wertgesetzes abzuschütteln.
Dazu formt auch er, der Diskurs, die Dimension des Konkreten ständig um, auf die er rekurriert, indem er sie “interpretiert“ - und aus ihr ein Argument für die Zustimmung zum Diskurs der Macht macht. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird nach dem Modell der personalen Beziehung vorgestellt, - wie wir das bereits bei den Phantasmen der Macht gesehen haben - so auch in der Ökonomie, die nach dem Modell der Ökonomie des Familienhaushalts gedacht wird: ökonomisches “Wachstum“ wird danach in Abhängigkeit von Kostenreduzierung der Arbeit gedacht, wo es sich längst aus diesem Zusammenhang gelöst hat.
Dass „uns“ „die Arbeit ausgeht“ - das Schreckgespenst unserer Tage - statt dass wir uns über die Möglichkeit, Perspektive Befreiung von Mühsal und Plage freuen können, die eine Freisetzung für individuell gewünschte Gestaltung unserer verfügbaren Zeit wäre.
Die Arbeit geht „uns“ aus, weil sie ökonomisch nicht mehr nötig ist, bzw. weil immer weniger Arbeit nötig ist, um die Produkte des Lebens aller zu produzieren. Sie ist in Wissenschaft und Technologie materialisiert (diese produziert immer mehr vom Wert).
Wir können uns jedoch diese Befreiung vom Zwang zur Arbeit nur als Geißel vorstellen, denn wir kennen sie nur in der Gestalt der Arbeitslosigkeit. Und Arbeitslosigkeit bedeutet zugleich, der Mittel beraubt zu sein, unser Leben so führen zu können, wie es möglich wäre, angesichts der gesteigerten Produktivität, nämlich in Sorglosigkeit und Wohlstand, Glück: “Zuckererbsen für jedermann“ wie Heinrich Heine gesungen hatte.
Dass dieser Traum vom Paradies auf Erden nicht in Erfüllung geht, dass im Gegenteil, wer leben will auch arbeiten muss - entfremdet arbeiten muss - und wer keine (entfremdete) Arbeit hat, auch nicht in Würde leben darf, das wird uns tagtäglich eingebleut, aus allen Kanälen dröhnt es uns entgegen: Der Trick des „there is no alternative“: die Aufmerksamkeit wird abgelenkt von dem, auf das wir uns einlassen, indem wir dem zustimmen, das unserem Blick gezeigt wird. Aus dem Blick gerät, dem Bewusstsein entzogen wird dadurch, dass der konkrete Lebensalltag selbst durch das bestimmt wird, was wir nicht sehen, zu sehen bekommen, was unserem Blick entzogen wird durch die Macht bestimmt, inhaltlich geformt ist und dass der Möglichkeit seiner Veränderung wiederum durch die Macht sehr enge Grenzen gesetzt sind.
Die Abnahme der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit ist eine Wirkung des Wertgesetzes, nämlich der gesteigerten Produktivität, nicht aber deren ungleiche Verteilung, so dass die einen überhaupt keine Arbeit mehr haben, und damit der Möglichkeit beraubt sind, ihr Leben auf dem Niveau der anderen zu führen, während die anderen weiterhin unverändert lange arbeiten müssen (oder sogar länger), so dass auch sie die Produkte ihrer Arbeit nicht genießen können.
Die(se) ungleiche Verteilung nicht die Wirkung des Wertgesetzes, sondern der Macht(haber). Statt die - aufgrund der gestiegenen Produktivität gegebene Möglichkeit der Reduzierung der Arbeitszeit aller auf das gesellschaftlich notwendige Maß gleichmäßig zu verteilen, nützen sie diese Abnahme notwendiger Arbeit zur Produktion von Arbeitslosigkeit und damit von Armut, Not für die von Arbeitslosigkeit betroffenen, missbrauchen sie die Möglichkeit der Befreiung von mühseliger, anstrengender, eintöniger, monotoner Arbeit zur Knechtung und Entwürdigung.

Dass die Macht es ist, die die mögliche Aufhebung der Entfremdung sabotiert, deren Realisierung mit der Abnahme notwendiger Arbeit zum Greifen nahe liegt, dieser Umstand wird durch den Diskurs der Macht dem Bewusstsein entzogen. Die Pervertierung dieser Möglichkeit der Befreiung von sinnloser Arbeit zur Produktion von Arbeitslosigkeit, und damit von Armut und Entwürdigung, sie wird als von Menschen unabhängiges Entwicklungsgesetz behauptet oder als von den von Arbeitslosigkeit betroffenen selbst verursacht, Ergebnis ihrer mangelnden Anstrengung, fehlenden Leistungswillens, ihres Versagens. Das „Streben nach sozialem Aufstieg lasse nach“, so SPD-Chef Beck (taz 9.10.06, S. 8). Dies sei die Ursache des sogen. „neuen Unterschichten-Problems“. So als ob ungleiche Verteilung von Arbeit und Lebenschancen, von Mühsal und Armut, Elend, Hunger und Krankheit - in einer Gesellschaft, in der gleichzeitig der Reichtum ins Unermessliche wächst - auf der Ebene der konkreten Lebensbedingungen des einzelnen verursacht sei, und deshalb auch auf dieser Ebene durch den Einzelnen zu lösen.

VII.

Die Abnahme der gesellschaftlich notwendigen Arbeit (in ihrer Form der abstrakten, wertschöpfenden Arbeit) entzieht dem Wertgesetz die Basis seiner Notwendigkeit. Damit taucht die Perspektive der Abschaffung der auf ihr basierenden abstrakten Herrschaft auf (Gorz 1997).
Gegen diese Perspektive richten sich alle Anstrengungen, an dieser Form von Arbeit festzuhalten. Die Produktion von Arbeitslosigkeit ist eine Möglichkeit. Es ist unübersehbar, dass diese Aufrechterhaltung der (abstrakten wertschöpfenden) Arbeit eine Anstrengung der Macht ist, dass die Behauptung ihrer Notwendigkeit eine bloße Behauptung (der Macht) ist, ein „Argument“ im Diskurs der Macht.
Die andere Möglichkeit, die (abstrakte, wertschöpfende) Arbeit aufrechtzuerhalten, ist, diese in andere Bereiche zu tragen (Gorz, S. 191), die bisher frei von der Herrschaft des Wertgesetzes waren, die bisher „außerhalb“ der wertschöpfenden Arbeit angesiedelt waren, in die „Freizeit“, Pflege, medizinische Versorgung, Hausarbeit, Urlaub, Kultur, Bildung, Universitäten usw. Die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, ihre Unterwerfung unter, wie es euphemistisch heißt, „Effizienzkriterien“ (zB „Qualitätsmanagement“, „Qualitätssicherung“: s. Bruder 2006 a).
Auch diese Möglichkeit ist dem Bewegungsgesetz des Kapitals inhärent, konstitutiv: die Entstehungsgeschichte des Kapitalismus ist eine der Expropriation, der - ursprünglichen - Enteignung - früher von den Produktionsmitteln, heute von den Kompetenzen und Zuständigkeiten, die noch nicht - wertschöpfende - Arbeit sind, um sie zu solcher „Arbeit“ zu machen. Aber auch hier ist der Diskurs der Macht notwendig: um diese Ausbreitung zu propagieren, dh die ihrer Selbstbestimmtheit Enteigneten und ihrer Kompetenz als fremder Macht Konfrontierten als Subjekte ihres Handelns anzusprechen.
Eine zentrale Rolle in dem Prozess, Arbeit in Nicht-Arbeits-Bereiche zu tragen, spielt heute dabei der Computer, die Computerisierung - ganz praktisch und damit zugleich als Propagierung dieser Ausbreitung. Er ermöglicht, dass wir jene Arbeiten übernehmen - unbezahlt und unter Verschwendung unserer Lebenszeit - die bisher von den Firmen und Behörden selbst geleistet worden war: Flugpläne und Tickets selber ausdrucken, Formulare und Unterlagen jeder Art besorgen, bis zur Lieferung druckfertiger Manuskripte an die Verlage.

Vielen macht diese Arbeit auch noch Spaß - sie vermittelt ein Gefühl der Kompetenz, Beherrschung der Maschine: “Sklaven, die sich für Herren halten“. Der Spaß, einen Apparat bedienen zu können, macht abstrakt werdende Herrschaft erträglicher als die konkrete, persönliche. Weizenbaum (Freitag 29.9.06, S. 3) trifft dennoch den Punkt nicht, wenn er den Vertretern der Künstlichen Intelligenz entgegenhält, was diese für die Stärke des Computers halten, sei seine Schwäche, nämlich seine „Eindeutigkeit“, denn diese verleugne die „Mehrdeutigkeit der Welt“. Das gilt nur solange, solange das Wertgesetz nicht diese Eindeutigkeit selbst hergestellt haben wird. Mit der Computerisierung wird diese „spielerisch“ hergestellt: Die Vermischung von wertschaffender Arbeit als indirekter (abstrakter) Macht mit direkter Herrschaft durch Ausübung von Kontrolle.

VIII.

Wenn die Macht abstrakt wird, bedeutet das nicht dass sie verschwunden ist, sich aufgelöst hat. Sie wird nicht mehr (konkret) fassbar, verortbar, dh sie „ist überall“, ihre Wirkungen bleiben, “an ihren Wirkungen“ ist sie nach wie vor erfahrbar: in den Handlungen jedweder Person, Institution, Praxis, jedem Sprechen: im Busfahrer ebenso wie im Fahrgast, im Lehrer wie im Schüler, im Kind wie in der Mutter: im anderen - der Dyade: Die Situation der Postmoderne, „condition postmoderne“.
Wir sind auf die Dyade verwiesen, dort unsere Unzufriedenheit, unsere Wut und Aggression auszuagieren, unsere Kämpfe gegen die Macht - des anderen - zu führen, in den Beziehungen, die wir dadurch zerstören, dass wir sie als Ursache unserer Leiden, unserer Unzufriedenheit betrachten.

Der Diskurs der Postmoderne spiegelt diese Situation, wenn er die Hegemonie der „Großen Erzählungen“ (des Diskurses der Macht ) in „vergisst“, wenn er allein die „kleinen Erzählungen“ (der Dyade) gelten lässt. Als ob diese unabhängig, unberührt vom Diskurs der Macht wären, als ob es nicht der Diskurs der Macht wäre, der uns zugleich auf die Dyade verweist, dort die „Feinde“ definiert, die Sündenböcke: die „Sozialschmarotzer“, die Kinderlosen, die Alten, die Ausländer, die Moslems, die Hundebesitzer, die Raucher.
Diese Abstraktion von der Macht im Diskurs der Postmoderne macht ihn aber noch nicht zum Diskurs der Macht: Er propagiert nicht die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Macht - wie die (Neo)Konservativen, er negiert die Macht. Er propagiert nicht die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Basis der abstrakten Macht, das Wertgesetz - wie die (Neo)Liberalen, er negiert dieses.
Wenn er darauf besteht, dass nicht alles, was wir für naturgegeben halten, zu halten uns nahegelegt, aufgedrängt, zugemutet wird, dies auch ist, wirklich notwendig ist, sondern von Menschen gemacht (konstruiert) ist und durch uns fixiert, eröffnet er die Perspektive für die Möglichkeit der condition humaine / postmoderne zur Freisetzung von unnötigen, überholten, entwürdigenden Beschränkungen, zur Veränderung unserer unbefriedigenden Lebensbedingungen, zur Selbsterschaffung, Selbstschöpfung, „Ästhetik des Existenz“.
Dies ist keine Affirmation des Bestehenden der Macht, sondern deren Kritik, Protest gegen die Verweigerung, Enteignung dieser Möglichkeiten durch die Macht (Kritik der Entfremdung). Es ist keine Affirmation des Diskurses der Macht, sondern Kritik der Legitimation der Macht (und der durch sie hergestellten und aufrechterhaltenen Bedingungen) durch die Großen Erzählungen des Diskurses der Macht, die diese Bedingungen fixieren, indem sie sie legitimieren.
In der Zurückweisung jeder Form unbegründeter Macht, dh in nichts anderem als in der Macht selbst begründeter Herrschaft, liegt die Delegitimierung der Metatheorie, der postmoderne Diskurs verweist sie auf den Rang einer Erzählung unter anderen.
Trotzdem liegt darin die Gefahr, in die Affirmation des Bestehenden abzugleiten, als ob der Pluralismus der Erzählungen, ihre Gleichberechtigung bereits verwirklicht wäre, in der Abstraktion von der Macht, die die Hegemonie der einen (Meta) Erzählung durchsetzt. Diese Abstraktion lässt das Spiel mit den Diskursen als ein harmloses erscheinen, angesichts der tatsächlichen Macht(ausübung), der Ungleichheit, angesichts von Hunger, Elend, Zerstörung und Krieg.
Dies ist der „Positivismus“ der Postmoderne. Als ob es kein „Jenseits“ des Konkreten gäbe, jenseits des konkret fassbaren der Dyade, verweist uns diese Abstraktion von der Macht auf die Dyade zurück, auf die Gattungsmöglichkeiten der condition humaine. Er macht uns ohnmächtig gegenüber der behaupteten Faktizität und Unveränderlichkeit des Bestehenden (Unrechts, Gewalt, Elend, Hunger), wie er selber machtlos ist gegen seine Instrumentalisierung durch den Diskurs der Macht, zur Werbung für die Macht mit den Argumenten der Kritik der Macht, Zur Werbung für den Kapitalismus mit den Versprechungen von Autonomie, Selbstbestimmung, Kreativität und Emanzipation (Boltanski & Chiapello). Statt wie früher (bieder-modern) dem Arbeitslosen entgegen zu halten, er sei an seiner Arbeitslosigkeit selber schuld, kann man „postmodern“ heute sagen: “genieße Deine Freiheit“, „nütze die Chance zur Flexibilität“ (s. Bruder-Bezzel 2005).
Dies ist nicht der Zynismus des Diskurses der Postmoderne, sondern der des Diskurses der Macht. Der Diskurs bestimmt die Bedeutung des Arguments, nicht umgekehrt. Und die Wirkungsmacht des Diskurses wird bestimmt durch die Macht, die er verteidigt, sie ist die Wirkung der Macht, die ihn trägt. Aufgrund der Konstitution der Bedeutung durch den Diskurs, kann dieser jedes Argument aufgreifen, es wird immer die Bedeutung annehmen, die im Diskurs vorgesehen ist, die dieser ihm geben wird.
Dass der Diskurs der Macht Ideen des Diskurses der Postmoderne aufgreift, dies könnte zwar als Ausdruck der Verbreitung der Ideen der Postmoderne gesehen werden, dass der Diskurs der Macht sie aufnehmen müsse. Aber er greift vorzugsweise solche Vorstellungen auf, die uns wertvoll sind, denen wir zustimmen können, unsere Zustimmung nicht verweigern können - aber unsere Zustimmung, die den Argumenten gelten soll, stärkt den Diskurs der Macht.
Er ist der Herrendiskurs. Und der Herr des Diskurses ist dieser nicht zuletzt deshalb, weil wir ihm zutrauen, was er verspricht: nicht nur die „Schaffung von Arbeitsplätzen“ - durch Verlängerung der Arbeitszeit, sondern auch „Selbstbestimmung, Freiheit, Autonomie“ - durch Produktion von Arbeitslosigkeit, wiederum, weil er ja im Besitz der Produktionsmittel ist.
Es ist unsere Zustimmung, die ihn in der Position des Herrn des Diskurses hält, so wie sie uns in der Position des Subjektivierten (Sklaven) hält.

S1

Zustimmung, Unbewusstmachung, Entfremdung weisen zugleich auf die Möglichkeit einer Subjektwerdung jenseits der Macht (der Herrschaft der abstrakten Macht des Wertgesetzes) hin, der Möglichkeit der Aufhebung der Entfremdung - aber nicht als Rückkehr zum Imaginären der Dyade, sondern in der Aufhebung der Herrschaft des Wertgesetzes. Nur dadurch ist die Restitution (Rückeroberung) der Dimension des Konkreten denkbar, dh als die gesellschaftliche Organisierung des Lebens - ohne die Vermittlung des Wertgesetzes.

Klaus-Jürgen Bruder

Die Freudsche Erzählung von Ödipus als Mythos der Macht

I.

Freuds Theorie der Macht, könnte man sagen, ist der Ödipus Mythos. Ödipus: das ist der, der den Vater getötet hat und die Mutter geschwängert - und damit: geheiratet. Nach Freud ist es die „Trieb“-Geschichte eines jeden von uns, jedes Jungen - nicht die Real-Geschichte. Freud behauptet, er habe sie in den (eigenen) Träumen entdeckt.

Die Geschichte des Ödipus ist bekannt. Nur: inwiefern ist diese eine Geschichte der Macht? Bei Freud wird sie dies explizit durch „Totem und Tabu“ (1913). Auch in dieser Geschichte geht es um Vater-Mord; ebenso wie der Mord am (Ur)Vater die Voraussetzung zum Besitz der Frauen ist - denn dieser Vater besitzt sie ursprünglich.

Freud stellt den Zusammenhang zwischen Ödipus und der Geschichte von Totem und Tabu ausdrücklich her. In einer nachträglich in die „Traumdeutung“ (1900) eingefügten Fußnote schreibt er: „Der hier zuerst in der „Traumdeutung“ berührte „Ödipus-Komplex“ hat durch weitere Studien eine ungeahnt große Bedeutung für das Verständnis der Menschheitsgeschichte [...] gewonnen“ (S. 270). Und Freud verweist dort auf „Totem und Tabu“.

In „Totem und Tabu“ „ist mir die Vermutung nahegekommen, dass vielleicht die Menschheit als Ganzes ihr Schuldbewusstsein, die letzte Quelle von Religion und Sittlichkeit, zu Beginn ihrer Geschichte am Ödipus-Komplex erworben hat“ (1916/17, S. 344). In „Totem und Tabu“ spricht er von seiner „großen Überraschung, dass auch diese Probleme des Völkerseelenlebens eine Auflösung von einem einzigen konkreten Punkte her, wie es das Verhältnis zum Vater ist, gestatten sollten“ (1913, S. 188).

Am Anfang der Menschheitsgeschichte steht für Freud das Verbrechen - des Ödipus: die „Auflehnung“ gegen die Macht: “die Überhebung und Auflehnung gegen eine große Autorität“ (1913, S. 188). Die Macht wird von Freud zwar durchaus als tyrannisch charakterisiert, gleichwohl bleibt für ihn der Tyrannen-Mord ein Verbrechen: „Vater“Mord!! - wie bei Ödipus.

Im Unterschied zu Ödipus, der nicht wusste, und nicht wollte, was er tat (= das „Unbewusste“) ist dies den Brüdern der „Urhorde“ in „Totem und Tabu“ durchaus bewusst, und von ihnen durchaus gewollt. Nicht bewusst war ihnen, nicht vorausgesehen hatten sie, was sie vielmehr erst nach dem Mord entdeckt haben werden, dass sie den Vater wieder einsetzen - müssen, sagt Freud, - als Idol - die „Idealisierung“ („Liebe“), dass sie sein „Gesetz“ wieder aufrichten: das Verbot des Besitzes der Frauen (das „Inzesttabu“), um die Rivalität der Brüderhorde in Fesseln zu legen und damit Mord und Totschlag.

Sie erkennen, anerkennen (im Nachhinein) die Notwendigkeit der Macht, des Gesetzes (des Vaters). Das Gesetz nun nicht als aufgezwungenes, sondern „freiwillig“ übernommenes, aufgrund von Einsicht in seine Notwendigkeit. Zugleich aber: „verinnerlichen“ sie den Vater: in Gestalt der Einverleibung des Totem, als Idol, haben sie ihre „Liebe zum Vater“ entdeckt. Der verinnerlichte Vater reguliert nun das Verhalten der Brüderhorde.

Natürlich stimmt diese Geschichte mit ihrer Mischung aus Rationalismus und Magie nicht. Rationalismus: sie „erkennen“, dass Gesetz und Macht „notwendig“ sind (um sich gegenseitig zu schützen). Magie: der Totem, der Kult, das Unbewusste, die Verinnerlichung.

Widersprechen sich diese beiden Begründungen nicht?

Es ist aber das, was wir heute haben: der „Widerspruch“ im Diskurs der Macht, über die Macht selbst. „Rationalismus“ der „Notwendigkeit“, „Einsicht“, der „Aufklärung“ - und „Liebe“ zum Idol, das archaische Bild.

Die Verinnerlichung (der Macht) ist gleichwohl (heute) notwendig: Verinnerlichung der „Notwendigkeit“ der Macht - da hat Freud durchaus recht. Nur beantwortet er die Frage nicht, warum, bzw. er gibt eine tendenziöse Antwort.

Wenn die Anerkennung des Gesetzes aufgrund einsehbarer Gründe nicht ausreicht, dann muss etwas der Einsicht im Wege stehen, dann ist die Voraussetzung dieser Einsicht nicht gegeben: die Gleichheit der Interessen.

Das ist die Situation, wo die Zustimmung zum Gesetz nicht freiwillig gegeben wird, sondern erzwungen. Erzwungen durch eine Macht, die ihr Interesse gegen widerstreitende Interesse anderer, den „Willen“ durchsetzen kann (Max Webers Definition der Macht). Die Macht ist nicht auf Einsicht angewiesen. Dadurch ist sie ja gerade definiert. Mehr brauchen wir nicht zur Erklärung ihrer Wirkung.

Wozu brauchen wir dann aber die Magie, das „Irrationale“, die Liebe zur Macht? Ganz einfach: um die Wirkung der Macht anders erklären zu können als mit der Macht selbst. Wir greifen zu einer solchen Erklärung, um die Macht selbst verleugnen zu können.

Hier erklärt sich die Notwendigkeit der „Magie“. Sie versteckt die Macht, die Bedingung ihrer Wirkung - die Ungleichheit (der Macht). Der Widerspruch zwischen dem behaupteten Rationalismus der Freiwilligkeit und Magie löst sich auf.

Damit löst sich (allerdings) auch die Vorstellung von einer (homogenen) Gruppe gleichberechtigter, gleichmächtiger „Brüder“ auf, die das Gesetz (des Vaters) aus Einsicht in die Notwendigkeit und aus freiem Willen wieder aufgerichtet hätten. Diese Vorstellung ist Fiktion: die Fiktion der Gleichheit der Interessen. Um diese Fiktion aufrechtzuerhalten hatte es der „Magie“ bedurft.

Der Widerspruch zwischen Einsicht und Magie hatte also einen anderen „Widerspruch“ (Gegensatz) verdeckt: den zwischen Mächtigen und weniger Mächtigen, zwischen Herrschenden und Beherrschten, macht(e) ihn „unbewusst“. Für die Mächtigen ist es rational, sich gegenseitig durch Vertrag zu binden, für die Beherrschten ist es nicht rational. Sie müssen gezwungen werden, ihre (vermeintliche) Freiwilligkeit ist tatsächlich „irrational“, wie die „Liebe“ zum Idol, zum toten Vater, zum toten Tyrannen. Für sie wird der Zugang zum Genießen, der Zugang zu den „Frauen“ durch Vertrag nicht geregelt, sondern versperrt. Sie mussten „irrational“ gebunden werden: die „libidinöse Bindung an den Führer“ - durch die Totem-Feier.

Jorge Semprún erzählt in seinem Roman „Zwanzig Jahre und ein Tag“ eine wirkliche Geschichte über eine solche Totem-Feier im Spanien aus der Zeit nach dem Bürgerkrieg: „Am 18. Juli 1936 hatten die Bauern auf einem Landgut in der Provinz Toledo, als sie von der Erhebung der Militärs erfuhren, den jüngsten Sohn der Besitzer umgebracht. [...] Nach dem Ende des Bürgerkriegs veranstaltete die Familie des Verstorbenen jedes Jahr am 18. Juli eine Gedenkfeier, in der die Bauern des Gutes gezwungen wurden, den Mord rituell zu wiederholen. In einer Art Mysterienspiel, mussten sie abermals eintauchen in die Erinnerung an jenen Tod. Sie sahen sich gezwungen, ein weiteres Mal Buße für ihn zu tun, [...] hineingezogen in diese von der Familie inszenierte kollektive Erinnerung, schuldig gesprochen durch sie“.

„In der Verewigung dieser Erinnerung mussten die Bauern nicht nur ihren Status als Mörder verewigen, sondern auch ihren Status als Besiegte. Sie verewigten damit den unerträglichen Grund ihrer Niederlage, indem sie der Ungerechtigkeit jenes Todes gedenken mussten, der ihre Niederlage, ihre Reduzierung auf den Status von Besiegten in heimtückischer Weise rechtfertigte. Kurz, diese Bußzeremonie - der Vertreter von Kirche und weltlicher Obrigkeit beizuwohnen pflegten - trug dazu bei, die soziale Ordnung zu heiligen“.

Die libidinöse Bindung an den Führer ist also nicht für die Geführten, sondern für die Führer selbst eine „Notwendigkeit“. Sie sind es, die sie brauchen, die sie herzustellen versuchen, notfalls erzwingen.

Was Freud also „vergisst“, verbirgt mit diesem Widerspruch zwischen „rationaler“ Einsicht in die Notwendigkeit der Wiedererrichtung der Macht des Gesetzes des Vaters und „irrationaler“ Bindung an den als Idol „verinnerlichten“ „Vater“: ist der gewalttätige Charakter des Gesetzes - nicht nur in der Vorzeit, sondern heute, der gewalttätige Hintergrund, den er in die Vorzeit verlegt. Er „vergisst“ dies, weil er die „Beherrschten“ vergisst.

Gewalt steht am Anfang von Gesetz und Kultur. Aber nicht erst durch den Sturz der Tyrannei; sondern bereits die Errichtung der Tyrannei selber war nichts anderes als das Ergebnis von Gewalt. Die Macht des (Ur)Vaters war bereits das Ergebnis einer Usurpation, nicht erst die der Brüder.

Weil Freud das vergisst, d.h. ausblendet, muss er andere Gründe für Mord (und Inzest) und damit für die Notwendigkeit der Macht finden - nicht der gemeinsamen Macht der Brüder, sondern der Macht, die sich über die einzelnen setzt. Er findet diese Gründe in den (aggressiven) „Trieben“, in der „Natur“ des Menschen. So wird er 1915 den Grund des Weltkrieges in „Triebregungen“ sehen, „die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig sind“ und aus denen „das tiefste Wesen im Menschen“ bestehe (Freud 1915, S. 331f.). Und noch im „Unbehagen in der Kultur“ von 1930 wird er daran festhalten, dass es „das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem“ sei, „dass der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, [...] sondern dass er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf“ (Freud 1930, S. 470). Für die „Zähmung der aggressiven Triebe“ - “eines der Hauptprobleme der Kultur“ sei daher „äußerer Zwang“ nötig, der dann in „inneren Zwang“ umzusetzen sei (Freud 1915, S. 333).

Das ist die berühmte Freudsche Verkehrung von individuellem und gesellschaftlichem, die Verlagerung der äußeren Ursachen ins Innere (des psychischen Apparats).

Sie entspricht der tatsächlichen Verschiebung: es ist tatsächlich die Verinnerlichung der Macht, die uns der Macht folgen lässt. Aber Freud verkehrt Ursache und Wirkung: die feindseligen (und inzestuösen) Triebe seien der Grund für die Notwendigkeit der Macht: um diese zu bändigen, zu kultivieren. Er schließt von der Macht auf ihre Notwendigkeit, vom Verbot auf das Begehren.

Aber: dass etwas verboten ist, heißt nicht dass es begehrt wurde (Deleuze & Guattari 1972, S. 90). Die Feindseligkeit, gegen die die Macht als notwendige eingeführt wird, ist durch die Macht hergestellt. Sie ist Antwort auf die Einschränkung, die Enteignung der Bedingungen und Mittel ihrer Befriedigung.

Freud schreibt diese fest, indem er die Gründe nicht in der Macht, sondern im einzelnen sucht.

II.

Vergleichen wir diese Theorie Freuds mit der Theorie Adlers: „Machtstreben aus Minderwertigkeit“. Machtstreben: ein Versuch, die Position der Minderwertigkeit, Ohnmacht zu überwinden, ihr zu entkommen. Diese Position der Minderwertigkeit, der Ohnmacht geht also dem Macht-Streben voraus. Man könnte sie der Situation von „Totem und Tabu“ vergleichen: die Brüder streben nach der Macht des Vaters, aus der Position der Machtlosigkeit, der Verweigerung der Mittel zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Ihre Macht, die sie nach dem Mord am Tyrannen/Urvater erobert hatten, kann man als das Ergebnis ihres Machtstrebens betrachten.

Allerdings ist dieses Streben nach Macht (bei Adler) gebunden an das Vorhandensein der Macht (in der Hand des Urvaters) und gebunden an die Situation ihres Unterworfenseins unter diese Macht, die die Unterworfenen zu überwinden suchten. Das „Machtstreben“ richtet sich gegen diese Situation: im Begriff des “männlichen Protests“ von Adler präzise festgehalten.

Macht-Streben ist (also) nicht primär, nicht „angelegt“ - im Individuum, sondern sekundär, hervorgerufen durch die außerhalb des Individuums vorhandene, präexistente Macht, gegen die es sich wendet.

Diese Macht nimmt auch Freud (in „Totem und Tabu“) als vorgegeben an. Er charakterisiert sie als tyrannisch, grausam und im Besitz aller Befriedigungsmittel. Der Aufstand der Brüder würde also von Freud im selben Licht betrachtet werden - als „männlicher Protest“, gerechtfertigt?

Nein, im Gegenteil, er wird von Freud als Verbrechen dargestellt“ - die Überhebung und Auflehnung gegen eine große Autorität“ (1913, S. 188) - bzw. der Aufstand führt dazu, zum Verbrechen des Vatermords, mit dem (durch den) der Aufstand der Brüder sich ins Unrecht setzt, von Freud ins Unrecht gesetzt wird.

Und das Verbrechen muss gesühnt werden, seine Wiederholung muss gebannt und der alte Zustand wieder hergestellt werden, zumindest in der (Ersatz)Form des Totem und der Wiedereinrichtung des Macht (des Gesetzes) des Vaters.

Im Gesetz (des Vaters) erscheint die Macht gerechtfertigt - nicht der Aufstand der Söhne. Dieser Aufstand ist in Freuds Perspektive vielmehr ein Verbrechen, das nicht gerechtfertigt ist, auch nicht durch die tyrannische Macht der Triebunterdrückung (durch den Vater). Im Gegenteil wird die Triebunterdrückung gerechtfertigt - nachträglich: denn die Triebe haben sich als mörderisch erwiesen.

Und: die Triebe zeigen sich - in der Rivalität der Brüder nach dem Tod des Vaters weiterhin so: sie sind a-sozial, egoistisch, sie müssen deshalb durch die Macht in Schranken gehalten werden.

Wenn sie hier nicht - wie bei Adler - aus dem Vorhandensein der Macht, der Unterdrückung und Enteignung erklärt werden, also aus den gesellschaftlichen Bedingungen (ihrer Behinderung), so müssen sie (bei Freud) im „Wesen“ des Menschen, in seiner „Natur“ gesucht werden, finden sie dort ihren „Ursprung“, (quasi)biologisch, anthropologisch.

Daher die biologische Durchdringung des Triebbegriffs bei Freud. Die Biologie gestattet, von den gesellschaftlichen Bedingungen abzusehen: von Unterdrückung, Ungleichheit, Minderwertigkeit. Diese verschwinden als Ursachen, bzw. auch sie werden als „angeboren“ dargestellt: die „angeborene Ungleichheit unter den Menschen“, die Freud im Brief an Einstein diesem erwidert (Freud 1932, S.24).

In diesem Brief benützt Freud dieses Argument, dass etwas „niemals beseitigt sein“ werde, weil „im tiefsten Wesen des Menschen“ begründet, nicht nur für die „menschliche Aggression“, sondern zugleich auch für die gesellschaftliche Ungleichheit. Auch diese sei „nicht zu beseitigen“, weil „angeboren“. Freud behauptet tatsächlich, es sei angeboren, „daß sie in Führer und Abhängige zerfallen“. “Die letzteren sind die übergroße Mehrheit, sie bedürfen einer Autorität, welche für sie Entscheidungen fällt, denen sie sich meist bedingungslos unterwerfen“. (Freud 1932, S.24).

Das Gesetz, das aufgrund der Triebe als notwendig erklärt wird, muss deshalb mit Gewalt durchgesetzt werden (nicht rationale Übereinkunft, der freiwillig zugestimmt würde, aus Einsicht in die Notwendigkeit).

Und deshalb kann die Feier der Erinnerung an die Einsetzung des Gesetzes auch nicht eine Feier des Sieges der Rationalität sein, sondern eine Erinnerung an das Verbrechen - des Vatermordes, der Auflehnung gegen die Macht, die sich nicht wiederholen darf: der Totem (als Ersatz des getöteten Vaters, der an seiner Stelle getötet wird - und einverleibt, “internalisiert“) als der „geliebte“, idealisierte Vater (nicht als der Tyrann, dieser wird durch die Internalisierung „vergessen“, verdrängt).

In Freuds Interpretation der griechischen Tragödie (in Totem und Tabu) wird die Umwandlung (Verwandlung) des gehassten Urvaters in den geliebten in der Totem-Feier so dargestellt, dass der Urvater, indem er die Schuld der Söhne, ihr Verbrechen auf sich nimmt, zu ihrem Erlöser wird: „Der Held der Tragödie [...] hatte die so genannte „tragische Schuld“ auf sich geladen [...]. Er muss leiden, weil er der Urvater, der Held jener großen urzeitlichen Tragödie ist... und die tragische Schuld ist jene, die er auf sich nehmen muss, um den Chor von seiner Schuld zu entlasten...Das auf ihn gewälzte Verbrechen, die Überhebung und Auflehnung gegen eine große Autorität, ist genau dasselbe, was in Wirklichkeit die Genossen des Chors, die Brüderschar, bedrückt. So wird der tragische Held - noch wider seinen Willen - zum Erlöser des Chors gemacht“ (1913, S. 188).

Diese Verwandlung des Tyrannen in den Erlöser wäre die Voraussetzung der Umkehrung der Feindseligkeit in ihr Gegenteil der „Liebe“: die Voraussetzung, dass die Macht auf Gewaltanwendung verzichten kann, dass ihr vielmehr in Liebe, Verehrung, Gehorsam gefolgt wird, durch die Liebenden selbst, „verinnerlicht“.

So kann man die Wirkung der Macht heute noch beschreiben: sie wirkt aus dem Inneren, in uns selbst stationiert, wenn gleich tyrannisch: als Instanz: das „Über-Ich“. Nur wenige halten die Herkunft dieser Instanz in Erinnerung, wie z.B. Brückner (1978, S. 132, 150) der vom „verinnerten Staat“ spricht. Der „Kulturfortschritt“ besteht in der Verinnerlichung der Macht, die die „äußere“ Macht zwar nicht unnötig macht, aber unsichtbar, vertreten durch eine „Repräsentanz“ im („Inneren“ des) Subjekt(s) selbst.

Der Aufstand der „Brüderhorde“ ist nicht nur Zwischenstadium auf dem Weg zur Verinnerlichung der Macht, sondern deren ständige Bedrohung: mit jedem Neugeborenen werden die - unzivilisierten - Triebe wieder geboren und mit ihnen die Gefahr des ödipalen Verbrechens. Es muss also von jedem Individuum der „Ödipus“ durchlaufen werden (der „notwendige Durchgang durch den Ödipus“), die Aufrichtung der Macht des Gesetzes des „Vaters“, die Verinnerlichung seiner Gebote im „Über-Ich“.

III.

Adlers Sichtweise führt zu ganz anderen Schlüssen: die Macht muss nicht verinnerlicht werden, sondern überwunden. Die Macht ist nicht notwendig, um die Triebe zu unterdrücken, denn: die „Triebe“ (Strebungen), aus deren - notwendiger - Unterdrückung die Notwendigkeit der Macht abgeleitet wird, sind nicht primär, sondern durch die Macht hervorgerufen. Sie sind nicht primär feindselig, anti-sozial, sondern sekundär, durch die Macht dazu gefordert, verführt. Sie sind nicht primär „ödipal“, sondern nehmen sekundär jene Züge an, „die auf die Mutter gerichteten Begehrensvorstellungen entsprechen“ (Adler 1910 c, S. 493). Sie sind für Adler Ausdrucksweisen im Rahmen des „männlichen Protests“: “Erniedrigung und Entwertung der Frau“, „Herrschsucht aus Angst vor Unterwerfung und als Sicherungstendenz“ (Adler 1911 d, S. 218).

Primär ist das Streben nach Befriedigung, nicht gegen den anderen, sondern mit ihm. Streben nach dem anderen, nach „Gemeinschaft“ mit anderen, gemeinsamem Leben und Verwirklichung im Austausch mit anderen.

Dieses Streben nach Gemeinschaft mit anderen wird durch die Macht behindert, sabotiert, seiner Grundlage entzogen, umgelenkt in die Rivalität gegen den ersehnten anderen. Dort, in der Rivalität mit dem (den) anderen wird die Minderwertigkeit erlebt, die „feinen Unterschiede“, die Klassendifferenzen des Geschmacks, der Bildung, der Kultiviertheit, hinter ihr, hinter dem anderen, hinter der Rivalität verschwindet die Macht, entzieht sich die Macht unserem Blick.

Die Rivalität wird also nicht wie bei Freud in der Brüderhorde entstehen, die durch die Macht verhindert werden müsste, in den Schranken des Gesetzes der Macht „befriedet“, sondern sie ist bereits Ergebnis der Macht, ihrer Präsenz, ihres Eingriffs, ihr Gift, die die Brüder gegeneinander ausspielt - um von sich (der Macht) abzulenken, um sich vor dem Aufstand gegen sie zu schützen: eine Taktik der Machterhaltung - durch Spaltung ihrer Gegner.

Dadurch ist das Machtstreben alltäglich - und gleichzeitig: ohne die Macht selbst anzutasten. Der Kampf um die Macht ist nicht gegen die Macht (des Urvaters) gerichtet. Die Machtkämpfe der „Brüder“ untereinander verhindern vielmehr, die Macht des Vaters zu erobern.

Die Macht wird nicht durch das Verbot (des Machtkampfes) geschützt, sondern durch das Machtstreben selbst (deshalb stachelt sie dieses auch an). Nicht die Verinnerlichung (der Gesetze) des Vaters lässt deren - nicht Gesetze, sondern - Parolen befolgen, sondern die Fiktion selbst Herr zu sein, Fiktion der “Teilhabe an der Macht“.

Dies wäre nach Adler die Verinnerlichung (der Macht), bzw. deren Ergebnis. Das Streben nach Macht: eine Folge der Ablenkung des Strebens nach Überwindung der Minderwertigkeit - durch die Macht (selbst) als Sackgasse, Ausweg gewiesen, mit dem sie selbst aus der Schusslinie gebracht werden sollte.

Diese Verinnerlichung gälte es, folgte man Adler, rückgängig zu machen, die Umkehrung des Strebens nach Gemeinschaft mit den anderen in das Streben nach Macht (über den anderen) wäre aufzuheben, die Idealisierung der Macht, die Unterwerfung unter sie, ihre Verehrung, ihre Nachahmung.

Man kann (könnte) auch das Streben nach (Gemeinschaft mit) den anderen als eine „Fiktion“ bezeichnen. Das allein machte sie nicht schlechter als die Fiktion des Kampfes der Brüderhorde aus Totem und Tabu. Der entscheidende Unterschied ist ihr Verhältnis zur Macht.

Es ist falsch, Freud und Adler, i.S. der Dichotomie von „Sexual“-„Trieb“ und „Macht“-“Trieb“ gegen einander zustellen. Das Macht-Streben ist bei Adler kein Trieb, weder biologisch, noch anthropologisch im „Wesen“ des Menschen begründet. Auch die Aggression ist bei Adler kein Trieb, vielmehr ist sie provoziert durch die negative Intervention eines anderen, durch die Behinderung der Befriedigung der Bedürfnisse (nach der Gemeinschaft mit dem anderen).

Das Macht-Streben ist gesellschaftlich determiniert, durch die Macht selbst hervorgerufen. Sie verwehrt den Zugang zu den „Mitteln der Befriedigung“, fordert den Widerstand gegen sie heraus, den „männlichen Protest“ (Adler). „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand“ (Foucault 1976, S. 116). Und die Macht lenkt diesen Widerstand zugleich ab in die Konkurrenz gegen den „Nebenmenschen“.

Die Differenz Freud/Adler liegt also auf dieser Dimension der Gesellschaftlichkeit, der gesellschaftlichen Bestimmtheit des Strebens, (des Begehrens).

Adler rückt nicht nur das Macht-Streben in den Blick, sondern die Macht selbst. Und d.h.: er macht die Blickwendung Freuds nicht mit, die Umkehrung der Ursache und Folge. Nicht: die gesellschaftliche Machtstruktur ist Ergebnis individuellen Machtstrebens, sondern umgekehrt: das individuelle Macht-Streben reproduziert die gesellschaftliche Macht-Struktur, deren Ergebnis es ist. Macht gibt es nicht, weil es Machtstreben gibt, sondern umgekehrt: die Macht ist das „Krebsgeschwür“ (Adler), sie „macht Feige aus uns allen“ - wie Adler Nietzsches Charakterisierung des „Gewissen“ übernimmt.

Ergebnis von individuellem Macht-Streben kann immer nur sein: einen Platz an der Macht, in der Macht-Struktur erobert zu haben - nicht diesen Platz selbst geschaffen haben. Machtstreben: ein Schnappen nach dem Speck, der uns vorgehalten wird - meist nicht einmal Teilhabe an der Macht, sondern „Umverteilung“ des Specks, ihn anderen wegzuschnappen. Deshalb richtet sich dieses Machtstreben vorzugsweise gegen den anderen (statt gegen die Macht): Neid, Konkurrenz, Entwertung.

Von „Machtstreben“ kann nicht deshalb gesprochen werden, weil das Individuum nach Macht strebt, sondern weil dieses Streben von der Macht angeleitet ist. Gleichwohl kann es von der Illusion begleitet sein (und ist dies auch meist), dass das, was man damit erreicht, „Macht“ ist - über den anderen, in den Augen des anderen: „als ob“. Insofern Streben nach einem Surrogat, einem Schein (von Macht), “imaginär“, eine Ablenkung von der „eigentlichen“ Macht (der realen Macht). Eine Kompensation (der Minderwertigkeit), auch im wörtlichen Sinne „bloßer“ Kompensation: nicht Aufhebung - der Minderwertigkeit, der Ungleichheit, der (Struktur der) Benachteiligung, der Herrschaft.

Dieser Charakter des „als ob“ kann durchaus die Qualität des Unbewussten haben, aber es ist nicht ein „als ob ich den Führer liebe“, sondern als „ob ich selbst der Führer wäre“, Herr meines eigenen Tuns - und nicht „Knecht fremder Machtgelüste“ sei (Adler 1919 a, S. 14).

Vielleicht haben Adler und Freud verschiedene (unbewusste) Verarbeitungsweisen der Macht im Kopf, unterschiedliche gesellschaftliche Schichten, ein jeweils anderes „Bewusstsein“. Es ist aber die Frage des Verhältnisses zur Macht, die Freuds und Adlers Position unterscheidet. In „Totem und Tabu“ ebenso wie in den Antikriegsschriften Freuds (1914a +b, 1915, 1932) wird die Macht gerechtfertigt, und zwar mit der „Notwendigkeit“ der Unterdrückung der „Triebe“, der Beherrschung der verbrecherischen Natur des „Menschen“: die „Kulturleistung“ der Macht. Im Ödipus-Mythos, der Darstellung der „Triebschicksale“, gerät die gesellschaftliche Macht überhaupt aus dem Blick.

IV.

Der Mythos von Ödipus bleibt auch in und nach „Totem und Tabu“ weiter der entscheidende Mythos der „Grundstruktur des Menschen“ für Freud: das Verbrechen der Brüderhorde wird als „ödipales“ bezeichnet, der Mythos des Ödipus erfährt keine machttheoretische „Umkodierung“, Umschreibung, sondern umgekehrt wird die Machttheorie in Begriffen der „ödipalen“ Struktur gefasst. Menschheitsgeschichte und Individualgeschichte werden im Triebschicksal des Ödipus ineinander verschlungen. Ödipus ist nun nicht mehr nur die Triebgeschichte eines jeden von uns, sondern zugleich der Kern der Menschheitsgeschichte. Umgekehrt: wir wiederholen in unserer (Trieb)Geschichte die Ursprungsgeschichte der Menschheit.

Daher kann man sagen, dass es die Verleugnung der Macht ist, die die entscheidende Haltung Freuds gegenüber der gesellschaftlichen Macht darstellt. Die Theorie der Urhorde erscheint eher wie eine Entgegnung gegenüber der Machttheorie Adlers. Sie ist in der Zeit der Kontroverse mit Adler und nach der Trennung von Adler 1912/1913 entwickelt worden. Das Bild könnte nicht treffender sein für den „Vatermord“, den ein Teil seiner Anhänger dadurch verübte, dass sie mit Adler die Mittwochsgesellschaft verlassen haben.

Dass der Ödipus-Mythos diesem Projekt der Verleugnung der Macht verpflichtet ist, wird nicht nur durch die ödipale Struktur der Machttheorie Freuds in „Totem und Tabu“ bestätigt, sondern durch die Freudsche Rezeption des Ödipus-Mythos selbst. Betrachtet man das Stück, das diese Figur, wenngleich nicht in die Literatur eingeführt hat, so doch in ihr immer wieder aufgegriffen worden ist, die Tragödie von Sophokles, so muss man sich die Augen reiben.

In dem Stück ist keine Rede vom uns (durch Freud) nahegelegten „ödipalen“ Begehren des Sohnes zur Mutter und nicht von der daraus folgenden feindseligen Rivalität gegen den Vater. Vielmehr ermordet Ödipus seinen Vater und heiratet seine Mutter ohne zu wissen, dass er das tut: er weiß nicht, dass der Mann, den er umbringt, sein Vater ist und dass die Frau, die er heiratet, seine Mutter.

Nun könnte man darin eine schöne Definition des Unbewussten sehen: wir handeln, ohne zu wissen was wir tun und weshalb, ohne Bewusstsein und Willen.

Dass Ödipus, durch das Orakel gewarnt, seine Eltern verlässt, um gerade nicht zu tun, was ihm prophezeit worden ist: auch hier handelt er ohne Wissen, wenngleich mit Willen: er weiß nicht, dass die, die ihn aufgezogen haben, nicht seine Eltern sind. Das Unbewusste zeigt sich eben - im Handeln - nicht im Bewusstsein. Ödipus tötet seinen Vater, heiratet seine Mutter: darin zeigt sich sein Wille, Wunsch als unbewusster.

Aber hier müssen wir genau bleiben, uns nicht mit voreiligem Verstehen zufrieden geben: Wenn wir darin eine zutreffende Definition des Unbewussten sehen wollen, dass sich der (unbewusste) Wunsch im Handeln zeigt, so zeigt sich in Ödipus' Handeln gerade nicht sein Wunsch, sondern ein anderer: der der Götter.

Die Götter: das sind in der griechischen Mythologie und bei Sophokles: die Personifikation einer Macht, jenseits des Willens und Bewusstseins der Menschen, die das Handeln der Menschen lenken, bestimmen, woanders hin führen, als diese wollen und denken. Wir müssen die „Götter“ übersetzen. Sie sind, wie Freud (1925, S. 86) zutreffend sagt, „die Materialisation“ von etwas anderem, das wir hier einsetzen müssen.

Und zwar: „die Materialisationen der inneren Notwendigkeit“: „dass der Held ohne sein Wissen und gegen seine Absicht sündigte, verstand sich [für Freud] als der richtige Ausdruck der unbewussten Natur seiner verbrecherischen Strebungen“ (Freud 1925, S. 86).

Aber: Hier liegt (bereits) Freuds Kurzschluss vom (verbrecherischen) Handeln auf verbrecherische Strebungen. Dieser Schluss ist begründet in der Verlagerung der „Notwendigkeit“ nach „innen“. Diese Verlagerung muss aber erst stattgefunden haben. Für Freud ist sie vorausgesetzt, nicht Ergebnis.

Die Götter werden nicht ersetzt durch das Unbewusste, sondern zum Verschwinden gebracht. Ihr Platz bleibt leer. Die Wirkung der Macht der Götter wird dem Unbewussten zugeschrieben. Damit wird die Macht (der Götter) unbewusst gemacht.

Diese Freudsche Unbewusstmachung hat ihre Entsprechung im Realen, in der realen Unbewusstmachung der Macht selbst, die Freud aber als solche nicht expliziert. Im Gegenteil, er tut so, als sei diese primär.

Das Unbewusste ist (zunächst) an einem anderen Ort anzusiedeln: unbewusst sind Ödipus die Bedingungen, unter denen sein Handeln zum verbrecherischen wird - unbewusst i.S. von unwissend, von Nicht-Wissen. Ödipus weiß nicht, was er tut - nicht weil er seine Strebungen nicht kennt, sondern die Personen, auf die sich seine Strebungen richten.

Dieses Wissen wird ihm von diesen Personen selbst vorenthalten. Dort, bei den Eltern hat also das Unbewusste seinen Ort. „Die Psychoanalyse vergisst seit Freud der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Verdrängung und das Unbewusste beim Anderen da sind, bevor sie es beim Kind sind: bei den Eltern“ (Laplanche 1991, S. 489). Sie, die Eltern übertragen das Unbewusste auf das Kind.

Es ist aber nicht, wie Laplanche annimmt, das Unbewusste der Eltern, sondern es wird erst zum Unbewussten, und zwar dem Unbewussten des Kindes durch diese Übertragung, durch dieses Vorenthalten von Wissen. Es handelt sich also um eine Transformation. (aktuelles Beispiel: das den Kindern der Nazi-Eltern von diesen vorenthaltene Wissen, das die Kinder als ihr Unbewusstes mit sich schleppen).

Die Eltern tun das, weil sie sich der Strafe entziehen wollen, der Konsequenzen ihrer Taten, weil sie den Willen der Götter außer Kraft setzen wollen, eine Macht verleugnen, der sie selber unterworfen sind.

Das ist nicht möglich, sagt Sophokles: wir setzen die Macht nicht außer Kraft, indem wir sie verleugnen. Das ist die Botschaft, die Sophokles als Vertreter des „demokratischen“ Athen an seine Bürger gibt, die sich im Rahmen der Dionysos - Festspiele ein mal im Jahr versammelt haben.

Der Fortschritt der Demokratie, für die Sophokles spricht, liegt nicht darin, die Macht (der Götter) abgeschafft zu haben, (hinter der sich die Macht der Herrschenden verbirgt), sondern es ist ein Fortschritt in der Praxis des Rechts, wie Foucault (1970) herausgearbeitet hat: dem Recht gegenüber ist auch der König unterworfen.

Foucault erinnert trocken daran, dass dies der Titel des Stückes von Sophokles ist: „Ödipus Rex“ (und nicht „Ödipus der Blutschänder“, oder „Ödipus der Vatermörder“). Als König wird er auch in seinem Verhalten und in seiner Aufgabe dargestellt: den Mörder des Vorgängers auf dem Thron zu finden (und natürlich ihn der gerechten Strafe zuzuführen). Foucault sieht darin den eigentlichen Inhalt des Stückes von Sophokles, eine „dramatisierte Geschichte des griechischen Rechts“ zu sein (S. 128). Es würden „eine Reihe von Verfahren“ zur Ermittlung des Straftäters vorgeführt: Das Orakel, die Weissagungen, die religiöse Anweisungen, ihre typischen Formen des Fragens und Antwortens - in den ersten Szenen (S. 132) - und die Formen des neuen Verfahrens zur Wahrheitsermittlung im griechischen Gerichtsverfahren des 5. Jahrhunderts, als Ödipus am Ende die Rolle des Richters übernimmt und die beiden Knechte befragt (S. 133).

Dass der König als Richter sich selbst verurteilen muss, zeigt die Beschränkung der Macht durch das Recht und zugleich deren Affirmation als gerechtfertigte Macht. Dies, denke ich, ist die wesentliche Botschaft des Ödipus, des Ödipus Rex von Sophokles. Der Mord und der Inzest sind dabei lediglich der Vorwand, diese Botschaft als Geschichte auf die Bühne zu bringen.

V.

Freuds Botschaft ist eine andere: die Macht wird affirmiert - nicht durch ihre Legitimation, sondern durch ihr Verschweigen. Mit der Geschichte von Ödipus, so wie Freud sie erzählt und in der Bedeutung, die er ihr gibt, wird die Macht, die unser Handeln bestimmt, die „Notwendigkeit“, das Nicht-Wissen, das „Unbewusste“ ins Innere des Individuums verschoben. Die „innere“ Notwendigkeit wird in der „Trieb“-Struktur des Individuums versteckt: das ödipale Begehren.

Das Schweigen über die Macht, die Verschiebung der Macht, die uns bestimmt, ins „Innere“ des Individuums, bedeutet nicht, dass die („äußere“) Macht verschwindet, sondern dass sie un(an)greifbar gemacht wird.

Mario Erdheim (1982, S. 433) bezeichnet dies als „Unbewusstmachung der Realität der Macht“. Die Macht wird in die Vorstellungswelt der Kindheit geholt, auf das Format eines Familiendramas zurechtgeschnitten: die „Phantasmen der guten Herrschaft“. Allerdings werden uns diese Bilder tagtäglich durch die Medien aufgedrängt - und gleichzeitig werden uns andere Bilder vorenthalten, die nicht „phantastisch“ wären, sondern „realistisch“. Indem uns die einen gezeigt werden, werden die anderen versteckt. Bourdieu (1996) nennt diese Strategie „Verstecken durch Zeigen“: die Strategie des Diskurses der Macht - neben der anderen Strategie der Zuschaustellung der Macht - in ihren Selbstinszenierungen, in der Ausübung von Gewalt - gegenüber den „Feinden“ der Macht (der Demokratie).

Die (Freudsche) Verschiebung der Macht ins Individuum macht die Psychoanalyse „anschlussfähig“ an den Diskurs der Macht. Diese Anschlussfähigkeit stellt sich aber nicht erst post festum ein, sondern das gesamte Freudsche Projekt seines Ödipus-Mythos selbst ist in den Diskurs seiner Zeit eingebettet, aus diesem entnommen. Ödipus war wenn auch nicht unbedingt der Mythos des 19. Jahrhunderts, so doch zentrale Figur in der Rezeption der klassischen Antike in Literatur, Theater, Kunst und Architektur.

Die zahlreichen Inszenierungen und Bearbeitungen des Ödipus-Stoffes, die es gab, hatten diesen bereits mit der gesamten antiken Kunst aus seinem historischen, gesellschaftlichen und politischen Kontext gelöst - wie auch Freud es tat. Wie Freud abstrahierten sie von den gesellschaftlichen und historischen Bedingungen, in denen, aus denen heraus und für die das Stück geschrieben worden war: von der gesellschaftlichen Situation und Position des Schreibers (Sophokles als Staatsmann und Kriegherr Athens), vom Zusammenhang, in dem das Stück aufgeführt und für den es geschrieben worden war, (den Dionysos Festspielen, in denen die Bürgerschaft des athenischen Staates sich in der Selbstdarstellung ihrer neuen Macht als Metropole der griechischen Welt selbst feierte). Ebenso abstrahierten sie von den formalen ästhetischen Neuerungen, die Sophokles in die traditionelle Struktur und Aufführungspraxis der Tragödie eingeführt hatte, um auf der formal-ästhetischen Ebene dem Neuen Ausdruck zu verleihen: die neue Legitimation der Macht, in Gestalt der Demokratie, die der „Willkür“ der alten Mächte Schranken gesetzt hatte - wobei der Demos dieser „Demokratie“ sich auf die Besitzbürger beschränkte, immer noch eine Minderheit von etwa 15% der Bevölkerung.

Ebenso löste Freud die „Griechenland“-Begeisterung seiner Zeit, die die Dramatiker und Schauspieldirektoren dazu brachte, dieses Stück immer wieder zu inszenieren und zu bearbeiten, aus ihrem aktuellen politischen Bedingungen: Dem Zeitalter der Restauration und des Rückzugs des Bürgertums aus der politischen Arena, die Angst der Bürger vor der Revolution, das sich im Glanz der Perikleischen Klassik (der Zeit Sophokles', als dem Zeitalter der „Demokratie“ spiegelte (und kostümierte), “das Land der Griechen mit der Seele suchend“, wie Winkelmann und Goethe vorgegeben hatten und wogegen Nietzsche (1872) mit sarkastischer Polemik und einer Kritik am falschen Bild der griechischen „Heiterkeit“ protestiert hatte.

Von all dem sieht Freud ab, sowohl vom zeitgeschichtlich aktuellen als auch historischen Kontext, wenn er scheinbar naiv allein aus der Handlung des Stückes die „Wirkung [des Stoffes] auf den Betrachter“ erklären will. So behauptet er in seinem Brief an seinen Freund Wilhelm Fließ vom 15.10.1897: „... die griechische Sage greift einen Zwang auf, den jeder anerkennt, weil er dessen Existenz in sich verspürt hat (Freud 1897, S. 293).

Freud habe diesen Zwang auch bei sich „entdeckt“: „Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit... Wenn das so ist, so versteht man die packende Macht des Königs Ödipus trotz aller Einwendungen, die der Verstand gegen die Fatumsvoraussetzung erhebt...“ (Freud 1887, S. 293).

Von dieser Wirkung behauptet Freud auszugehen. Sie ist ihm Erklärung dafür, dass dieses Thema (des Ödipus-Stückes) immer noch auf die Zuschauer anziehend wirke, unter Absehung von diesem zeitgeschichtlichen Kontext.

„Es muss eine Stimme in unserem Innern geben, welche die zwingende Gewalt des Schicksals im Ödipus anzuerkennen bereit ist... Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch das unsrige hätte werden können [...]. Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten Hass und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon“ (Freud 1900, S. 269).

„Jeder der Hörer war einmal im Keime und in der Phantasie ein solcher Ödipus“. (Freud 1887, S. 293). „König Ödipus [...] ist nur die Wunscherfüllung unserer Kindheit. [...]. Vor der Person, an welcher sich jener urzeitliche Kindheitswunsch erfüllt hat, schaudern wir zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, welche diese Wünsche in unserem Innern seither erlitten haben (Freud 1900, S. 269).

„Während der Dichter in jener Untersuchung die Schuld des Ödipus ans Licht bringt, nötigt er uns zur Erkenntnis unseres eigenen Innern, in dem jene Impulse, wenn auch unterdrückt, noch immer vorhanden sind. Wie Ödipus leben wir in Unwissenheit der die Moral beleidigenden Wünsche, welche die Natur uns aufgenötigt hat“ (Freud 1900, S. 269).

Freud behauptet, er habe diese Wünsche in seinen (und der Patienten) Träume „entdeckt“. Das mag sein, aber wie kommen diese Wünsche in die Träume?

Lange bevor Freud diese Entdeckung seinem Freund Fliess mitgeteilt hat, hat er selbst eine der berühmten Inszenierungen jener Zeit während seines Aufenthaltes in Paris (1885/86) gesehen (s. Jones 1953-57, Bd. I, S. 213). Freud war also, so ist anzunehmen, unter der „Wirkung“ dieser Dramen-Figur gestanden, als er seine „Entdeckung“ gemacht hat. Die Erklärung, er habe den Mythos des Ödipus in den Träumen entdeckt und die Geschichte von Sophokles habe diese Entdeckung nur bestätigt ist also umgekehrt zu lesen: Freud hatte die Träume unter dem Eindruck der Wirkung der Ödipus-Figur “gedeutet“, die zu seiner Zeit überall (im Theater) präsent gewesen war.

Diese über die Träume gelegte Deutung gibt Freud als die Erzählung der Träume aus. Die Träume erzählen ihm keine andere Geschichte als die, die er um sich herum auch außerhalb der Träume hört, im Theater, in der Literatur, oder in sonst einem Medium des Diskurses der Zeit, heute: im Kino, im Fernsehen.

Freud verlegt diesen Diskurs in die Träume. „Das Unbewusste [selbst] wird Theater, Inszenierung - und noch nicht einmal avantgardistisches Theater“, wie Deleuze & Guattari bemerken, „sondern klassisches, Theater der Repräsentation“ (- der Macht), „der Psychoanalytiker wird dessen Spielleiter“ (Deleuze & Guattari 1972, S. 69).

Die Träume werden „dramatisiert“: die „Verliebtheit“ in die Mutter wird zum Inzest-Wunsch, die „Eifersucht“ auf den Vater zum Todeswunsch (Mord-Wunsch).

Die Wünsche werden „ödipalisiert“ (Deleuze & Guattari), in den Rahmen des „ödipalen Dreiecks“ der Familie zurückgeholt - obwohl sie gar nicht dort entstanden sind und auch ihr Objekt und Bezugszentrum nicht in der Familie haben. Das ödipale Begehren ist keineswegs eine „Grundstruktur des menschlichen Daseins“, sondern Ergebnis der Ödipalisierung (Refamiliarisierung) des Begehrens (durch die Psychoanalyse). Dieses wird infantilisiert, von seinen gesellschaftlichen Objekten und Bezugszentrum abgeschnitten, sein emanzipatorischer Horizont verriegelt (Bloch), seines widerständigen Potentials beraubt und damit seiner schöpferischen, produktiven Kraft (Adler).

Dieses Einsperren in das ödipale Dreieck ist zugleich ein Verschweigen der Macht, gegen die das Begehren Widerstand leistet, aufbegehrt: Verschweigen durch Reden (über etwas anderes), eine Form des „Versteckens durch Zeigen“. Die Macht wird ins „Innere“ des Subjekts verschoben, ins Unbewusste als der eigentlichen Macht, dem unser Verhalten, Denken, Wahrnehmen, Fühlen gehorcht. Diese Unbewusstmachung der Macht verdunkelt den emanzipatorischen Horizont der Psychoanalyse, des „Sagen sie alles, was Ihnen durch den Kopf geht“.

Das ödipale Dreieck ist zwar nicht von der Psychoanalyse erfunden worden, sondern von ihr übernommen worden aus dem Diskurs der Zeit. Aber indem die Psychoanalyse diese Geschichte übernimmt, affirmiert sie das Schweigen (des Diskurses der Macht) über die Macht, die Unbewusstmachung der Macht, macht sie sich selbst zum Instrument dieser Macht (ihres Diskurses).

Das ödipale Dreieck ist selbst eine Machtbeziehung, die Gesellschaft, Familie, politische Macht usw. gegenüber dem Einzelnen herstellen (Foucault 1970, S. 129); eine Machtbeziehung, die nicht als solche erscheint, die vielmehr verschwindet hinter der - ödipalen - Struktur der Familie, in welcher das Begehren ödipalisiert wird.

Indem die Psychoanalyse die Geschichte des Ödipus dem Sprechen des Subjekts unterschiebt, zur Deutung seines Begehrens, als dessen - unbewusste - Geschichte benutzt, bindet sie dieses Sprechen an diesen - ödipalen - Diskurs (des Schweigens über die Macht), trägt sie die ödipale Struktur ins Begehren des Subjekts.

Dadurch wird die Psychoanalyse nicht nur kompatibel dem Diskurs der Macht, sondern - in ihrer Praxis - selbst ein Machtinstrument, eine „Deutungsmacht“ (Pohlen & Bautz-Holzherr 1991): Macht, die durch Deutung wirkt.

Die Psychoanalyse kann sich von dem Vorwurf, Macht-Instrument zu sein, nur befreien, wenn sie ihr Schweigen über die Macht, ihre Macht-Verleugnung aufgibt, wenn sie ihre eigene Macht-Ausübung („Ödipalisierung“) thematisiert, ihren Mythos von Ödipus dekonstruiert, wenn sie die Macht selbst thematisiert, die Macht, die unser Denken und Handeln, unser Wahrnehmen und Fühlen - auch gegen unseren Willen und hinter dem Rücken unseres Bewusstseins - bestimmt.

Klaus-Jürgen Bruder

Von der Notwendigkeit, das Gespräch mit den Gespenstern zu führen

Zu: Jacques Derrida: Marx' Gespenster: Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt/M.: Fischer 1995 (Original 1993). 283 Seiten.
(aus: Handlung, Kultur, Interpretation 10, 1997, 127-137)

Jeder von uns weiß, daß Marx es mit Gespenstern hatte, daß er sich über die Angst vor dem Gespenst lustig gemacht hat, die Angst der Kapitalisten vor dem Gespenst des Kommunismus. Wie konnte Derrida das "vergessen" haben, wie kann er uns zumuten, das zu glauben, wie er es in seinem neuesten Buch über Marx' Gespenster tut.
Aber andererseits: haben wie es denn nicht vergessen, haben wir diesen Umgang mit den Gespenstern denn so ernst genommen, wie Derrida es tut und wie er zeigt, daß wir es hätten tun sollen: wir haben die Gespensteraustreibung in der "Deutschen Ideologie" eher ungeduldig überschlagen und wir haben den Gespenstertanz der Ware im "Kapital" als bloßes Lächerlichmachen der bürgerlichen Ökonomen eher mißverstanden. Nie ist uns auch nur der Verdacht gekommen, Marx sei vielleicht zu weit gegangen in der Austreibung der Gespenster und schon gar nicht, daß man das ganze totalitäre Erbe des Marxschen Denkens als eine Panikreaktion vor dem Gespenst erklären könnte (57), als Folge einer - verängstigten - Feindseligkeit gegenüber den Geistern, die Marx mit seinen Gegnern gemeinsam gehabt haben wird (81): "als wenn sie vor jemandem in sich Angst gehabt hätten" (S. 169).
Diese Exposition einer Wiederaufnahme der Auseinandersetzung mit Marx im letzten Buch von Jacques Derrida, einem der bekanntesten Philosophen unserer Zeit, ist aufregend. Natürlich ist es bereits eine Provokation, Marx überhaupt wieder in die postmoderne Diskussion einzuführen, eine Diskussion, die durch die Überzeugung gekennzeichnet ist, Marx sei überholt oder gar überwunden. Es läßt aufhorchen, daß Derrida diese Haltung als "das Dogma vom Ende des Marxismus und der marxistischen Gesellschaften" bezeichnet und von diesem sagt, es sei "heute tendenziell ein 'herrschender Diskurs`" (S. 93).
Dieser "herrschsüchtige Diskurs" nehme oft die "manische, jubilatorsiche und beschwörende [...] Form an, die Freud der sogenannten Phase des Triumphs in der Trauerarbeit zuschrieb". Sie trachte zu verleugnen, daß "noch niemals, nie und nimmer zuvor in der Geschichte, der Horizont über den Modellen, deren Überleben man feiert (das heißt über all den alten Modellen der kapitalistischen und liberalen Welt), so dunkel, so bedrohlich und so bedroht war" (S. 89).
Derrida zählt ihre "Wunden" rücksichtslos auf:
"1. Die Arbeitslosigkeit, die "neue Armut": "die Funktion von sozialer Inaktivität, Nicht-Arbeit oder Unterbeschäftigung tritt in ein neues Zeitalter ein" (S. 133). Diese reguläre Störung eines neuen Marktes, neuer Technologien, einer neuen weltweiten Wettbewerbsfähigkeit wird größtenteils verleugnet - "ein Leiden, das um so mehr und um so unzugänglicher leidet, als es seine gewohnte Sprache und seine gewohnten Modelle verloren hat" (S. 133).
"2. Der massive Ausschluß obdachloser Bürger von jeder Teilnahme am demokratischen Leben der Staaten, die Ausweisung oder Abschiebung so vieler Exilanten, Staatenlosen und Immigranten [...] kündigt bereits eine neue Erfahrung von Grenzen und - nationaler oder bürgerlicher - Identität an" (S. 133).
"3. Der gnadenlose Wirtschaftskrieg [...] beherrscht alles" (S. 133).
"4. Die Unfähigkeit, die Widersprüche im Begriff, in den Normen und in der Realität des liberalen Marktes zu meistern" (S. 133).
"5. Die Vergrößerung der Auslandsschulden" treibt "einen großen Teil der Menschheit in Hunger und Verzweiflung" (S. 134) und bedingt zahlreiche geopolitische Fluktuationen.
"6. Rüstungsindustrie und Waffenhandel [...] sind in die normale Steuerung der wisenschaftlichen Forschung, der Wirtschaft und der Kollektivierung der Arbeit in den abendländischen Demokratien eingeschreiben. Ohne eine unvorstellbare Revolution kann man sie nicht suspendieren" (S. 134).
"7. Die Ausweitung [...] der atomaren Bewaffnung [...] überbordet nicht nur die Grenzen staatlicher Kontrolle, sondern die Grenzen jedes regulären Marktes" (S. 134).
"8. Die interethnischen Kriege [...], geleitet von einem archaischen Phantasma und einem archaischen Begriff [...] der Gemeinschaft, des Nationalstaats, der Souveränität, der Grenzen, des Bodens und des Bluts" (S. 134).
9. Kapitalistische "Phantom-Staaten" der Mafia und des Drogenkonsortiums überwuchern nicht nur das sozioökonomische Gewebe, die allgemeine Zirkulation des Kapitals, sondern auch die staatlichen und zwischenstaatlichen Institutionen (S. 135f).
10. Der Zustand des internationalen Rechts; die Inkohärenz, die Diskontinuität, die Ungleicheit der Staaten vor dem Gesetz; "die Hegemonie bestimmter Staaten über die militärische Macht im Dienst des internationalen Rechts" (S. 136f).
Der Kommunismus sei immer gespenstisch gewesen. Aber damit meint Derrida zugleich: Sein Kommen steht immer aus. Ihn zu verleugnen hieße, das Unleugbare selbst zu verleugnen (S. 160).
Die neue Weltordnung heute, die Derrida als "eine neue, weltweite Unordnung" charakterisiert, die ihren Neo-Kapitalismus zu installieren versucht (S. 67), habe Ähnlichkeit mit jener großen "Verschwörung" gegen das Gespenst des Kommunismus (S. 86), in deren Verlauf allein sich der Totalitarismus konstituieren konnte (S. 57), einer Verschwörung gegen den Marxismus, gegen das, was er weiterhin repräsentiert (S. 86). Sie organisiere und beherrsche überall die öffentliche Kundgebung, die Zeugenschaft im öffentlichen Raum (S. 89). Die Diskurse der politischen Klasse, der massenmedialen Kultur, und der akademischen Kultur zielen alle auf den Punkt der größten Kraft hin, um die Hegemonie und den Imperialismus zu sichern. Sie werden durch diesselben Apparate verschmolzen, dank der Vermittlung der Medien. Die Hegemonie vollzieht sich über die techno-mediale Macht; eine Macht, die jede Demokratie zugleich bedingt und gefährdet (S. 92). Die Hegemonie organisiert immer die Unterdückung, aber damit zugleich die Bestätigung einer Heimsuchung (S. 67). Es gelingt keiner Verneinung, sich aller Gespenster von Marx zu entledigen (S. 67). "Noch nie in der Geschichte [...] haben Gewalt, Ungleichheit, Ausschluß, Hunger und damit wirtschaftliche Unterdrückung so viele menschliche Wesen betroffen" (S. 137).
Gegenüber der Verneinung, die nicht gelingt, bleibt nur, das Erbe anzunehmen: dies ist die andere Bedeutung von Verschwörung und Beschwörung. Eine Verschwörung, die darin besteht, die Verantwortung zu übernehmen (S. 87). Unsere Verantwortung sei es, das Erbe des Marxismus zu übernehmen (S. 92). Alle Menschen seien heute in gewissem Maß die Erben von Marx und des Marxismus, Erben der absoluten Einzigartigkeit eines Projektes - oder Versprechens - von philosophischer oder wissenschaftlicher Form (S. 145) unter Vorschlag eines neuen Begriffs vom Menschen, von der Gesellschaft, von der Wirtschaft, der Nation, und mehrerer Begriffe vom Staat und von seinem Verschwinden (S. 148). Das "Jahrhundert des Marxismus" werde das Jahrhundert einer wissenschaftlich-technischen und effektiven Dezentrierung der Erde gewesen sein, auch des Anthropos in seiner onto-theologischen Identität, des ego cogito und des Begriffs des Narzißmus selbst (S. 158). Diese marxistische "Kränkung" sei vielleicht die tiefste Verletzung, tiefer noch als die "Freudsche". Ihr Trauma höre nicht auf, verleugnet zu werden (S. 159). Marx sei noch nicht aufgenommen worden: der Unheimliche. Er gehöre einer Zeit der Disjunktion an, einer "time out of joint" (S. 274). Es handelt sich um eine Zeit ohne gesicherte und ohne bestimmbare Konjunktion (S. 38), in der sich mühevoll, schmerzvoll und tragisch ein neues Denken der Grenzen anbahnt, eine neue Erfahrung der Häuslichkeit und der Ökonomie (S. 274).

Dieses Projekt des Marxismus stelle die Forderung, uns in die Zukunft zu begeben, ohne Begriff und ohne Versicherung einer Bestimmung, ohne Wissen, ohne die synthetische Zusammenfügung der Konjunktion oder der Disjunktion oder vor dieser (S. 55). Die Heterogenität (disjonction) der Sprachen von Marx sei kein Fehler, sie öffne im Gegenteil, lasse sich öffnen, vom Einbruch dessen, was hereinbricht, oder noch aussteht - einzig vom anderen her (S. 61). Heterogenität als die einzige Chance einer reaffimierten Zukunft (S. 66). "Es wird immer ein Fehler sein, Marx nicht zu lesen (S. 32). Wir haben "keine Entschuldigung mehr, [...] uns von dieser Verantwortung abzuwenden. Ohne das wird es keine Zukunft geben. [...] Keine Zukunft ohne Marx" (S. 32).
Diese Verantwortung wird von Derrida als ethische eingeführt, als Frage nach dem richtigen (gerechten) Leben. Lernen zu leben, "von sich selbst [...], sich selbst lehren, zu leben [...] - ist das [...] nicht eine Unmöglichkeit?. [...] Trotzdem ist nichts notwendiger als diese Weisheit. Es ist die Ethik selbst" (S. 1o). Es würde heißen, anders zu leben und besser, nein: gerechter. "Wenn er zumindest die Gerechtigkeit liebt, wird [...] der 'Intellektuelle` von Morgen [...] lernen müssen, zu leben, [...] indem er lernt, [...] sich mit [...] dem Gespenst [...] zu unterhalten, ihm das Wort zu lassen [...], und sei es auch in sich selbst, im anderen, dem anderen in sich" (S. 276). "Es gibt kein Mitsein mit dem anderen [...] ohne dieses Mit-da, das uns das Mitsein im allgemeinen rätselhafter macht denn je" (S. 11). "Was zwischen zweien passiert [...], das kann sich nur dazwischen halten und nähren dank eines Spuks" (S. 10).
Die psychologischen Implikationen des Spuks, des Gespensts springen in die Augen. Derrida erinnert daran, daß das Idiom dieses "Es spukt" in allen Texten, wie in "Das Unheimliche" von Freud, eine einizgartige Rolle spielt. Überall, wo es Ich oder Mich gibt, spukt es, "sucht es heim". "Ich bin" würde also heißen "Ich bin heimgesucht": von mir selbst. "Ich = Gespenst". Dieses Ich, das lebendige Individuum, "würde durch die Gespenster gebildet, deren Gastgeber es von da an ist" (S. 2o9). Das Gespenst: das ist der Geist - ein Begriff, der ja im Deutschen genau die Doppelbedeutung besitzt, mit der der Text von Derrida spielt. Der Geist von Hamlets Vater, der ihn heimsucht. Derrida reinszeniert - mit Shakespeares Hilfe - seine Wiederkehr. Marx hatte das bereits getan. Der Geist des Vaters, er kommt nicht zur Ruhe, er beunruhigt uns, er fordert uns heraus, uns ihm zu stellen, er arbeitet - in uns. Der Geist des Vaters, oder der Mutter, das ist - auch - das, "was man sich einbildet [...] und was man projiziert" (S. 162): "die flüchtige und ungreifbare Sichtbarkeit des Unsichtbaren oder die Unsichtbarkeit eines sichtbaren X, jene unsinnliche Sinnlichkeit, von der `Das Kapital` in Bezug auf einen gewissen Tauschwert spricht[...], die berührbare Unberührbarkeit von jemandem als jemand anderem. [...] Dieser gespenstische jemand anders sieht uns an und wir fühlen uns von ihm angesehen, [...] gemäß einem absolut unbeherrschbaren Mißverhältnis" (S. 23). "Die Macht zu sehen, ohne gesehen zu werden": Das ist "das höchste Insignium der Macht" (S. 25). Wir sind ihrer Stimme ausgeliefert (S. 24), der des Unheimlichen, des Unerwarteten, Unerklärbaren. Es macht Angst. Dagegen wird ein erbarmungsloser Kampf (der Verleugnung) geführt. Dieser ist aussichtslos: das Gespenst ist nicht zu vertreiben, es kehrt wieder.

"Lernen, mit den Gespenstern zu leben" (S. 1of.), den Gespenstern das Wort zu lassen, das könnten wir noch von Marx, der es auch verstanden hatte, die Gespenster in Freiheit zu lassen, zu emanzipieren (S. 274f). Der Marxismus sei immer noch notwendig, aber nur unter der Voraussetzung, daß man ihn anpaßt an neue Bedingungen und an ein anderes Denken der Ideologie (S. 1oo). Dieser Notwendigkeit war sich Marx durchaus bewußt. "Wer hätte jemals zur künftigen Transformation seiner eigenen Thesen aufgerufen? [...] um darin der Unvorhersehbarkeit neuer Kenntnisse, neuer Techniken, neuer politischer Gegebenheiten [...] Rechnung zu tragen? Kein anderer Text der Tradition erscheint so hellsichtig im Bezug auf die stattfindende weltweite Ausdehnung des Politischen und den irreduziblen Anteil des Technischen und Medialen am Fortgang noch des tiefschürfendsten Denkens" (S. 31).
Das Erbe des Marxismus übernehmen bedeute, "dem treu bleiben, was aus dem Marxismus [...] immer zuerst eine radikale Kritik gemacht hat". Damit meint Derrida ein Vorgehen, "das bereit ist, sich selbst zu kritisieren" (S. 143). Ohne eine radikale und unabschließbare (theoretisch und praktisch) Kritik sei das dekonstruktive Denken nicht denkbar. Diese Kritik rechnet Derrida der "Bewegung einer Erfahrung" zu, die offen ist "für die absolute Zukunft dessen, was kommen wird, [...] dh einer notwendig unbestimmten, [...] ausgelieferten, exponierten Erfahrung, [...] die ausgesetzt bleibt [...] ihrer Erwartung des anderen und des Ereignisses" (S. 146), einer "nicht antizipierbaren Andersheit"; "Erwartung ohne Erwartungshorizont, Erwartung dessen, was man noch nicht oder nicht mehr erwartet, vorbehaltlose Gastfreundschaft, [...] die der absoluten Überraschung des Eintreffenden im vorhinein gewährt werden, ohne das Verlangen einer Gegenleistung oder eine Verpflichtung [...], gerechte Öffnung, die auf jedes Besitzrecht verzichtet, [...] Öffnung für das, was kommt, [...] was man nicht als solches erwarten und also auch nicht im voraus erkennen kann", welche Derrida "messianische" nennt, Öffnung "für das Ereignis als das Fremde selbst, für jemanden, [...] für den man im Eingedenken der Erwartung immer einen Platz freihalten muß" - und das sei "der Ort der Spektralität oder der Gespenstigkeit selbst". Es sei "leicht zu zeigen, daß eine solche vorbehaltlose Gastfreundschaft das Unmögliche selbst ist und dennoch die Bedingung der Ereignisse und also der Geschichte bleibt" (S. 110)
Der Geist des Marxismus: dazu rechnet Derrida nicht nur die kritische Idee oder die fragende Haltung, sondern zugleich "eine gewisse emanzipatorische und messianische Affirmation" (S. 145), eines "Messianismus ohne Religion", einer Idee der Demokratie - "die wir von ihrem aktuellen Begriff und ihren Prädikaten, wie sie heute bestimmt werden, unterscheiden": Demokratie als Begriff einer Verheißung - und einer Idee der Gerechtigkeit - "die wir immer noch vom Recht [...] unterscheiden" (S. 1o1). Ohne dieses Messianische laufe die Gerechtigkeit Gefahr, "sich erneut auf Regeln, Normen [...] zu beschränken, in einem unvermeidlich totalisierenden Horizont" (S. 54). Die Gerechtigkeit als Bezug zum anderen setze "den irreduziblen Exzeß eines Bruchs" voraus, "out of joint", der, "gerade indem er immer das Übel, [...] die Ungerechtigkeit [...] riskiert, gegen die es keine kalkulierbare Versicherung gibt, allein dem anderen als dem anderen Gerechtigkeit erweisen oder widerfahren lassen könnte [...], Möglichkeit der Gerechtigkeit", das, "was sich der Singularität des anderen ausliefern muß" (S. 53). "Der notwendige Bruch [...], die de-totalisierende Bedingung der Gerechtigkeit, [...] ist hier die Bedingung der Gegenwart [...] und [...] der Präsenz des Gegenwärtigen [...]. Sonst ruht sie sich auf dem guten Gewissen erfüllter Pflichten aus, sie verliert die Chance der Zukunft, des Versprechens [...], des Begehrens [...], jenes Messianismus der Wüste [...], in der Erwartung [...] der Ankunft des anderen [...] als Gerechtigkeit" (S. 54).
Derrida reiht sich also nicht ein in den Chor derer, die das Ende der Geschichte verkünden, sondern es geht ihm darum, eine andere Geschichtlichkeit zu denken, eine andere Eröffnung der Ereignishaftigkeit als Geschichtlichkeit, die es erlaubte, den Zugang zu eröffnen zu einem affirmativen Denken des messianischen Versprechens. "Dieses Versprechen ist emanzipatorisch". Wir müssen am emanzipatorischen Begehren festhalten. Das sei "Bedingung der Re-politisierung" (S. 124).
Und "ein Versprechen muß versprechen, daß es gehalten wird". Das heißt, "es muß versprechen, nicht 'spirituell` oder 'abstrakt` zu bleiben, sondern Ereignisse zu zeitigen, neue Formen des Handelns, der Praxis, der Organisation usw." (S. 145). Derrida beschwört diese unter dem Namen einer "neuen Internationale". Sie beziehe sich auf eine tiefgreifende, auf lange Dauer berechnete Veränderung des internationalen Rechts. Die "neue Internationale": sei "nicht nur das, was durch diese Verbrechen hindurch nach einem neuen internationalen Recht sucht;" sie sei "ein Band der Verwandtschaft, des Leidens und der Hoffnung, ein [...] fast geheimes Band [...] wie um 1848. Ein unzeitgemäßes Band ohne Status, ohne Titel und ohne Namen, kaum öffentlich, auch wenn es nicht verborgen ist" (S. 139). Sie sei eine Allianz jener, die sich "weiterhin von wenigstens einem der Geister Marx' oder des Marxismus inspirieren lassen [...], und zwar um sich konkret, real, in einer neuen Welt zu verbünden, auch wenn diese Allianz nicht mehr die Gestalt der Partei oder der Arbeiterinternationale annimmt, sondern die einer Art Gegen-Verschwörung in der (theoretischen und praktischen) Kritik des internationalen Rechts, der Begriffe von Staat und Nation usw.: um diese Kritik zu erneuern und um sie vor allem zu radikalisieren" (S. 14o).
Bei der Frage des Erbes des Marxismus gehe es zugleich auch um Auswahl, und die Anpassung an veränderte Bedingungen. "Ein Ensemble von Transformationen aller Art (insbesondere technisch-wissenschaftlich-ökonomisch-mediale Mutationen) überschreiten sowohl die traditionellen Gegebenheiten des marxistischen Diskurses als auch die des liberalen Diskurses, der sich ihm entgegensetzt" (S. 118). Sie zwingen uns, "die Virtualisierung des Raums und der Zeit zu denken, die Möglichkeit virtueller Ereignisse, deren Bewegung und Geschwindigkeit uns von jetzt an verbieten [...], die Präsenz ihrer Repräsentation gegenüberzustellen, [...] die Wirklichkeit ihrem Simulakrum, das Lebende dem Nichtlebenden, [...] dem Lebendig-Toten seiner Gespenster" (S. 266).
Die Analyse marxistischen Typs erscheine da "radikal unzureichend" (S. 1oo), wo sie "im Namen der lebendigen Präsenz als materieller Wirklichkeit" (S. 168) ebenfalls gegen das Gespenst kämpfe: So wenn das Manifest behauptet: die kommunistische Internationale werde "die endgültige Inkarnation, die reale Präsenz des Gespensts sein und damit das Ende des Gespenstischen" (S. 165f.). Das heißt für Derrida, daß Marx, der sich lustig machte über die Angst vor dem Gespenst des Kommunismus, der die Gespenster denunzierte, verjagte durch kritische Analyse (S. 81), nicht aufhört, "seine Kritik [...] des gespenstigen Simulakrums auf eine Ontologie gründen zu wollen" (S. 267). Diese "kritische Ontologie" vermöge zwar "die Möglichkeit zu entfalten, das Gespenst als das ein Subjekt repräsentierendes Bewußtsein aufzulösen, [...] es zu beschwören", und sie vermöge "diese Repräsentation auf ihre Bedingungen in der materiellen Welt der Arbeit, der Produktion und des Tauschs zurückzuführen" (S. 268). Aber sie versuche zugleich, das gespenstische Moment vollkommen zu negieren, zu vertreiben. Derrida zeigt dies am Beispiel der Darstellung des mystischen Charakters der Ware im "Kapital". Zu sagen, daß dieser "nichts mit dem Gebrauchswert zu tun" habe (S. 235), daß "dasselbe Ding [...] als Ware auftritt, nachdem es in seinem Gebrauchswert nichts als ein gewöhnliches Ding gewesen ist", heiße, "dem gespenstigen Moment einen Ursprung zu geben" (S. 251). Alles nehme seinen Anfang vor dem Anfang. Marx wollte wissen, "wo, in welchem Augenblick [...] das Gespenst die Bühne betritt", und das sei "eine Art Exorzismus, eine Art, es auf Abstand zu halten" (S. 253f.).
Die "Grenzen der Phantasmagorisierung" lassen sich nicht mehr durch "die einfache Entgegensetzung von Anwesenheit und Abwesenheit, Wirklichkeit und Unwirklichkeit, Sinnlichem und Übersinnlichem kontrollieren oder bestätigen". Es sei eine "andere Annäherung an diese Differenzen" notwendig (S. 256), eine andere Logik, andere Begriffe: "die Logik des Gespensts" (S. 107). Man müsse "den Spuk schon in die Konstruktion eines Begriffs aufnehmen" (S. 253). Diese "Logik des Gespensts" überschreite die "binäre Logik", "jene Logik, die Wirklichkeit [...] und Idealität [...] einander gegenüberstellt" (S. 1o7), die vertraut auf die einfache "Opposition zwischen Wirklichem und Nichtwirklichem", und das heißt auch: die "auf eine allgemeine Zeitlichkeit [...] vertraut, die aus einer sukzessiven Verkettung mit sich selbst identischer und mit sich selbst gleichzeitiger Gegenwarten besteht" (S. 117). "Das dekonstruktive Denken der Spur, der Iterabilität, der künstlichen Systhese, der Supplementarität usw." führe - so Derrida - "über diese Oppsition hinaus und über die Ontologie, die sie voraussetzt". Es schreibe "die Möglichkeit des Zurückverwiesenseins auf den anderen oder das andere ein, also die Möglichkeit der radikalen Alterität und Heterogenität, der Differänz, der Technizität und der Idealität im Ereignis der Präsenz selbst" (S. 125).
Marx, für den das Gespenst nichts sein durfte, habe zu viele Gespenster vertrieben (S. 81) durch die ontologische Antwort - "eine kritische, aber prä-dekonstruktive - Ontologie der Präsenz als tatsächlicher Wirklichkeit und Gegenständlichkeit" (S. 267f.). Diese sei zwar nicht falsch, überflüssig; charakterisiere aber "ein relativ verfestigtes Wissen", das nach Fragen verlange, die "radikaler sind als die Kritik selbst und als die Ontologie, in der die Kritik gründet". Diese Fragen seien "destabilisierend, [...] praktische Ereignisse". Diese Ereignisse kommen aus der Zukunft. "Einer aus den Fugen geratenen [...] Zeit, ohne die es weder Ereignis noch Geschichte, noch das Versprechen der Gerechtigkeit gäbe" (S. 268).
Eine ethische Begründung für die Forderung, das Erbe des Marxismus anzutreten: ist das nicht eine verrückte Idee? Jedenfalls soweit nicht, als dieser ethische Bezugsrahmen uns die Wahl offen läßt, und dh auch, uns eine Auswahl zu treffen abverlangt unter den Geistern des Marxismus, die wir nicht vertreiben, sondern zur Erscheinung kommen lassen sollen: die kritischen und emanzipatorischen, gesellschaftskritischen und revolutionären Geister des Marxismus.
Der ethische Horizont ist nicht neu für Derrida. Der Theoretiker der Schrift und der Lektüre von Texten als Kunstwerken hat sich immer schon in einem ethischen Diskurs befunden. Aber zugleich wird seit einiger Zeit ein ethischer Diskurs innerhalb der kritischen Intelligenz geführt, vor allem unter dem Namen "Kommunitarismus". Ein Vergleich mit dieser inzwischen sehr einflußreichen, oder sagen wir besser medial gehätschelten Position würde sich lohnen. Ich muß mich hier auf einige Randglossen beschränken.
Die Grundidee des Kommunitarismus ist eine gegen die Neoliberale Welle, an deren Adresse sozusagen, gerichtete alte (Marx'sche) Einsicht, daß der Kapitalismus ein nichtkapitalistisches Umfeld zu seiner - nicht nur Entfaltung, sondern - Aufrechterhaltung braucht. Der Kapitalismus in Reinform wäre sein Ende, er kann aus sich heraus seine eigenen Existenzbedingungen nicht erschaffen. Diese Einsicht wird aber vom Kommunitarismus nicht als Argument gegen den Kapitalismus gebraucht, im radikalen Sinn gegen diesen gerichtet, sondern in subsidiärer Form, als Forderung, jene Ressourcen zu erhalten, oder besser: zurückzugewinnen, die der Kapitalismus gerade zerstört. Die Haltung der Krankenschwester am Krankenbett des Kapitalismus.
Marx' Manifest entwirft bereits das Szenario dieser Zerstörung. Die Kommunitaristen wählen daraus lediglich die soziale Dimension der Beziehungen (vor allem Familie, Nachbarschaften, usw.) und die ethischen Werte. Sie seien wieder zu reinstallieren. Unter dem Druck der beschriebenen Dynamik der Zerstörung ein anrührendes Unterfangen, oder besser: ein frommer Wunsch. Aber es zündet - vielleicht - weil auf die (marxistische, ökonomische) Analyse der Bedingungen der Zerstörung verzichtet wird und nur die Idee hervorgekehrt wird, das Kapital sei auf diese von ihm selbst zerstörten Voraussetzungen seiner Existenz angewiesen. Die fatale Schlußfolgerung der Kommunitaristen, es sei ein "neuer" Konsens für die Gemeinschaft herzustellen, übersieht aber, daß es diesen Konsens bereits gibt: wenn auch nicht auf der Ebene des Sozialen, sondern der Ökonomie und Politik, den Konsens über die Richtigkeit des (neo)liberalen Modells; die Zerstörung ist die Folge eines grundlegenden Konsens: des Konsens der Profitrate.
Was die Kommunitaristen tun, ist also - ebenfalls - nichts anderes als eine Beschwörung: eine Beschwörung der Idee der Gemeinschaft und des Konsens. Aber eine Beschwörung, durch die die tatsächlich bedrohlichen Gespenster: der Idee der Demokratie und der Gerechtigkeit und ihre Voraussetzung: die "unwahrscheinliche Revolution" des Kapitalismus, ausgegrenzt bleiben. Die "Wunden der neuen Weltordnung" werden nicht einmal zur Kenntnis genommen. Es wird, um im Bild zu bleiben, nur versucht, dem Poltern der Gespenster zu wehren, statt sich ihnen zuzuwenden. Darin liegt die Differenz. Für Derrida ist sie die Ethik selbst. Daß der Kapitalismus seine eigenen Voraussetzungen zerstört - keine Frage; daß dazu auch die ethische Dimension gerechnet werden muß, ist eine verblüffende Vorstellung. Die Frage ist allerdings, ob immer dieselbe Sache gemeint ist: ob der Kapitalismus dieselbe Ethik braucht, wie wir, ob wir die Ethik des Kapitalismus brauchen können, ob unsere nicht eine ganz andere sein müßte, vielleicht sogar gegen die des Kapitalismus gerichtet - wie Foucault sagen würde.
Foucault hat in seinen letzten Schriften ein Programm ethischer Reflexion entworfen, das tatsächlich einen Vergleich mit dem Derridaschen Entwurf lohnt. Es ist eine "Ethik der Subjektivierung", die das Verhalten, Denken nicht an einem vorausgesetzten Gesetz mißt, sondern daran, ob die jeweilige Existenzweise jenen Regeln der Selbstregierung oder Selbstregulierung gehorcht, die der freien Wahl überlassen sind. Im Unterschied zu traditionellen Ethiken, die von einem wesenhaften "Ich" ausgegangen sind und erklärten, daß dieses "Ich" dann ein moralisches sei, wenn es sich einem allgemeinen Gesetz, einer Autorität unterwirft, ist bei Foucault das Subjekt ein historisches, sich veränderndes, das sich in jedem Augenblick neu erschafft, das ein anderes würde, indem es sich durch gänzlich neue und andere Erfahrungen ständig transformiert. Foucault hält damit an Rationalität, Reflexivität, Freiheit und Emanzipation des Subjekts in dem Sinne fest, daß sie anders und im Hinblick auf andere Ziele zu denken seien, nämlich "im Modus der Aktualität". Das Subjekt Foucaults ist ein sich selbst Konstituierendes und Transformierendes. Subjektivität fällt mit dem Prozeß der Subjektivierung zusammen - Subjektivierung zugleich als eine Form der Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Nach dem Ende der traditionellen Formen der Kritik und des Widerstandes werde "heute der Kampf gegen die Formen der Subjektivierung, die die Individuen in Machtnetze einspannen, gegen die Unterdrückung durch Subjektivierung zunehmend wichtiger, auch wenn die Kämpfe gegen Herrschaft und Ausbeutung nicht verschwunden sind." (Foucault 1982, 247) Politische Kämpfe seien heute zunehmend Kämpfe um eine neue Subjektivität, bzw. Kämpfe gegen all das, was das Individuum an es selber fesselt und dadurch anderen unterwirft. "Wir müssen neue Formen von Subjektivität zustandebringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen." (25o) Für die Individuen ginge es darum, die Praktiken, durch welche sie in die Machtnetze eingebunden werden, zu durchschauen - in einem "aktiven Schweigen" "sich von sich selbst zu lösen" - und ihnen Praktiken der Freiheit, die die Macht unterlaufen entgegenzusetzen, dh sich anders zu subjektivieren, "eine verändernde Erprobung seiner selber" durchzuführen, "eine Askese, eine Übung seiner selber, im Denken". (Foucault 1984, 16) Ein befreites Subjekt heute müßte den Glauben an das Subjekt des Begehrens außer Kraft setzen. Das wäre eine neue Form der Subjektivierung (Ästhetik der Existenz). Das Mittel dazu ist für Foucault die "Genealogie". Sie legt die historischen Umstände offen, unter denen "der abendländische Mensch sich jahrhundertelang als Begehrenssubjekt zu erkennen hatte." (Foucault 1984, 12) In der heutigen Disziplinargesellschaft wird Normalisierung nicht durch direkte Machteinwirkung hergestellt, sondern durch "politische Technologie des Körpers" (in Schule, Kaserne, Fabrik und Hospital). Die Geständnisprozedur wird zur "Geständniswissenschaft" ausgebaut. Die "Sexualität" ist ihr Zentrum. Das Begehren - im christlichen Diskurs negativ besetzt - erhält nun ein positives Vorzeichen. Die Heilsordnung wird therapeutisch. Es müsse ein Selbstbezug erarbeitet werden, der die Individuen nicht versklave. Dieser sei nicht durch die Vorgabe eines bestimmten Wissens oder universell gültiger Regeln zu erreichen. Neue Subjektivierungsweisen können nur experimentell erarbeitet werden. Damit könnte "das Leben eines jeden ... ein Kunstwerk werden" (Foucault 1982, 273) Diese "Ästhetik der Existenz" sei unter den gegenwärtigen Bedingungen des Normalisierungsdruckes unverzichtbar, entspringe einer "Diagnose der Gefahr". Die Frage seiner Ethik als einer Ästhetik der Existenz, aus der Foucault diese Subjektkonzeption entwickelt hat, ist die nach den Praktiken, die es dem Individuum gestatten, zu einer Form des Verhältnisses zu sich selbst zu finden, in der es sich als Subjekt einer moralischen und gesellschaftlich anerkannten Lebensführung konstituiert. Sie erfordere die Arbeit am reflektierenden Subjekt. Diese sei unverzichtbares Instrument für seine Freiheitspraxis, für die Erkundung neuer Wege der Subjektivierung.
Nicht die politische Dimension unterscheidet die Ethik Foucaults von der Derridas - diese wird konstitutiv für die Ethik (in) der Postmoderne; ebenso wie die prominente Position der "ersten Person", des Subjekts, des Selbst, der Bezug zu mir, der in beiden Konzeptionen zentral ist. "Lernen zu leben, von sich selbst, [...] sich selbst lehren, zu leben" (Derrida, S. 1o) Bei Foucault heißt dies "Selbst-Regierung". Sie bedeutet zugleich "Ästhetisierung der Existenz", die "Selbst-Stilisierung des Lebens als Kunstwerk". Der Bezug zu mir, der bei Derrida als ein Bezug zum anderen gefaßt wird, realisiert sich im Gespräch mit dem anderen (in mir selbst).
Ein Selbstgespräch in Anwesenheit des anderen: das ist zugleich eine gute Charakterisierung von Therapie. Psychologie müßte sich der gespenstischen Dimension ihrer Praxis nur bewußt werden, um sie nicht in ideologischer Verblendung auszuüben. Therapie als Gespräch - mit den Gespenstern, als Dialog mit dem Unheimlichen, dem Unerwarteten. Was das Buch für Psychologen so anregend macht, ist daß dieses Gespräch nicht nur postuliert wird, sondern tatsächlich vorgeführt.

Klaus-Jürgen Bruder

Phantasma der Macht

Das Thema der „Macht“ erfährt in der Psychoanalyse eine eigenartige Behandlung: die - personale - „Macht“-Beziehung - vorzugsweise des Kindes über die Mutter: sie staunen machen zu können, oder wütend, oder die „Macht“ des Patienten über den Therapeuten, dient als Paradigma der gesellschaftlichen Macht-Verhältnisse(die dadurch als „immer und überall“ aufzufindende deklariert werden können - gemeint ist natürlich gerade die Macht der Mächtigen). Es bedurfte des 11.9. (und was danach kam) um den Schleier von unseren Augen weg zu reißen, unser unernst-ernstes Spiel uns aus den Händen zu schlagen, und uns die Macht in ihrer apokalyptischen Dimension vor Augen zu führen:
Die Macht des „Bösen“ auf die die Macht des „Guten“ sich nicht lange bitten ließ, zu antworten:
Sie, die Macht des Guten hat in ihrer „infinite justice“ zumindest die Zahl der „unschuldigen Opfer“ verdoppelt, - ja, wie wir inzwischen lesen können, vervielfacht (daß sie, die „Macht des Guten“ der „Macht des Bösen“ schon lange vorausgegangen war, nicht zu vergessen). Wir, die wir in der Zuschauerloge diese „Gladiatorenkämpfe“ verfolgen konntenhatten Gelegenheit, „unsere Herzen für Österreich-Ungarn“ schlagen zu lassen, wie Freud 1914 sich in einem Brief ausgedrückt hatte. [i]

Freud hatte allerdings bald - schon 1 Jahr danach, noch bevor sich die erste Kritik am Krieg regte, erkannt, daß er einem Phantasma aufgesessen war, dem Phantasma der Macht. [ii] Kaiser Franz Joseph, der mächtige Vater, der seine Pflicht tut und zu den schwersten Opfern aufrief, solch einen Vater zu haben, mußte die Söhne mit Stolz erfüllen und sie danach streben lassen, wie er zu werden und die Dinge so zu sehen wie er (381). Auch Freud war damals, 1914, in diese Position verfallen [iii] er hatte aus der Regression heraus die Weltpolitik als Variation seiner Familiengeschichte erlebt(sein eigener Vater hatte nicht getan, was FJ getan sich für seine Demütigung zu rächen) [iv] (382). Das Phantasma (des guten Herrschers) schafft die Illusion, man könne sich auf die Herrschaft verlassen, sie werde das Gute tun, sie werde einen - wie einst vom Vater erhofft - und enttäuscht - beschützen (384).
Die Phantasmen der Macht: die legitimationsstiftenden Bilder, in welchen Herrschaft bewußtseinsfähig wird (372). Sie werden produziert durch die Größen- und Allmachtsphantasien, die sich im Phänomen der Herrschaft kristallisieren, durch die Faszination, die sie ausübt (373). Sie ermöglichen eine „magische Partizipation an der Macht“, die aggressionshemmend wirkt (372): die Hemmung der Aggressionen (der Beherrschten), die aus den kränkenden und erniedrigenden Aspekten des Lebens der Beherrschten herrühren (376). Sie stehen also „im Dienste der Unbewußtmachung der Voraussetzungen der Herrschaft“ (373). Es müssen diejenigen Wahrnehmungen ins Unbewußte verdrängt werden, die - würden sie Teil des Bewußtseins bilden - die Individuen zu einer Veränderung ihrer Situation veranlassen könnten (377). Auf dieser Unbewußtmachung beruht der Legitimationsglaube, woraus der Konsens zwischen Herrscher und Beherrschten in Klassengesellschaften erwächst (376). An sich völlig unglaubhaft erscheinende Rechtfertigungsversuche einer herrschenden Klasse werden geglaubt, weil sie die unannehmbare Realität verdrängen helfen, die Flucht in die Illusion erlauben und die Größen- und Allmachtsphantasien der Unterworfenen „erlösen“ (377).

Geglaubt wurde 1914 deshalb die Kriegerklärung Franz Josephs, (obwohl) es darin in erster Linie um Ehre ging, der Krieg zum Zweikampf erklärt wurde zwischen den Guten und den Bösen.

In dem Maße, wie für Freud das Phantasma zerfiel, wurde auch wieder die Heuchelei der Macht sichtbar, aufgrund deren die Gewalt legitimiert erschienen war (383) „einseitig unterrichtet...werden wir selbst irre an der Bedeutung der Eindrücke, sie sich uns aufdrängen und an dem Werte der Urteile, die wir bilden [v] (384). Nachdem dieser Mechanismus der Verdrängung dessen, was man tatsächlich erfährt, zugunsten dessen, was im Dienste der Legitimation der Herrschaft erfahren werden sollte, außer Kraft gesetzt: war Freuds Kritik an der Macht, am Staat unerbittlich:
„Der einzelne Volksangehörige kann in diesem Kriege (1914) mit Schrecken feststellen, was sich ihm gelegentlich schon in Friedenszeiten aufdrängen wollte, daß der Staat dem Einzelnen den Gebrauch des Unrechts untersagt hat, nicht weil er es abschaffen, sondern weil er es monopolisieren will wie Salz und Tabak. Der kriegführende Staat gibt sich jedes Unrecht, jede Gewalttätigkeit frei, die den Einzelnen entehren würde. Er bedient sich nicht nur der erlaubten List, sondern auch der bewußten Lüge und des absichtlichen Betrugs gegen den Feind [...] Der Staat fordert das Äußerste an Gehorsam und Aufopferung von seinen Bürgern, entmündigt sie aber dabei durch ein Übermaß an Verheimlichung und eine Zensur der Mitteilung und Meinungsäußerung, welche die Stimmung der so intellektuell Unterdrückten wehrlos macht gegen jede ungünstige Situation und jedes wüste Gerücht. Er löst sich los von Zusicherungen und Verträgen, durch die er sich gegen andere Staaten gebunden hatte, bekennt sich ungescheut zu seiner Habgier und seinem Machtstreben, die dann der Einzelne aus Patriotismus gutheißen soll“. [vi]

Trotz dieser eindeutigen Kritik am Verhalten des Staates hat Freud sich nicht wirklich vom Phantasma der Macht befreit: 1930 hält Freud (noch oder wieder) fest an der Notwendigkeit der Macht (des Staates)für die Lösung “eines der Hauptprobleme der Kultur“: die Zähmung der aggressiven Triebe. [vii] Ausgerechnet dieser Macht, von der er „mit Schrecken feststellen“ mußte, daß sie sich „ungescheut“ zu ihrer „Habgier“ und ihrem „Machtstreben bekennt“, sich „jedes Unrecht, jede Gewalttätigkeit freigibt, die den Einzelnen entehren würde“ daß sie also „den Gebrauch des Unrechts“ nicht abschaffen, sondern in ihrer Hand „monopolisieren“ will gesteht Freud die Aufgabe und die Fähigkeit zu, die Gewalttätigkeit (von uns allen) zu „zähmen“. Würde man sie nicht bereits als die Freudsche kennen, könnte man über diese unerwartete Wende im Denken eines so rationalen Menschen wie Freud eigentlich nur ungläubig den Kopf schütteln. Aber es ist ja gar keine Wende, sondern Freuds Desillusionierung war auf halbem Wege stecken geblieben: Freud hatte bereits damals (1915) geschrieben:
„Zweierlei in diesem Kriege hat unsere Enttäuschung rege gemacht: die geringe Sittlichkeit der Staaten nach außen, die sich nach innen als die Wächter der sittlichen Normen gebärden, und die Brutalität im Benehmen der Einzelnen, denen man als Teilnehmer an der höchsten menschlichen Kultur ähnliches nicht zugetraut hat“. [viii]

Wieso „auf halbem Wege stecken geblieben“? war es nicht nur eine, sondern doppelte Desillusionierung? Desillusionierung über die „Staaten“ und gleichzeitig über die „Einzelnen“. Genau das ist es, daß Freud seine Enttäuschung in Zweierlei Gestalt unterscheidet, daß er den (möglichen, naheliegenden) Zusammenhang zwischen beiden nicht sieht daß die „Brutalität im Benehmen der Einzelnen“ nichts anderes ist als der individualisierte Ausdruck (oder die Folge)der „geringe(n) Sittlichkeit der Staaten“. Aber nein: Freud sieht durchaus einen Zusammenhang: und zwar im „tiefste(n) Wesen des Menschen “in seinen - destruktiven - Triebregungen die „elementarer Natur“, und „bei allen Menschen gleichartig“ sind. [ix] Wie sollte es anders sein: die „psychologists phallacy“ (wie James gespottet haben könnte) hat hier durchgeschlagen: die im „Wesen des Menschen“, seiner „Triebgrundlage“ eine Erklärung nicht nur für dessen Benehmen sondern zugleich auch für das der Staaten sieht.

Freud macht keinen Unterschied zwischen dem „Staat“ und den „Einzelnen“, hinsichtlich der Grundlage ihres jeweiligen Handelns. Er führt sowohl das Handeln des Staates als auch das seiner Bürger auf die „bei allen Menschen gleichartig(en)“ „Triebregungen“ zurück Er macht die „Triebregungen“ der Menschen zur „Triebgrundlage“ (des Verhaltens) des Staates als wären Staaten Menschen gleichzusetzen und keine - von Menschen zwar geschaffene - „künstliche“ Gebilde, Artefakte.

Und auch wenn diese Gebilde sich nicht von selbst bewegen, „verhalten“ sondern von Menschen, durch deren Verhalten, in Gang gesetzt und gehalten werden deren „Triebe“ insofern in die Gestalt und das Handeln des Staates eingehen, dieses bestimmen so übergeht er, daß die Art der Triebbefriedigung und Triebbewältigung nicht nur abhängig ist von der Stärke der Triebregung, sondern auch von den erreichbaren Befriedigungsmitteln. [x] Diese „erreichbaren Befriedigungsmittel “sind gesellschaftlich reglementiert sind und unterscheiden sich je nach sozialem Ort kurz sie sind ungleich verteilt zwischen den verschiedenen Klassen der Gesellschaft. Angesichts der angeblichen Gleichheit der „in jedem von uns“ vorhandenen Triebgrundlage ist verschwindet diese Ungleichheit diese Differenz des „sozialen Orts“ ebenso wie die Differenz zwischen dem Handeln des Staates der „das Unrecht monopolisiert“ und dem Handeln des Einzelnen von dem der Staat „Gehorsam fordert“, der ihn „entmündigt“, und „wehrlos macht“. Dh aber: der Rekurs Freuds auf die allen Menschen gleichartigen elementaren destruktiven Triebregungen kann gerade diese Differenz nicht erklären, die ihr zugrundeliegende Ungleichheit. Die Ungleichheit zwischen Staat und Bürger(Obrigkeit und Untertan)die - politische und gesellschaftliche Macht.

Das Auslöschen der Differenz zwischen Staat und Einzelnemzwischen herrschenden und beherrschten Klassendas Auslöschen von Ungleichheit und Macht, liegt darin der Sinn des Verweises auf die allen gemeinsame Triebgrundlage, der Sinn damit der Triebtheorieder sich „hinter dem Rücken“ des Theoretikers (Freuds) Geltung und Funktion verschafft?

Freuds „doppelte Desillusionierung“ zeigt sich als eine einfache: nicht über die Einzelnen kann er desillusioniert worden sein sondern eigentlich nur über die „Staaten“. Freuds Enttäuschung über “die Grausamkeiten und Rechtsverletzungen, deren sich die zivilisiertesten Nationen schuldig machen, die verschiedene Art, wie sie die eigenen Lügen, das eigene Unrecht und das der Feinde beurteilen“, führt also ihn nicht dazu, nein: bestätigt ihn in seiner Annahme, “in welchem Maße die Psychoanalyse Recht hat...“ Und: Recht hat sie nach Freuds Überzeugung nicht nur in der Annahme der uns allen gemeinsamen Triebausstattung als Grundlage unseres Verhaltens wie des der Staaten, sondern darüberhinaus darin, “daß in jedem von uns die ursprünglichsten Antriebe des Menschen niemals beseitigt sein werden[...] [xi] Und deshalb auch nicht: die Kriege, wie Freud im Brief an Einstein (1932) schlußfolgert. Damit haben wir den letzten Grund der Grund aller Gründe: der Affirmation der herrschenden Zustände der Ubiquität und Perennität von Krieg, Aggression wie von Macht und Ungleichheit.

In jenem Brief an Einstein (bei dieser Gelegenheit) benützt Freud aber das selbe Argument des „niemals beseitigt sein werden“ nicht nur für die „menschliche Aggression“ sondern zugleich auch für die gesellschaftliche Ungleichheit. Auch diese sei „nicht zu beseitigen“, weil „angeboren“. Freud behauptet tatsächlich, es sei angeboren, „daß sie in Führer und Abhängige zerfallen“. “Die letzteren sind die übergroße Mehrheit, sie bedürfen einer Autorität, welche für sie Entscheidungen fällt, denen sie sich meist bedingungslos unterwerfen“. [xii] Wieder haben wir die Behauptung, etwas (dies) sei „nicht zu beseitigen“. Mit dieser Behauptung kommt Freud dem imanenten Zusammenhang zwischen Grausamkeit und Ungleichheit gefährlich nahe: Man könnte wohl sagen: solange die Ungleichheit nicht beseitigt sein wird, wird auch die Grausamkeit nicht zu beseitigen sein. Und auch: gegen die (Versuche der) Beseitigung der Ungleichheit tritt die Grausamkeit auf den Plan(Niederschlagung der Revolten). Nur: so ist das bei Freud nicht gemeint. Er sagt ausdrücklich, es sei eine „Illusion“, zu glauben, „die menschliche Aggression zum Verschwinden bringen [zu] können“ durch „die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse“ und Herstellung der „Gleichheit unter den Teilnehmern an der Gemeinschaft“ (23). Natürlich hat sich Freud damit in heillose Widersprüche verwickelt: wenn er behauptet daß sowohl die Ungleichheit zwischen (zwischen „Autorität“ und „Abhängigen“) nicht aufzuheben sei, weil ebenso „angeboren“ wie die Gleichheit (der Triebgrundlage - „unter den Teilnehmern an der Gemeinschaft“), die der Grund der Gewalttätigkeit (sowohl von „Autorität“ wie von „Abhängigen“, des Staates wie der Einzelnen) sein soll. Aber diesen Widerspruch nimmt er wohl in Kauf weil er sich des Arguments der „Unaufhebbarkeit“ versichert hat.

Es gehört zum Diskurs der Macht, daß sie als „unaufhebbar“ dargestellt wird. Freud trägt seine Argumente zu diesem Diskurs der Macht bei: das Argument der „Unaufhebbarkeit“ der „Triebtheorie“. Indem die Aggression als „unaufhebbar“ erklärt wird, wird dies auch die Macht das fundamentum in re der Triebtheorie und zugleich ihre „Agenda“: die Bedingungen der Entstehung von Aggression von der Macht zu verschieben auf die (Triebgrundlage der) Subjekte = Unbewußtmachung der Entstehung von Aggression(der Unterdrückten gegen die Unterdrückung, gegen die Macht durch die Unbewußtmachung ihrer Gründe: Macht und Herrschaft (der Aggression der Unterdrücker gegen die Unterdrückten).

Also doch wieder: das Phantasma - nicht der „guten Macht“ sondern der Macht schlechthin, ihrer Unaufhebbarkeit. Phantasma der vielleicht doch wieder guten Macht indem dieser Macht die „zivilisatorische“ Aufgabe der Zähmung der aggressiven Triebe zugewiesen wird “eines der Hauptprobleme der Kultur“ (1930).

Umgekehrt:

Macht produziert erst das „Hauptproblem der Kultur“ das sie zu bewältigen sich als berufen darstellt: Sie schafft die Aggressivität, Gewalttätigkeit Aggressivität der Unterdrückten ebenso wie die Aggressivität der Herrschenden sie schafft die Aggressivität der Unterdrückten indem sie Unterdrückte produziert- Abhängigkeit, Armut, Hunger, Elend und Not - und die Unterdrückten wehren sich dagegen und diese Unterdrückung nimmt selbst die Gestalt von Aggression an ihr eigenes Streben nach Macht wie das der Unterdrückten(man muß nur einen Blick auf die gegenwärtigen Herde von Unterdrückung und Krieg werfen: 40 an der Zahl. [xiii] Aber gerade deshalb stimmt es auch, daß Macht „notwendig“ ist:“ die übergroße Mehrheit“ bedürfe „einer Autorität, welche für sie Entscheidungen fällt...“. [xiv] Die Macht (Autorität) erfüllt auch Funktionen für die Unterlegenen (anders würde sie sich nicht auf Dauer halten können)aber das heißt nicht, daß sie unverzichtbar wäre daß nicht die Menschen, Bürger, Unterlegenen, diese Aufgaben selbst übernehmen könnten. Die „Mehrheit“ bedarf ihrer wegen jener, von der Macht erst produzierten Folgen- um der Aggressivität der Unterdrückten wiederum zu unterdrücken, - die Zerstörung (der Kultur) wieder zu „reparieren“, kompensieren daß sie dabei Kulturleistungen hervorbringt (aber wer bringt sie tatsächlich hervor? wer hat das 100-torige Theben erbaut, fragt Brecht) die die vorher zerstörten übertreffen- wenn man den Barock der jesuitischen Restauration großartiger finden mag, als die Renaissance und Gotik der zerstörten Städte vorher oder den Barock der Reconquista schöner als die maurische Gotikoder schöner als die Maya-Tempel(alles übrigens selber „Leistungen“ einer Macht) den großen „zivilisatorischen Leistungen“ der Machtgehen die Enteignung der Subjekte von ihrer eigenen Macht über sich selbst, über ihre Fähigkeiten voraus.

Macht ist also „notwendig“ nachdem sie auf den Plan getreten ist nachdem sie zerstört hat, was sie vorfand nachdem sie die Subjekte ihrer eigenen Macht enteignet hat. Und indem sie „neu“ aufbaut, was sie vorher zerstört hatte indem sie den Subjekten „zurückgibt“, was sie ihnen vorher genommenist sie „notwendig“, erbringt sie „notwendige“ „Kulturleistungen (ohne die Macht hätten die - vorher enteigneten - Subjekte sie nicht: ohne Hitler keine Autobahnen). Aber die Macht gibt den Beherrschten nicht alles zurück was sie ihnen genommen hatte ihre „Gaben“ sind nicht der bloßen Notwendigkeit der Kompensation vorheriger Zerstörung von Kulturleistungen geschuldet, sondern immer zugleich dem eigenen Interesse an einem „Surplus“: Die Macht behält von dem was sie den Beherrschten gibt ihren Tribut ein: an Reichtum, Freiheit. Den die Macht für den weiteren Ausbau ihrer Macht verbraucht indem sie damit ihre Macht vergrößert, vergrößert sie zugleich auch die Ohnmacht der Unterworfenen.
Macht produziert (weitere) Macht, Vergrößerung der Macht (und damit Ohnmacht der Beherrschten)das ist zugleich ihr „Sinn“, der „Sinn“ der Macht, darin liegt ihre „Notwendigkeit“ ihr „Gesetz“ ihr „Telos“. Ihr Ziel ist „sich als Allmacht zu realisieren“„Die Macht beschränkt sich nicht von selbst“. [xv]
die „souveräne“ Machtsouverän gegenüber den ihr Unterworfenenunabhängig von ihnen, von ihrem „Willen“(die Definition von Max Weber) [xvi] ungebunden durch ihre Gesetze und Organe“Zusicherungen und Verträge“. Diese „Emanzipation der Macht“ ist aber zugleich ein nie erreichtes Ziel sie muß den „Willen“ der Bevölkerung „berücksichtigen“(was nicht heißt ihm zu folgen, sondern ihn „interpretieren“ ihre Handlungen als die Erfüllung des Willens der Bevölkerung darstellen ihre Handlungen der Bevölkerung „verständlich machen“ und damit letztlich: den Willen der Bevölkerung „mit“ gestalten, formen, allererst herstellen. Dies: die Herstellung der - zustimmenden - „Mehrheit“, des „Willens“ der „Bevölkerung“(und damit zugleich die Herstellung von „Bevölkerung“ selbst)durch dessen Berücksichtigung gleichzeitige Berücksichtigung dessen, was die Macht vorher hergestellt hatte ist die Funktion des politischen Diskurses des Diskurses der Machts eine „performative“ Funktion.

In diesem Diskurs spricht die Macht nicht nur mit 1 Stimme: denn die „Bevölkerung“ besteht nicht aus nur einem Ohr (Klassen)es geht darum, sie alle anzusprechen sich allen verständlich zu machen, ihren Willen formend zu berücksichtigen (wenn gleich die Vielfalt der Stimmen auch die Rivalität der Machtgruppen zum Ausdruck bringt die natürlich auch miteinander - um die Gunst des Wählers buhlen - sie verlassen jedoch nie die „Gemeinsamkeit der Demokraten“ den „Grundkonsens“ der Macht - und wenn sich einer anbietet, dem man diesen Vorwurf machen könnte wird an ihm vorgeführt, wie es denen geht, die dies wagen sollten. Es geht darum die Bevölkerung einzuschüchtern indem man der Opposition eins aufs Dach gibt. In dieser Inszenierung von Differenz und Opposition(die „Opposition ihrer Majestät)wird die „fundamentale“ Differenz zwischen Macht und Unterworfenen “versteckt“ das Grundprinzip des Diskurses der Macht (Bourdieu: „Verstecken durch Zeigen“). [xvii]

Verstecken durch Zeigen auch das Prinzip des Freudschen Diskurses(?) Er zeigt uns: unsere Aggressivität als Triebbestimmter versteckt damit: ihre Machtbestimmtheit.Die Funktion des Phantasmas der Macht: die Realität der Herrschaft unbewußt zu machen.

Verstecken durch zeigen: als Prinzip des Diskurses d Macht und zwar seiner performativen Funktion der performative Akt stellt das her, was er behauptet indem er es behauptet. Prinzip der Macht selbst, ihrer Ausübung, ihrer Erweiterung die Macht stellt sich dadurch her daß sie behauptet, sie übe ihre Macht aus: “Performanz“ der Macht. Die Behauptung wird aber nicht durch sich selbst realisiert sondern dadurch, daß sie „geglaubt“ wird - von denen, die sich der Macht unterwerfen. Sie unterwerfen sich der Macht, indem sie ihrer Behauptung Folge leisten(die Abhängigkeit der Macht vom Willen ihrer Bevölkerung). Nicht „Macht“ und „Ohnmacht“ sind die beiden Positionen, Haltungenim (Sprach)Spiel der Performanz der Machtsondern Macht und UnterwerfungBehauptung der Macht und Akzeptierung der Behauptung. Für die Entscheidung zur Akzeptierung(denn es ist eine Entscheidung: es gibt im Sprachspiel der Behauptung ja immer auch die andere Möglichkeit: die der Verweigerung der Akzeptierung). Für die Entscheidung zur Akzeptierung muß es Gründe geben. Diese zu liefern ist die Aufgabe des Diskurses der Macht(damit bleibt der Sich-Entscheidende im Sprachspiel diese Diskurses)aber zugleich ist es „nur“ ein Spiel: das Spiel mit Begründungen (nicht von Gründen). Seine Entscheidung ist - meist - (anderen) Gründen zu verdanken: jenseits des Sprachspielsnämlich: der „Lebenswelt“ in unseren (westlichen, kapitalistischen) Gesellschaften liefert der Markt, die Teilhabe am Konsum (samt den damit verbundenen „kulturellen“ Bedeutungen) die Gründe für die Akzeptierung der Behauptung der Macht (Brückner [xviii] )“die materiellen Gratifikationen für die Zustimmung zum System“ (120).
Umgekehrt: bleiben diese aus, wenn der Markt sich aus den Lebensgeländen zurückzieht, wenn in der Krise sichtbar wird, wenn Anteile der Bevölkerung überflüssig, existenzlos geworden sind dann bildet sich auch der Konsens, die Zustimmung zum System zurück (120). Die Begründungen (die der Diskurs der Macht anbietet) sind also Rationalisierungen (für die durch die Teilhabe am Konsum und mit dieser gegebenen Zustimmung der Bevölkerung zum Diskurs der Macht, zur Macht selbst Ihre Funktion ist also: diese Gründe unbewußt zu machen. Unbewußtmachung: die Funktion der Argumente des Diskurses der Macht (Ebenso wie des Phantasmas der Macht).

Wir haben also 2 Ebenen die „offiziellen“ („öffentlichen“) Begründungen des Verhaltens(Diskurs der Macht), „was man so sagt“ und dessen inoffizielle, „private“ (nicht veröffentlichte, nicht diskutierte, „unbewußte“ oder verleugnete Gründe (individuelle Motive), „was man nicht sagt, nicht sagen darf“
Im vorliegenden Kontext liegt es nahe diese 2 Ebenen mit der Macht in Verbindung zu bringen die Macht „zwingt“ zum Verschweigen, Leugnen, zur Lüge, zur Täuschung, zur „Unbewußtmachung“ oder andersherum, dies ist der Versuch der - Beherrschten - Subjekte im Angesicht der Macht zu leben (als Subjekte)so zu tun, „als ob“. Man könnte das die „binäre“ Struktur des Sprechens nennen sie durchzieht das gesamte begriffliche Denken bzw. man könnte den „Dualismus“ dieses Denkens auf die Notwendigkeit der Verdopplung angesichts der Macht zurückführen wenn gleich dieser Bezug zur Macht mehr oder weniger explizit ist. Marx hat diese Verdopplung in den Begriffen „Tauschwert“ und „Gebrauchswert“ als Bestimmung des „Doppelcharakters der Ware“ gefaßt. Auch Freuds Denken greift diese binäre Struktur auf Bewußt - unbewußt Lust-Prinzip - RealitätsprinzipLebensprinzip - Todesprinzip. Warum hat er im Fall der Macht diesen Dualismus preisgegeben? Dualismus von gesellschaftlicher Macht (Verhältnis) und persönlicher (Macht-Beziehung). Man könnte einwenden: Freud habe das „entweder-oder“ des binären Denkens ersetzt durch das „sowohl-als auch“ der „Ambivalenz: das Lustprinzip setzt sich nicht gegen sondern nur mit Hilfe des Realitätsprinzips durch; wie sich gesellschaftliche Macht durchsetzt indem sie sich der persönlichen Macht bedient(wie umgekehrt persönliche Macht innerhalb der Strukturen der gesellschaftlichen agiert). Aber: Freud negiert diese Differenz, bringt sie zum Verschwinden.Es ist auch festzuhalten, daß die Macht das binäre Denken herstellt, die Spaltung der Gesellschaft in Klassen. Das Phantasma der Macht besteht ja gerade in der Negierung dieser Differenz(die - persönliche - Macht - des Vaters wird in das gesellschaftliche Machtverhältnis des Kaisers „übertragen“) das gesellschaftliche Verhältnis zu reduzieren auf die eine Dimension der persönlichen Beziehung. Warum hat er, nachdem er dieses Phantasma durchschaut hatte den Mechanismus des Phantasmas, sein „Argument“ beibehalten? persönliche Macht-Beziehung und gesellschaftliches Macht-Verhältnis in eins gesetzt? diese Differenz verleugnet, zum Verschwinden gebracht (in der „uns allen gemeinsamen“ Triebgrundlage) und die Rolle der Macht verkehrt die in ihr festgestellte „Monopolisierung des Unrechts “zu ihrer „zivilisatorischen“ Funktion (v)erklärt(sie müsse diesen Trieb zähmen):die Legitimation der Macht, ihres Gewalt-Monopols.

Eine Erklärung wäre in der Macht selbst zu suchen daß sie selbst den Doppelcharakter(des Diskurses, die Differenz von Begründung und Grund) zum Verschwinden bringt. Marx: der Gebrauchswert verschwindet hinter dem Tauschwert die - persönlichen - Beziehungen nehmen den Charakter, die Qualität von - abstrakten - Verhältnissen an, den Charakter von Macht-Verhältnissen. Die Vergrößerung der Macht bedeutet zugleich, (geschieht zugleich durch) ihr Eindringen in bisher „machtferne“ Bereiche (Brückner) Bereiche des Sozialen („civil society“), der Familie, des Privaten, der Beziehungen. Sie pfropft sich sozusagen auf die ihr zugrundeliegenden gesellschaftlichen Prozesse Sie prägt ihnen ihre Macht-Form aufbringt sie als Macht-Prozesse hervor als durch die Macht hervorgebrachte Prozesse und ihre Produkte als Produkte der Macht. Damit verändert sie deren Charakter sie macht aus dem Mittel zur Reproduktion des Lebens ein Mittel zur Reproduktion der Macht sie macht aus den Leistungen der Kultureinen Ausdruck (der Darstellung, Repräsentation) der Macht („Ästhetik der Macht“) (Autobahnen sind nicht einfach breite Straßen für viele Autos) sie macht aus der persönlichen Beziehung ein Verhältnis der Macht. Macht zieht nicht nur den Mehrwert ab den sie für die Erweiterung ihrer Macht verbraucht Sie geht bereits in die Form der von ihr geschaffenen Kulturleistungen und Beziehungen selbst ein, bestimmt diese, verändert ihre Gestalt, ihre Bedeutung, diese nehmen die Aufgabe, den Geist der Macht in sich auf. Es verschwindet die Differenz (von Beziehung und Verhältnis)in der einen Dimension der Macht (Verhältnis)die gesellschaftlichen Prozesse, die persönlichen Beziehungen in ihrer Eigenständigkeit selbst werden zum Verschwinden gebracht. Der „Inhalt“ (der „Beziehungen“) verschwindet hinter der „Form“ (der Macht) Verhältnisse Die „Form“ macht sich selbständig, „emanzipiert“ sich - „Emanzipation“ der Macht“ (Brückner) es gibt nur noch Macht, weil alles nur noch Macht ist. „Alles“ scheint Macht zu sein scheint es nur noch Macht zu geben„überall“: „auch in den persönlichen Beziehungen“ „gibt es“ Macht Macht gibt es „immer“ (was „überall“ ist, war auch schon „immer“). Macht ist „notwendig“ (was schon „immer“ war, ist auch „notwendig“). Macht ist „gut“ (was „notwendig“, ist auch „gut“: vernünftig: Hegel). Damit sind wir bei der Affirmation der Macht durch das Denken der Macht und damit zugleich des Freudschen Denkens das darin seinen Grund hätte: in der Emanzipation der Macht.

Gleichzeitig ist diese „Emanzipation der Macht“ bloßer „Schein“ der Schein, der sich selbstständig gemacht hat: Simulkar um (Baudrillard) [xix] weil Macht auf Zustimmung der Subjekte angewiesen ist Deshalb immer auch Ablehnung, Verweigerung (Widerstand) offen läßt. Und insofern handelt es sich tatsächlich um Affirmation, Zustimmung zum Diskurs der Macht die Emanzipation der Macht zu denken. Die Macht „zwingt“ sie dazu (zur Zustimmung), will sie zwingen aber die Subjekte müssen trotzdem ihre Zustimmung geben zu den Argumenten des Diskurses der Macht. Indem sie diesen zustimmen, sie übernehmen “unterwerfen“ sie sich ihnen - „freiwillig“ “wider besseres Wissen“ - das sie „verdrängen“ “unbewußt machen“. Sie „subjektivieren“ sich (Foucault) [xx] machen sich zu „Subjekten“ der Macht der Macht „unterworfene“ (assujettierte). Insofern stellt sich im Diskurs der MachtSubjektivität der Subjekte erst her (Foucault). Aber es ist das Ergebnis der Zustimmung der Subjekte die ihre Subjektivität bildet Und des „Vergessens“ dieser Zustimmung sie vergessen, daß sie es selbst waren, die zugestimmt haben. Und: sie „vergessen“ die Gründe, aus denen heraus sie zugestimmt haben machen sie „unbewußt“ die Gründe hinter den Begründungen.

Zustimmung zum Diskurs der Macht Das Thema Adlers - des ersten Dissidenten im Kreis um Freud: Wir haben bei Adler die Theorie des - kompensatorischen - Machtstrebens aus Ohnmachts- („Minderwertigkeits-“) gefühlen. Dieses Streben nach Macht und Überlegenheit ist natürlich eine Affirmation der Macht Zustimmung zum Diskurs der Macht die selbst das Gefühl der Ohnmacht erst produziert das mit der Zustimmung zu ihr überwunden werden soll. Die vielfältigen Strategien mit denen wir versuchen das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden die meist nur zum Ergebnis führen, uns unsere Ohnmacht zu verbergen, die Kniffe der Selbsttäuschung, Verkennung, Tarnung der Lüge, das so tun als ob, der Selbstdarstellung, Verstellung des sich über andere Erhebens, des andere Entwertens, was uns das Gefühl gibt, ihnen überlegen zu sein das Gefühl, stärker, mächtiger als sie zu sein Macht über sie zu haben. Diese Strategien, die meist damit verbunden sind, den anderen zu kränken, demütigen, verletzen diese Aggression ist für Adler nichtig einem Aggressionstrieb verankert sondern gerade in dem Gefühl der Ohnmacht, Unterlegenheit, Schwäche, das durch sie überwunden werden soll (Kompensation). Die “Hauptaufgabe der Kultur“ wäre danach also nicht „die Zähmung der aggressiven Triebe“ (wie bei Freud 1930) sondern (des Gefühls) der Ohnmacht.
Nichts scheint näherliegend als die Macht für dieses Gefühl der Ohnmacht verantwortlich zu machen die Tatsache der Macht (des einen) schaffe (beim anderen) dieses Gefühl der Ohnmacht. Ebenso wie sie (es) das (kompensatorische) Streben nach Macht anstachelt, entstehen läßt Die Macht bietet das Vorbild für die Überwindung des Gefühls der Ohnmacht(im Gefühl von Macht). Am Beispiel des Krieges - es war ja bereits der Ausgangspunkt unserer Überlegungen - läßt sich die Ohnmacht derer, die dem Diskurs der Macht zustimmen, sich ihm unterwerfen am überzeugensten zeigen, zeigt der Diskurs der Macht sich da doch in seiner „machtvollsten“ Dimension. Wir haben von Adler eine entsprechende Arbeit: “Eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes - am 1. Weltkrieg“: „Die andere Seite“

Adlers Behauptung:
Nicht aus Sympathie, oder aus kriegerischen Gelüsten [...] sei es in den Krieg gezogen, sondern als „Opfer einer falschen Scham“ (13). Zur Schlachtbank gezerrt, gestoßen, getrieben sah es sich in tiefster Schande aller Freiheit und Menschenrechte beraubt (15) versuchte aus der Schande seiner Entehrung sich unter die Fahne seines Bedrückers zu retten (16) und tat so, als ob es die Parole zum Krieg ausgegeben hätte (15). Nun waren sie nicht mehr gepeitschte Hunde, die man gegen ihren Willen dem Kugelregen preisgab, - nein, Helden waren sie, Verteidiger des Vaterlandes und ihrer Ehre! In dieser seelischen Befreiung vom Gefühl tiefster menschlicher Erniedrigung und Entwürdigung, in diesem krampfhaften Versuch, sich selbst wieder zu finden, wichen sie scheu der Erkenntnis aus, nur armselige Opfer fremder Machtgelüste zu sein und träumten lieber von selbstgewollten und selbstgesuchten Heldentaten. [...]
Nicht träumten sie von eigenen Heldentaten statt sie zu vollbringen sie träumten, während sie sie vollbrachten was - jedenfalls zu diesem Zeitpunkt Heldentaten genannt wurde. „Traum“ und „Wirklichkeit“ stimmten überein Der Traum, das Denken der Subjekte hat den Diskurs der Macht „geschluckt“ den Gott des Generalstabs, und der spricht aus ihm (13). Nun hatte er wenigstens einen Haltund war der Schande und des Gefühls seiner Erbärmlichkeit ledig (15). Das Gefühl der Ohnmacht die beschämende Erkenntnis, nur armseliges Opfer fremder Machtgelüste zu sein nur den Willen der Macht auszuführen wird durch das Gefühl von eigener Macht abzuwehren versucht die die Zustimmung zum Diskurs der Macht verschafft. Verleugnet wird allerdings (dann) auch das Streben nach Machtin der „Gegenfiktion“ des „Strebens nach Vollkommenheit“ für Ehre, Recht und Vaterland. Die Verleugnung: der Realität der Macht durch die Beherrschten: sie ist zugleich auch das letzte Stadium der Herrschaft. [xxi] Sie ist nicht „Ohnmacht“ vielmehr ist Ohnmacht die Verleugnung der Zustimmung zum Diskurs der Macht: selbst eine „Fiktion“. Das „letzte Stadium der Herrschaft“ ist zugleich auch: der Krieg Herrschaft, Macht im Register der Gewalt Ohnmacht ist hier keine „Fiktion“ mehr. Aber der Krieg ist: die „Fortsetzung der Politik (des Diskurses der Macht) mit anderen Mitteln“ oder, wie Foucault umkehrt: „Die Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“. [xxii]

Der „Krieg“ - damit sind wir wieder am Ausgangspunkt meines Vortrags - der heute geführt wird wir sind Zuschauer bei diesem Kriegwir fühlen uns als Zuschauer. Aber er hat auch zugleich eine „Botschaft“ für uns. „Gladiatorenkämpfe“ sagte ich vielleicht ist das Bild Freuds besser geeignet, unsere Position und Rolle zu charakterisieren:„Ein Kind wird geschlagen“ (Freud) [xxiii] - womit wir wieder beim Anfang mit Freud angelangt wären. Wir sind nicht in der Position des geschlagenen Kindes wir schauen zu die Botschaft an uns: diejenige, die uns zur Zustimmung - zur Macht - bewegen soll und kann:„Wir“: die „Bevölkerung“ der „Metropolengegenüber: der Bevölkerung der islamischen Welt(bzw. jener Welt, aus der die Greuelmeldungen von Hunger, Elend, Krieg und Tod tagtäglich zu uns gebracht werden).
Wir: die Intellektuellengegenüber den blöden Bild-Lesern, unsere Köpfe stecken hinter anderen Zeitungen, wir, die FAZ-Leser, die alles durchschauen, mit dem blasierten Blick, der sich nicht engagiert wir, die mit dem besseren Geschmack Wir: der „Adel“ am Hof der Macht. Unsere Zustimmung zur Macht ist nicht die direkte, sie ist indirekt.

Klaus-Jürgen Bruder

Die Selbstfreisetzung des Ich in der Metapher seiner Auflösung:
William James' „Strom des Bewußtseins"

Zusammenfassung
Der „Strom des Bewußtseins" ist das zentrale Konzept der „Principles of Psychology" von William James. Er gilt zugleich als Ausdruck der „Auflösung des Ich" im fin de siècle. Der folgende Beitrag arbeitet, unter Rückgriff auf Biographie und zeitgenössische Diskussion, die Bedeutung des Konzepts des „Bewußtseinsstromes" innerhalb der Psychologie William James' als erfahrungsmäßige Grundlage (der Einheit) des Ich sowie seiner Befreiung aus den Einschränkungen der substantialistischen Theorien heraus.

Summary
The "stream of consciousness" is the central conception of "Principles of Psychology" by William James. At the same time it may be considered as an expression of "disintegration of the 1" during the fin de siècle. Resorting to James' biography and the then contemporary discussion, thefollowing article attempts to acquire the significance of the concept of the "stream of consciousness" within the psychology of William James. lt is referred to as an empiricalfoundation (of the unity) of the I, as well as its liberationfrom restriction of substantialistic theories.

1.1 William James' (1842-1910) „Principles of Psychology" (1890) sind unbestritten die Darstellung der Summe der Psychologie seiner Zeit. Das darin an zentraler Stelle entfaltete Konzept des „stream of consciousness" könnte, so scheint es, zugleich als kongenialer Ausdruck der intellektuellen Stimmung dieser Zeit — des fin de siècle — verstanden werden, die die „Auflösung des Ich" thematisierte, des „unrettbaren Ich", wie der vier Jahre ältere Ernst Mach für das Wiener fin de siècle formulierte, dessen „Strom von Empfindungselementen" seine unmittelbare Entsprechung in James' „stream of consciousness" zu finden scheint. Die große Bedeutung dieser Metapher für die Literatur und vor allem für die Literaturtheorie des fin de siede scheint diese Einschätzung zu bestätigen.
Lears hat vor einiger Zeit eine Analyse des Zeitgeistes dieser Jahre vorgelegt, in der er ein amerikanisches fin de siècle herausarbeitet, in dem auch William James seinen Platz findet. Er charakterisiert das Bewußtsein der Zeitgenossen mit den Begriffen der Desorientierung und Anomie. Ergriffen vom Gefühl der Unwirklichkeit und „weightlessness" habe sich das Ich in „endloser Selbstananlyse" aufgelöst, „over-sophisticated and effete". Lears sieht in dieser Desorientierung einen Reflex auf die „Transformation der visuellen Umwelt" der Stadt. Ähnlich wie in Europa waren nach dem Sezessionskrieg (1861-65) die traditionellen Formen der Architektur und Dekoration aufgelöst worden, der „colonial style" der Vorkriegszeit sei duch die unterschiedlichsten „revivals" in einem „riot of eclectizism" ertränkt worden (Lears 1981, 33), Ausdruck der „kulturellen Konfusion" der Zeit, die kein „kohärentes Vokabular der Symbole mehr besaß. Giedion (1969, 329) spricht von „devaluation of symbols". Indem die Architekten die Symbole aus ihrem Bedeutungszusammenhang lösten, haben sie diese auf bloß dekorative Accessoires der Selbstdarstellung reduziert, auf „commodities" für den Markt der zahlungsfähigen Geschmäcker. Diese Transformation der visuellen städtischen Umwelt reflektierte nicht nur die „kulturelle Konfusion", sondern verstärkte sie zugleich, schuf ein Gefühl diffuser „Unwirklichkeit", das auch das Ich ergriff.
Aber der Grund für diese Auflösung — des „Vokabulars der Symbole" wie des Ich — liegt in sozialen Veränderungen, der Auflösung der traditionellen — „idyllischen" (Marx u. Engels 1848, 464) — Verhältnisse durch die — kapitalistische — Industrie mit ihren Folgen der Produktion — städtischer — Massen, abhängiger Konsumenten, der Auflösung aller Beziehungen in die „gefühllose ,bare Zahlung` , der „persönlichen Würde in den Tauschwert". Eine Ware wie jede andere, versuchte sich das Ich durch den Konsum von Waren Identität zu verschaffen — und löste sich auf. Es wurde der Kern seiner Identität getroffen: das Selbstbewußtsein des autonomen Individuums, durch die Erfahrung und das Bewußtsein der Abhängigkeit von Umständen, die außerhalb seiner Kontrolle und seines Einflusses lagen. „We are the poor relations of every conceivable circumstance", schrieb eine Zeitgenossin (Louise Imogen Guiney 1897, 31). Der menschliche Charakter erschien als determiniert durch Kräfte jenseits seines Bewußtseins. Dieser Determinismus höhlte die Zitadelle der viktorianischen Moral aus: den individuellen Willen. „Physical and moral life began to seem suffocating, in their ease, weightless in their lack of significance" (James 1902, 239). Aus diesem Gefühl von „weightlessness" suchte das Ich in einem „cult of experience" (Lears, 117 f) sich seiner Wirklichkeit zu vergewissern. Als „cult of violence", der Verherrlichung des Kampfes und des — mittelalterlichen — Kriegers ist er zugleich Ersatz für verlorengegangene Möglichkeiten, sich im Kampf — gegen die Natur (wie gegen die Indianer) — zu „bewähren", wie Ausdruck des gesellschaftlich realen Kampfes ums Überleben des Stärkeren (Holmes 1884, 1895), der realen gesellschaftlichen Anforderungen von „mastery and control" (Lippmann 1914, Ross 1901).
Die Anpassung an die wechselnden Anforderungen der cirumstances wurde zu einer Frage des „survival of the fittest" (Spencer), der neuen "Moral"; höchste Sensitivität gegenüber den Erwartungen anderer eine notwendige Kompetenz des Ich. Das autonome Selbst schien zu zerfallen in eine Ansammlung von Masken, von „sozialen Rollen", entsprechend den Bedürfnissen und Forderungen anderer. „Ein Mensch besitzt ebenso viele social selves wie es Individuen gibt, die ihn kennen und die ein Bild von ihm in ihrem Kopf haben", schrieb William James lange vor Mead (1890, 281).

1.2 Als Spiegel seiner Zeit, der Auflösung des Ich, werden auch die Arbeiten von James gesehen. „Zur Zeit der 'Principles' von William James hat sich das Ich, das bis dahin eine Einheit gewesen war und den Charakter des Substantiellen trug, aufgelöst in ein geistiges', ein 'materielles' und ein 'soziales' Selbst" (Verhave & van Hoorn 1977, 146). „Im weitesten Sinn ... ist das Selbst eines Menschen die Gesamtsumme all dessen, was er sein nennen kann, nicht nur sein Körper und seine psychischen Kräfte, sondern ebenso seine Kleider und sein Haus, seine Frau und seine Kinder, seine Vorfahren und seine Freunde, seine Reputation und seine Arbeiten, sein Grundbesitz und seine Pferde, seine Yacht, sein Bankkonto" (James 1890, 279 f). Wir scheinen hier tatsächlich jene Ansammlung von „commodities", Besitztümern, Beziehungen und Projekten vor uns zu haben, in die sich das Ich jener Zeit aufzulösen beginnt, wenn wir nicht den Ausdruck „Gesamtsumme" (sum total) hätten. Es geht, wie zu zeigen sein wird, nicht um die Auflösung, sondern um die Einheit. Die „unity of consciousness" ist das Thema der Principles. Was James mit „sum total" meint, wird durch den von mir oben weggelassenen Satz, mit dem die Passage abschließt, deutlich: „All these things give him the same emotions." Alle die Dinge, die ich meine nenne, rufen in mir das gleiche Gefühl hervor. Dadurch verweisen sie auf die Realität eines Ich, das betroffen ist, wenn sie tangiert sind. Ich fühle mich verletzt, beschämt, glücklich, stolz. Und es ist immer dasselbe Ich betroffen. Und dieses Ich bleibt dasselbe über die Zeit „I am the same self that I was yesterday" (316). Von dieser Gewißheit der „Identität" des Ich ausge- 10 Psychologie und Geschichte William James' „Strom des Bewußtseins" hend, wendet sich James gegen das „drängende Bedürfnis" nach Substantialisierung des Ich in ein „Arch-Ego", in eine „unchanging metaphysical entity like the ,Soul or a principle like the pure Ego, viewed as ,out of time"' (379). Er beruft sich dabei zunächst nicht auf die Erfahrung (seiner Zeitgenossen), sondern auf den Empirizismus Humes (und Herbarts und Lotzes). Dieser habe die metaphysische Substantialisierung des „Arch-Ego" überwunden und dadurch das Ich zu einem „empirical and verifiable thing" gemacht (319). Er habe sich jedoch zugleich von der Erfahrung des Ich entfernt, indem er es aufgelöst habe in ein „aggregate of separate facts" (319). Das Ich, das die Tatsachen des Bewußtseins erfährt, apperzipiert, könne nicht selbst ein solches Aggregat von Tatsachen sein (379). „There must be an agent", der die Dinge erfährt, feststellt, fühlt und der sich dabei als derselbe erlebt, „an agent of appropriating and disowning". Soweit stimmt James dem „drängenden Bedürfnis" zu. Aber, wendet er gegen dieses ein, dieser „agent" muß nicht ein „substantial owner" sein. „Wir können diese Erscheinung der ,never-lapsing ownership' auch ausdrücken, ohne Zuhilfenahme jener Hypothesen, die dem common sense so lieb geworden" (321).
Jener „agent" ist das Denken selbst. „Es ist das 'Denken' (Thought), das die verschiedenen 'Konstituenten' (des 'me') kennt. Dieses Denken ist ein Vehikel der Wahl ebenso wie der Kognition" (323). „Unser 'Denken' . . . ist .. . selbst der einzige Denker, den die Fakten erfordern." „Eine Aufeinanderfolge vorübergehender Gedanken, ausgestattet mit der Funktion der Aneingung und Zurückweisung," (324) sei die ausreichende (psychologische) Darstellung der Erfahrung der Identität des Ich. „Es gibt keine andere Identität als die im 'Strom' des subjektiven Bewußtseins ... " (319).

1.3 Dieser „Strom des Bewußtseins" ist für James die der unmittelbaren Erfahrung gegebene Realität, auf die das Ich sich stützen kann. Wenngleich die Metapher des fließenden Stromes ihre historischen Wurzeln hat — Ruddick (1982) verfolgt sie in die Romantik zurück — , so wissen wir von Bjork (1983), daß sie für James unmittelbar verknüpft ist mit — ästhetischer — Erfahrung. Bjork berichtet von James' entscheidender Erfahrung während seines zweiten Aufenthaltes (1868) in Dresden, wo er immer wieder die berühmten Kunstsammlungen besuchte. Stundenlang vertiefte er sich in die Betrachtung der Werke der alten Meister und der Zeitgenossen. Dabei beeindruckte ihn die vollendete Harmonie der klassischen Werke. Trotz ihrer Beschädigung gab es nichts, was diese Harmonie störte, nichts was dem Blick des Betrachters gegen seinen Willen Zwang auferlegte, ihn in eine bestimmte Richtung lenkte; Ganz im Unterschied zu den Werken zeitgenössischer Kunst. Sie lenkten den Blick, sie zwangen ihn immer wieder auf einen bestimmten Punkt zurück. Würde man diesen entfernen, so wäre das ganze Werk zerstört. Die innere Harmonie, die von den ersteren ausgehe, sei der Tatsache zu verdanken, daß sie den freien Fluß der Aufmerksamkeit des Betrachters gestatteten. Dieser sei es, der innehalte und aus dem Fluß heraushebe, was ihm bei den zeitgenössischen Werken aufgedrängt werde. Die innere Harmonie erschien James als Ausdruck der Übereinstimmung mit dem inneren Fließen des „Stroms des Bewußtseins". Dieser erschien ihm als der ursprüngliche Prozeß, die Lenkung von außen als sekundär. Sie setze sich an die Stelle der kreativen Aktivität des Betrachters. Der Schritt von der zeitgenössischen Kunst zur Philosophie und Wissenschaft der Zeit erschien James evident: auch sie lenken das Denken in vorgegebene Bahnen, mit Hilfe von Begriffen, die nicht der Erfahrung entstammten, sondern ihrem — abstrakten — System. Der „stream of consciousness", darauf erhalten wir hieraus den ersten Hinweis, ist für James nicht das, wofür man ihn halten könnte: Metapher der Auflösung (des Ich): in die „Aufeinanderfolge vorübergehender Gedanken", sondern Metapher für die Existenz und Realität eines von jeder Einschränkung durch theoretische Systeme, Begriffe unabhängigen (ur- sprünglichen) Bewußtseins. Mit dieser Vorstellung wendet er sich gegen die „metaphysischen" Konzepte sowohl der Auflösung des Ich in ein Aggregat isolierter Tatsachen als auch der Substantialisierung des Ich in eine Instanz oder ein von Zeit und Raum unabhängiges Prinzip als nicht der (ursprünglichen) Erfahrung entsprechend. Sie seien also nicht notwendig zur Erklärung psychischer Prozesse, sie schränkten das Denken, die Erfahrung ein.

1.4 Die Befreiung von diesen Einschränkungen war für James eine geradezu existentielle Frage, Notwendigkeit — wir kommen darauf zurück; der „Strom des Bewußtseins" ihr Unterpfand. Er ist auch die zentrale Vorstellung der „Principles", seiner Darstellung der Psychologie seiner Zeit. Ihr Ausgangspostulat ist, von der Erfahrung auszugehen. Alle Versuche, diese zu erklären — mit anderen als in der Erfahrung auffindbaren Konzepten: als Produkte tieferliegender Entitäten („Seele", „Transzendentales Ego", „Ideen", „Elemente") — übersteigen den Bereich der Psychologie als Erfahrungswissenschaft, seien „metaphysisch". „Strictly positivistic point of view" nennt James deshalb seine Sichtweise. Die antimetaphysische Stoßrichtung ist allerdings nicht nur (diejenige Comtes) gegen die (idealistische) Philosophie (der Aufklärung), sondern ebenso gegen die des britischen Empirismus, die in der zeitgenössischen Psychologie, vor allem in ihrer sinnesphysiologischen Grundlage, eine unhinterfragte Rolle spielte, intendiert. Beiden gegenüber heißt „strictly positivistic": nicht von theoretischen Vorannahmen auszugehen, sondern das empirisch Vorfindbare festzuhalten. Und „empirisch" heißt für die Psychologie: von der Erfahrung (des Subjekts) auszugehen. Die Erfahrung liefere uns nicht jene „Sinnesdaten" der „physiologischen" Psychologie (Wundts und auch Machs), vielmehr das Gefühl, das „Ich denke . . ." Dieser grundlegenden „Tatsache" der Erfahrung gegenüber sind die „Sinnesdaten" Ergebnis einer — theoriegeleiteten — Abstraktion; nicht weniger als die „Seele" oder das „Transzendentale Ego". Unsere unmittelbare Erfahrung lasse uns unser Denken und Fühlen, unser Bewußtsein als ununterbrochenes Fließen gewahrwerden. Aus diesem „Strom des Bewußtseins" heben wir einzelne Momente heraus (wie der Betrachter vor dem Kunstwerk), durch „selektive Aufmerksamkeit", entsprechend unseren Bedürfnissen, unseren praktischen und ästhetischen Interessen, abhängig vom Kontext, in dem wir uns befinden. Wir vernachlässigen dabei anderes, was ebenso in diesem Strom vorhanden ist.

Diese undifferenzierte Einheit und Kontinuität der unmittelbaren Erfahrung werde (erst) nachträglich, durch die reflektierende Rückbeziehung auf die vorausgegangene Erfahrung, zergliedert in einzelne Fragmente, durch Fokussierung, durch schärfere Beleuchtung, durch welche zugleich auch die Umgebung des Herausgehobenen ins Dunkel falle. Das so Herausgehobene benennen wir mit Begriffen. Mit ihrer Hilfe ordnen wir unsere Erfahrung, machen sie kommunizierbar. Aber wir zerstören damit zugleich ihre Unmittelbarkeit, ihren Zusammenhang mit dem Nichtsagbaren, also unsere Erfahrung selbst, ihre Einheit. Wir legen über unsere Erfahrung ein Schema (von Begriffen), eine — nachträgliche — Ordnung, die wir aber zugleich als unserer Erfahrung inhärent betrachten und die uns wieder als — objektive — Ordnung der Dinge entgegentrete: die einheitliche „erfahrene Wirklichkeit" werde zerlegt in „objektive Wirklichkeit" und „subjektive Erfahrung". In der einheitlichen „Erfahrung des Subjekts" gründe die Relativität aller — auch der theoretischen — Aussagen über „die Wirklichkeit". Sie seien gebunden an das Subjekt, woraus sowohl die Absage an den Absolutheitsanspruch von Theorien folge, als auch der hypothetische Charakter aller Feststellungen über „Tatsachen", die Möglichkeit ihrer Veränderung durch spätere Erfahrung.

1.5 Die Darstellungsweise der „Principles" besteht folgerichtig und konsequent darin, den Leser auf diese (seine) unmittelbare Erfahrung zurückzuführen. Doch indem James dies tut, tut er es auch in einer bezeichnenden Weise: „Jederman glaubt ohne Zögern gern dem Gefühl, daß er denkt, und jeder unterscheidet diesen 'mental state' als eine innere Aktivität oder Passion von den Objekten, auf die sich das Denken beziehen mag. Diesen Glauben betrachte ich als das grundlegendste Postulat jeder Psychologie" (1890, 185).

Das "Ich denke" ist mir durch das Gefühl gegeben. Hierin liegt seine intime Verbindung zu mir als mein Denken, von dem ich die Objekte (meines Denkens) unterscheiden kann. Das Gefühl, daß ich denke, diese „grundlegende Tatsache der Erfahrung" wird aber durch den Glauben relativiert, oder sagen wir besser. hergestellt. Diesen Glauben erhebt James zum Postulat der (seiner) Psychologie, und zwar „the most fundamental of all". Es ist also nicht das Gefühl das unmittelbare Datum der Erfahrung, von der die Psychologie auszugehen hätte, sondern der Glaube an dieses Gefühl (daß ich denke). Der „Positivismus" James' erhält also eine wesentliche Einschränkung durch den Glauben. Die Erfahrung ist nicht selbstverständlich gegeben, nicht gewiß, sie muß durch den Akt der Glaubensanstrengung gesichert werden. Wir werden sehen, daß auch der Glaube kein naiver, unproblematisch sicherer ist, sondern des Willens (zum Glauben) bedarf. Wir hatten gesagt, der „stream of consciousness" sei nicht die Metapher der Auflösung des Ich, Spiegelbild des Bewußtseins der Zeitgenossen, der „Unwirklichkeit des Selbst". Wir müssen jetzt hinzufügen, daß durch die Notwendigkeit, den Glauben zum grundlegenden Postulat der Psychologie zu erheben, doch jene Unsicherheit der Zeitgenossen hindurchscheint, die James durch den Glauben zu überwinden versucht. Nur durch den Glauben an das Gefühl wird dieses real, wird das Ich sich seiner Realität sicher. Es ist dies der Glaube an die „eigene individuelle Realität und schöpferische Kraft", von dem James in seinem Tagebuch (vom 30.4.1870) spricht (James Papers).

2.1 Der angedeutete Bezug zur Biographie James'läßt es sinnvoll erscheinen, daß wir uns nun dieser zuwenden, bzw. jenem Ausschnitt krisenhafter Zuspitzung, aus der ihn dieser Glaube an eine individuelle Realität befreite. Wir müssen dafür bis ins Jahr 1859 zurückgehen. Damals intervenierte der Vater in die Pläne des 17jährigen, Maler zu werden. Er hatte bereits Unterricht genommen, im Studio von William Morris Hunt in Newport. Der Vater, der mit dieser Wahl durchaus nicht einverstanden war, faßte den Entschluß, der Sache dadurch ein Ende zu setzen, daß er William nach Europa schickte. „Laßt uns dem ein Ende setzen . . . unter allen Umständen", äußerte er einem Freund gegenüber. „Ich hatte gehofft, daß seine Karriere eine wissenschaftliche sein würde" (zit. n. Perry 1935, I, 192). William konnte seinen Vater zwar von dessen Vorsatz abbringen, ihn nach Europa zu schicken, aber im Verlauf des Jahres hat er selbst seine Studien bei Hunt abgebrochen. „Es gibt nichts Traurigeres als einen schlechten Künstler."

Die nächste Intervention des Vaters sollte schon bald ihren Anlaß finden. Der Krieg hatte das Interesse der beiden Brüder William und Henry geweckt, beide wollten sich zur Armee der Union melden (1861). Wieder bestimmte der Vater „Ich packte meinen Willy und meinen Harry fest an ihren Rockschößen. Beide beschimpften mich über alle Maßen, weil ich sie nicht gehen lassen wollte" (zit. n. Edel 1953, 174). Beide Söhne erkrankten und erfüllten auf diese Weise Vaters Wunsch. (Statt ihrer gingen die beiden jüngeren Brüder Wilkonson und Robinson, mit Vaters Segen.) Nun legte William seinem Vater genehme Pläne vor er wolle Chemie, Anatomie und Medizin studieren und sich damit auf naturgeschichtliche Arbeiten unter Louis Agassiz vorbereiten. Im Herbst 1861 begann er in der Lawrence Scientific School in Cambridge mit dem Chemiestudium. Aber wieder erkrankte er. „Relentless chemistry claims its hapless victim", schrieb er an einen Freund (Letters I, 40). Doch führte er seinen ursprünglichen Plan weiter, ging 1863 zur Medical School und nahm im darauffolgenden Jahr an einer Expedition nach Brasilien unter Leitung von Louis Agassiz teil. Dort zog er sich eine milde Form von Pocken (Varioloid) zu, die ihn zwei Wochen ins Hospital fesselte. Er hatte Zeit, seine weitere Zukunft zu überdenken, und kam zu der Überzeugung, daß diese Forschertätigkeit nicht das Richtige war, daß er vielmehr „eher für ein spekulatives als für ein aktives Leben" geschaffen war (zit. n. Perry I, 219). „Wenn ich hier rauskomme, werde ich nur noch Philosophie studieren", beschloß er zuversichtlich. Nachdem er genesen war, nahm er zwar sein Medizinstudium wieder auf, machte sogar ein Praktikum am Massachusetts General Hospital, aber er verachtete Medizin als „much humbug". Im Herbst des Jahres 1866 erkrankte er wieder die gleichen Symptome, die er während der Brasilien-Expedition hatte. Augen und Rücken versagten ihm. Später nannte er das einem Freund gegenüber ein „delightful desease", es gab ihm die Entschuldigung, nicht Medizin praktizieren zu müssen (Letter to Tom Ward, May 24, 1868; James Papers). 1866 hatte er sich ganz anders gefühlt: „on the continual verge of suicide". In tiefer Depression sah er sich als jenen epileptischen Kranken, dem er in der Psychiatrie begegnet war. „That shape am I, I felt potentially." „Nichts, was ich besitze, kann mich vor diesem Schicksal schützen" (Letters I, 129). Strout (1968) vermutet in dieser Gestalt („that shape") eine jener in William Actons „The Functions and Disorders of the Reproductive Organs", einem Klassiker der viktorianischen Einstellung gegenüber Sexualität, beschriebenen. Der englische Arzt stellt in diesem, damals weit verbreiteten Buch die Folgen der Masturbation folgendermaßen dar „Die bleiche Gesichtsfarbe, die abgezehrte Gestalt, der schleppende Gang, die feuchten Hände, die gläsernen oder bleiernen Augen und der abgewendete Blick verraten das halbverrückte Opfer dieses Lasters (zit. n. Strout, 1967). Es ist nicht unwahrscheinlich, daß auch William James sich ebenso in einer der von Acton beschriebenen Gestalten gesehen hat, wie in dem epileptischen Patienten, dem er in der Psychiatrie begegnet war. James' Depression würde so als selbst auferlegte Strafe verstehbar. Wir werden gleich sehen, ob sie damit ausreichend erklärt ist.

2.2 James selbst bezeichnete sie als „Neurasthenie" (1902, 161 f). Er beschrieb sie wie es der amerikanische Neurologe George Miller Beard, der den Begriff geprägt hatte, tat, als „nervous malady" oder „lack of nerve force", charakterisiert durch „Wunsch nach Stimulantien und Narkotika . . . , Furcht vor Verantwortung, Furcht vor großen Plätzen und vor engen Räumen, Furcht vor anderen und vor Alleinsein, Furcht vor Ansteckung, Mangel an Kontrolle, Mangel an Entscheidungsfähigkeit in schwierigen Situationen, Hoffnungslosigkeit" (Beard 1881, 5 ff). Neurasthenie galt als typische Zeitkrankheit, als „Krankheit der modernen Zivilisation", als „Preis des Fortschritts". Amerika galt als das „most nervous country" und die „Nervosität" in anderen Ländern als Zeichen der "Amerikanisierung". Man führte sie auf all das zurück, was an der modernen Zivilisation als neu beeindruckte und überwältigte: das Tempo, die Geschwindigkeit, mit der die Eisenbahn und der Telegraph große Entfernungen zu überwinden gestatteten, das Übermaß an Information, mit dem die Zeitungen ihre Leser überschütteten, den Lärm der Städte, die Monotonie der routinisierten Arbeit, den Existenzkampf.

Beard führte die Neurasthenie zurück auf die, durch soziale Konventionen erzwungene, Unterdrückung der Emotionalität (120 f.) ähnlich wie auch später Freud (1908). Ihre weite Verbreitung unter den Angehörigen der amerikanischen viktorianischen Oberschicht läßt die Neurasthenie als Reaktion auf eine spezifische Art von Streß interpretieren, dem sich diese Schicht ausgesetzt sah. Verstehen wir die Moral der Sexualunterdrückung in einem umfassenderen Sinn als Unterdrückung der Autonomie des Individuums, nicht nur in der Verfügung über seinen Körper (Brückner), so sehen wir in ihr zugleich das Mittel in der Hand des Vaters, seine eigene — gesellschaftlich bedrohte Autonomie dadurch zu behaupten, daß er seinen Willen dem Sohn aufzwingt, dessen Autonomie bricht. Dies genau ist die Situation in der Familie James. Ich habe bereits darauf hingewiesen, wie oft der Vater in die Wünsche und Pläne des Sohnes eingegriffen, sie umgelenkt hat.
Die allgemeine Situation der viktorianischen Oberschicht: ihre schwindende gesellschaftliche Bedeutung, ist in der Familie James insofern verschärft zugespitzt, als der Vater keinerlei öffentliche Stellung, keinen Beruf hatte, sondern das Leben eines Privatgelehrten führte, welches ihm ein ausreichendes Erbe ermöglicht hatte. Seine einzige Wirkungsstätte war seine Familie. Dort nur konnte er seine Ideen umsetzen, und er tat dies auch sehr entschieden, wie wir gesehen haben. Gilbert (1977) charakterisiert die Atmosphäre dieser Familie als „a miniature educational utopia and philosophic community" (184), „flash with ideas". Als Anhänger sowohl von Fourier als auch des schwedischen Mystikers Swedenborg vertrat er einen individualistischen freiheitlichen Sozialismus als „redeemed form of man". Er verteidigte die Freiheit des Individuums gegen jede Einschnürung durch die Institutionen. Er war ebenso gegen religiösen Dogmatismus wie gegen wissenschaftlichen Absolutismus. Die in dieser Familie, in den Diskussionen der Freunde, zu denen auch Emerson zählte, mögliche Atmosphäre intellektueller, moralischer und ästhetischer Sensibilität war sicher von entscheidender Bedeutung für die späteren Leistungen der beiden berühmten James- Brüder William und Henry. Aber sie schuf ebenso ein Klima unterdrückter Feindseligkeit, wie wir von Alice James wissen. Sie habe manchmal den heftigen Wunsch verspürt, „dem ehrwürdigen Vater, wie er mit seinen Silberlocken schreibend am Tisch saß, den Kopf abzuschlagen" (zit. n. Perry I, 171). Und Henry James schrieb 1914: „Variety, variety — dies süße Ideal, dieser harsche Widerspruch gegen alle Dialektik, summte mir die ganze Zeit im Kopf, wie ein perverser Komplex mit seinen sinnlosen Wucherungen" (180). Die Frage der Berufswahl war in dieser Familie zugleich eine der "Berufung" (Allen 1976, 6). Fatal war deshalb für William, daß der Vater die Wissenschaft, in die er seinen Sohn zu drängen suchte und womit er seiner Familie jene gesellschaftliche Bedeutung zu verschaffen hoffte, die er so schmerzlich vermißte, nicht akzeptierte. Sie rangierte für ihn unterhalb der Philosophie. Nach Deutschland, wo William sich zum Zweck seiner wissenschaftlichen Ausbildung aufhielt, schrieb der Vater ihm einen 19seitigen Brief philosophischen Inhalts, in dem er dieser Verachtung deutlich Ausdruck verlieh: „Ich bin mir sicher, daß ich Dir Besseres zu erzählen habe, als alles was Du jemals in Deutschland erfahren wirst, zumindest im ganzen wissenschaftlichen Deutschland" (zit n. Perry II, 711).

2.3 Die Unterwerfung unter den Wunsch des Vaters hatte William in eine ausweglose Situation gebracht. Denn der Vater lehrte, die Wissenschaft zu verachten, in die er ihn gedrängt hatte. Den Wunsch des Vaters zu erfüllen, hieß zugleich, etwas von diesem Verachtetes tun. Die so erworbene Gnade war durch Geringschätzung vergiftet, zwang ihn zur Selbstverachtung. Man versteht so das Bild von dem epileptischen Kranken, das James verfolgte. Man versteht, daß er sich in dieser Gestalt sieht: erstarrt wie eine „sculptured Egyptian cat or Peruvian mummy . . . looking absolutely non-human" (1902, 160), als lebloses Objekt.
Man versteht auch, daß James von Jäte" spricht und daß er meint, nichts zu besitzen, was ihn gegen dieses Schicksal verteidigen könnte.
Und man kann so die ganze Bedeutung jener immer wieder zitierten Tagebucheintragung vom 20. April 1870 einschätzen, die lautet: „Ich denke, ich habe gestern eine Krise durchlebt. Ich habe den ersten Teil von Renouviers zweitem Essay zu Ende gelesen und ich konnte keinen Grund finden, weshalb ich seine Definition des freien Willens für die Definition einer Illusion halten sollte: das Festhalten am einem Denken aufgrund meiner Entscheidung dafür, auch wenn mir andere Gedanken möglich wären. Mein erster Akt des freien Willens wird sein, an den freien Willen zu glauben." (zit. n. Perry, I, 322 f).
Nur indem er eine seiner Lage entgegengesetzte Idee abrang, sich zum Glauben an sie zwang, konnte James dem Determinismus des „fate" entgegentreten, die „Paralyse des Willens" (Beard) überwinden. Sein Entschluß, an die Theorie der Willensfreiheit zu glauben, war für ihn von existentieller Bedeutung. Er mußte nicht ,jene Gestalt" werden, die er in seinen Angstträumen bereits geworden war, wenn er sich nicht dazu machen würde. Er war nicht determiniert!

3.1 Wir verstehen nun, weshalb James den Glauben zum „grundlegenden Postulat der Psychologie" erhoben hat. Es war seine eigene Erfahrung, die darin ihren Niederschlag gefunden hatte. Die Erfahrung, daß das Gegebene nicht schicksalsmäßig festgelegt ist, sondern veränderbar, durch das Individuum und insofern hergestellt von ihm, zur Realität wird durch den Glauben daran. Durch den Glauben an die „Realität des Ich" wird dieses real. Für James war dieser Glaube nicht selbstverständlich gegeben, sondern nur durch den „Willen zum Glauben" zu gewinnen; kein naiver, ungebrochener Glaube, sondern Ergebnis einer „Zweiten Geburt" — wie er in den „Varieties of Religious Experience" (1902) sagt. Er beschäftigt sich dort sehr eingehend mit dieser Erfahrung, er diskutiert sie als Problem der Herstellung der Einheit des Selbst. Wir hatten bereits festgestellt, daß diese Einheit (der „unity of consciousness") das Thema der „Principles" war. Hier, 1902, benennt er das Ausgangsproblem schärfer: das des „geteilten Selbst". „Das Innere des Menschen ist ein Schlachtfeld für zwei Selbste, die, wie er fühlt, einander tödlich feind sind, das eine wirklich, das andere ideal"(1902, 169 1 ). „Nun besteht bei einem jeden von uns die normale Entwicklung des Charakters hauptsächlich in der einheitlichen Ausrichtung und Unifizierung des inneren Selbst. Die höheren und die niedrigeren Gefühle, die nützlichen und die irrigen Antriebe heben damit an, daß sie in uns ein vergleichsweises Chaos bilden — sie müssen damit enden, daß sie ein stabiles System von einander richtig untergeordneten Funktionen bilden. Die Periode der Ordnungssuche und des Kampfes wird leicht durch Unglücklichsein charakterisiert" (ebd.).
Dies ist James' Erfahrung Ende der 60er Jahre, seine Krise, die er hier verallgemeinert. Zugleich aber ist die Vorstellung des „geteilten Selbst" und die (Wieder-) Herstellung der Einheit nicht unabhängig von den Arbeiten der zu jener Zeit berühmten psychiatrischen Schulen von Paris (Charcot, Janet) und Nancy (Liebault, Bernheim) über Somnambulismus, Trance und Hypnose, Hysterie und Depersonalisation. Diese Arbeiten wurden zur Zeit der Abfassung der „Principles", also in den 80er Jahren, sehr breit diskutiert, gerade unter den Intellektuellen der Ostküste. New England war zu dieser Zeit, wie Taylor (1982, 2) sagt, „a veritable caldron of ideas — swirling crosscurrents of new experiments in medicine, psychotherapy, and mental healing". James selbst hat sich sehr intensiv mit diesen „psychic phenomena" beschäftigt. Er war befreundet mit James Jackson Putnam, dem Spiritus rector der amerikanischen „dynamischen" Psychiatrie, und bewegte sich in jenem Kreis von Ärzten und Therapeuten, der später als „Boston School of Psychotherapy" bekannt wurde und der mit seiner Arbeit den Boden für die Rezeption der Psychoanalyse in den USA vorbereitete. James hat auch selbst die Hypnose praktiziert, er hat Patienten in Hypnose untersucht und behandelt (Darstellung in: 1896 b, 73 ff). 1889 nahm er am 1. Kongreß für experimentelle und therapeutische Hypnose in Paris (8.-12. August) teil, an dem auch Freud teilgenommen und auf dem der Streit zwischen Bernheim und Janet über die (generelle oder nur spezifische) Anwendbarkeit der Hypnose ausgetragen wurde. Ellenberger (1970, 360) behauptet, James habe großen Einfluß auf Janet ausgeübt. In den „Principles" zitiert er ausführlich die klinischen Berichte über Janets Untersuchungen mit „multiplen Persönlichkeiten". James interessieren dabei die Gemeinsamkeiten dieser pathologischen Phänomene mit den alltäglichen Erscheinungen — des Vergessens, der falschen Erinnerung, der Träume. In allen Fällen ginge es um „Erinnerung". „The possession of the same memories" sei dasjenige, was die Einheit der Person erst herstelle. „Wie sehr sich auch der Erwachsene vom Jugendlichen, der er einmal gewesen war, unterscheiden mag, beide können rückblickend die selbe Kindheit ihre eigene nennen" (1890, 352). „Es gibt keine andere Identität als die im 'Strom' des subjektiven Bewußtseins erlebbare ... Die Gleichheit der einzelnen Momente im Kontinuum der Gefühle . . . konstituiert die wirkliche und als wirklich erfahrene„persönliche Identität', die wir fühlen . . . Wenn die Verknüpfung an irgendeiner Stelle reißt, ist die erlebte Einheit verloren. Wenn jemand eines schönen Tages aufwacht, unfähig auch nur eines seiner früheren Erlebnisse zu erinnern, so daß er seine Biographie von vorne beginnen muß; oder wenn er nur die bloßen Fakten in kalter Abstraktheit erinnert, so als seien sie irgendwann einmal geschehen; oder wenn, ohne solchen Gedächtnisverlust, alle seine Angewohnheiten über Nacht von ihm abgefallen sind, so daß jedes Organ, jede Bewegung ihm fremd geworden sind ebenso wie sein Denken ., dann fühlt er, er sei eine andere Person. Er verleugnet sein früheres Ich (me), gibt sich selbst einen neuen Namen, identifiziert sein gegenwärtiges Leben mit keinem Moment seines früheren. Solche Fälle sind keine Seltenheit im Bereich der Psychiatrie . . . " (319). Diese pathologischen Fälle zeigten für James nur zugespitzt die Möglichkeiten unseres Bewußtseins.
1896, in den „Lowell-Lectures" an „Exceptional Mental States", dienen sie ihm, wie den französischen Psychiatern, als Beleg für die Existenz des Unbewußten. Jeder von uns habe zwei simultan operierende Systeme intelligenten Bewußtseins, eines oberhalb der Schwelle der „awareness" und eines unterhalb, mit separaten eigenen Charakteristika (1896 b). Jedoch ist das „Unbewußte" nur ein, systematisch nicht weiter ausgebautes, Zwischenglied in der theoretischen Entwicklung James'. Ihm liegt die Vorstellung der Verbindung, des Zusammenhangs (des Bewußtseins) näher. In den „Varieties" bezieht er sich (wieder) ausdrücklich auf F. W. H. Myers' Konzept des „subliminal consciousness" (1892), das er als „die — unterbewußte — Fortsetzung unseres bewußten Lebens" versteht, der „Hintergrund, gegen den sich unser bewußtes Wesen reliefartig abhebt" (467 1 ). Im Unterschied zu Freud war für James das Unbewußte ein „persönliches Unbewußtes", an die Erfahrung des Individuums gebunden, wenn auch diesem nicht mehr zugänglich. Unser normales Bewußtsein „ist lediglich ein kleiner Tropfen aus dem großen Ozean des möglichen menschlichen Bewußtseins, von dessen Grenzen wir keine Ahnung haben" (1898, 322). In den „alternate personalities" kommen Dimensionen jener weiteren Bereiche zum Ausdruck, die normalerweise dem Wachbewußtsein nicht zugänglich seien. Sie können diesen sogar überlegen sein. „In solchen Fällen, wo die sekundäre Persönlichkeit der primären überlegen ist, scheint es vernünftig anzunehmen, daß die primäre die kranke ist. Das Wort Hemmung (inhibition) bezeichnet ihre Dumpfheit und Melancholie . . . und die Veränderung (der Persönlichkeit, KJB) kann man als Aufhebung der Hemmungen betrachten, die sich seit Jahren erhalten haben" (1890, 363). „Wir alle kennen solche Hemmungen aus Zeiten, in denen wir über unsere geistigen Resourcen nicht verfügen" ( ebd). Hypnose sei ein Mittel, diese Bereiche der Erfahrung experimentell zugänglich zu machen, bzw. darzustellen, die normalerweise nur in Momenten der Inspiration und der Krise sich von selbst eröffnen. Darin lag zum großen Teil die Faszination der Hypnose auf die Zeitgenossen. Lears sieht hierin den Ausdruck für die „Suche nach dem authentischen Selbst" der Zeit, für die „Sehnsucht nach der Reintegration der Persönlichkeit", den Versuch, dem Gefühl der Auflösung des Selbst entgegenzuarbeiten, dem Bewußtsein, daß Identität des Ich problematisch geworden war (117).
„Die Identität, die das Ich entdeckt . . . ist nur aus locker geknüpftem Stoff . . . kann nur eine relative sein, die sich unmerklich verändert." Aber, fügt James sogleich hinzu: „in ihr bleibt immer irgendein gemeinsames Ingredienz erhalten. Das allgemeinste von allen, das sich am gleichförmigsten durchhält, ist" — wir kennen es bereits — „the possession of the same memories" (352).

3.2 Die „Relativität der Identität" bedeutet für James nichts Beunruhigendes, nicht Ausdruck von Anomie sondern Skepsis — gegenüber den Versuchungen jener Theorien der Substantialisierung des Ich, sich auszuruhen in „einer nur für des Geistes Bequemlichkeit . . . erdachten Ordnung" (1881, 102). Ihre — vermeintliche — Sicherheit sei eine falsche: auf Kosten der „kreativen Unsicherheit", der „Variety (of experience)", des "Zweifels" (1878), worin allein die Einzigartigkeit des Individuums gedeihen kann (1880).
Wir wissen, daß James sich von dieser „Sicherheit" erst lösen mußte, daß er sich befreien mußte aus den Einschränkungen des Denkens und der Erfahrung durch die Fesseln der „block-universe" Systeme, ihrem Determinismus (vgl. Bruder, 1982).
Sein Feld dieser Befreiung war die Psychologie. Sie war ein gesellschaftlich eröffneter Horizont der Befreiung, sofern diese selbst, eine noch junge Wissenschaft, dabei war, sich von der Philosophie zu emanzipieren. James radikalisierte diese Befreiung, indem er jede philosophische Vorannahme aus seiner Darstellung der Psychologie seiner Zeit ausschloß und sich ausschließlich auf die Erfahrung des Subjekts berief. Dieser „Radikale Empirizismus" führte Janes zur Auflösung der Kategorien des — traditionellen — philosophischen Denkens selbst: des Dualismus von Subjekt und Objekt, mind and matter, als nicht in der Erfahrung begründet. Dieser Dualismus sei vielmehr das Ergebnis einer reflexiven Zergliederung der einen und einheitlichen Erfahrung, des „stream of consciousness" und einer darauf aufbau-- enden Gegeneinandersetzung der so hypostasierten „Entitäten" ( 1904).
Die Radikalität dieses Empirizismus hat aber zugleich ihre Grenze, überschreitet nicht den Horizont der Erfahrung des Individuums. Deren gesellschaftliche Bedingungen kommen bei James nicht in den Blick, weder als Bedingungen der Einschränkung, noch als der Befreiung. Weder erkennt James im Dualismus des Denkens die mystifizierte Form des gesellschaftlichen Dualismus, des Antagonismus von „Herr und Knecht" (Hegel), von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen (Marx), noch gibt er sich Rechenschaft darüber, daß die Psychologie der gesellschaftlich eröffnete Horizont seiner Befreiung war. Sie gab ihm den festen Grund unter den Füßen, nicht nur die Sicherheit der naturwissenschaftlichen Basis, sondern auch der institutionellen Absicherung seines Glaubens an seine „indivduelle Realität und schöpferische Kraft" ( Letters I, 147) — in Gestalt einer Universitätskarriere. 1873 erhielt er von Harvard einen Lehrauftrag für Physiologie, der empirischen Grundlage der damaligen (experimentellen) Psychologie. Fünf Jahre später, im selben Jahr, in dem er heiratete, bekam er den Auftrag zu den „Principles". Nur einmal, 1872, bekannte er seinem Bruder Henry gegenüber, daß sein erster Lehrauftrag (für Anatomie am Harvard College) ein „godsend" sei, ein „external motive to work". Aber sofort reduziert er dessen Bedeutung auf die subjektive Dimension: „Ich kann mich mit anderen Menschen beschäftigen, statt nur mit meinen eigenen Gedanken und kann mich dadurch von meinen introspektiven Grübeleien ablenken, die bis vor kurzem eine Art philosophischer Hypochondrie in mir ausgebrütet haben" (August 24, 1872, James Papers).
Befreiung ist für James in der Erkenntnis der Unfreiheit als subjektiv begründeter verankert. Sein Ausgang von der Psychologie, von der eigenen Person, von seiner persönlichen Krise, findet hierin seine Rechtfertigung, wie dieser umgekehrt diese Überzeugung rechtfertigte. „Objektive" Gründe spielten für ihn, für seine Reflexion über (seine) Befreiung, keine primäre Rolle. Seine gesicherte bildungsbürgerliche Herkunft ließen ihn außerhalb des Einflußbereichs des Subjekts liegende Bedingungen nicht in den Blick treten. Er konnte sie auch außer acht lassen, nachdem sein ökonomischer und sozialer Status gesichert war. Sie trugen ihn. Und sie gaben ihm die Möglichkeit, sich vom Determinismus des „fate" zu befreien.

Klaus-Jürgen Bruder

Selbstthematisierung

Zusammenfassung
Hatte in den 70er Jahren „Selbstthematisierung“ im Zeichen der „Selbsterfahrung“ gestanden, die mit der Hoffnung verbunden gewesen war, im Rückzug aus dieser Welt zum „wahren“ „Selbst“ zu finden, so scheint gegenwärtig „Selbstdarstellung“ die Form der Selbstthematisierung geworden zu sein, vermittelt vor allem durch die Medien. Es werden die Folgen und Voraussetzungen dieser Veränderung diskutiert, die das „Selbst“, den Kern unserer „Identität“ in neuer Weise an gesellschaftliche und politische Diskurse anschließt. Schlagwörter Authentizität, Autonomie, neuer Geist des Kapitalismus, Netzwerk, Selbstthematisierung, Subjektivierung, Verleugnung.

Summary
Making the self subject of discussion During the 70s the self was made subject of discussion particularly in terms of „self-awareness“, related to the hope of finding one's „true self“ through a withdrawal from this world. It seems that „performing the self“ has now become the present mode of „making the self subject of discussion“, being mainly communicated by the media. Consequences as well as preconditions of this change which connects the „self“ - understood as the core of our „identiy“ - to social and political discourses in a profound new way, will be discussed.

Keywords
authenticity, autonomy, making the self subject of discussion, network, new spirit of capitalism, subjection, denial.

Selbstthematisierung: sich selbst zum Thema machen, sich selbst befragen, sich selbst erfahren - die Aufforderung des “Erkenne Dich selbst“ begleitet unsere Kultur von Beginn an. Trotzdem erscheint es gegenwärtig unzeitgemäß, die Selbstthematisierung zum Thema machen, angesichts des Grauens, des Schreckens, der Brutalität, die die Kriegspräsidenten und warlords in unseren Tagen in die Welt bringen, erscheint es ignorant, wenn nicht zynisch angesichts der Bilder der Ermordeten, Verstümmelten, Gequälten, Verzweifelten, der zerbombten, niedergewalzten Häuser, der brennenden Landschaften, die uns die Zeitungen und Medien tagtäglich vor Augen führen. „Selbstthematisierung“: damit war in den 70er Jahren die Hoffnung verbunden gewesen, im Rückzug aus dieser Welt des Elends, der Erniedrigung, des Terrors und der Gewalt auf sich selbst, den Ort des „Wahren“ zu finden, zu dem die Aufforderung am Eingang zum Orakel von Delphi den Weg gewiesen hatte: das Versprechen der “Selbsterfahrungs“-Bewegung auf Befreiung von der Entfremdung in der Entdeckung des „Selbst“, seiner Selbstverwirklichung, Selbstbehauptung. Heute klingt das wie von ferne, ganz weit weg, wie aus einer anderen Zeit. Heute ist die Sicherung der „blanken“ Existenz das „Thema“, (Agamben, Flores D'Arcais) - auf dem durch Hartz IV garantierten Existenzminimum.
Ist „Selbstthematisierung“ ein Vorrecht der Reichen geworden? Wie William James 1890 dies ironisierte, indem er das „Selbst“ als „mein Bankkonto, meine Yacht, meine Pferde, usw.“ definierte. Das Einkommen eines Spitzenmanagers in Deutschland heute übersteigt das - durch Hartz IV definierte - Existenzminimum um das 1000-fache. BILD veröffentlichte die Liste: die Selbstdarstellung des Reichtums? „Selbstdarstellung“ scheint gegenwärtig die Form der Selbstthematisierung geworden zu sein. „Selbstdarstellung“ der Macht: Selbststilisierung des Präsidenten der Weltmacht zum absoluten Herrn über Gut und Böse, zum siegreichen Weltenrichter, der im Kampf gegen den Terrorismus das „Jahrhundert der Freiheit ausruft“ (FAZ vom 4./5. 9. 04, S. 1). In jedem Fall bleibt das „Selbst“ der „Kern unserer Identität“, denn er wird ja dadurch hergestellt. Durch die Selbst-Darstellung wird die Selbst-Erfahrung erst möglich. Sowohl für den Herrn, der sich zum Herrn macht durch seine Selbst-Darstellung, zugleich auch für den Knecht, der spätestens dadurch erfährt, dass er Knecht ist, weil dazu gemacht. Und für die Vermittler, die Medien, durch die wir von den Herren erst erfahren, die ihre Selbst-Stilisierung als Lebensstil an uns weiterreichen. Indem sie vom Herrn berichten, machen sie sich selbst zum Herrn über den, dem sie vom Herrn berichten: ihre „Selbst- Thematisierung“. Und: jeder von uns darf teilnehmen an diesem Diskurs: immer wird er einen finden, dem er das Gehörte, Gelesene weitererzählen kann. „Eine Erzählung besteht nicht darin, zu kommunizieren, was man gesehen hat, sondern zu übermitteln, was man gehört hat und was einem ein anderer gesagt hat“. In diesem Sinne wird sie „wie ein Befehl oder eine Parole“ weitergegeben (Deleuze & Guattari 1980, S. 107 f.). Das ist die „Wahrheit des Diskurses“, seine „Selbst-Thematisierung“.

I.

Luc Boltanski & Ève Chiapello (1999) haben in einer umfangreichen Analyse einen Ausschnitt dieses Diskurses untersucht, den sogen. „Management-Diskurs“, jene Literatur, die sich an die leitenden Angestellten von - französischen - Unternehmen richtet, damit diese „ihre Mitwirkung am kapitalistischen Akkumulationsprozess zur Quelle der Begeisterung“ machen können (54), und die ihnen zugleich „Argumente für die Rechtfertigung ihres Engagements für den Kapitalismus“ bietet (43).
Dafür müsse ihnen diese Literatur „Deutungsmuster der sozialen Wirklichkeit“ zur Verfügung stellen, die „ihrem Handeln und den Strukturen Sinn geben“ sollen (147). Sie tut das, indem sie ihnen einerseits „attraktive und aufregende Lebensperspektiven“ (64) sowie „Sicherheitsgarantien für sich und ihre Kinder“ bietet (54), andererseits „sittliche Gründe für das eigene Tun“ (64). Daher dürfe diese Literatur sich nicht ausschließlich am Profitstreben orientieren, sie müsse vielmehr „begründen, wie der Profit zustande komme“, weshalb die empfohlene Art der Gewinnerwirtschaftung überhaupt wünschenswert, spannend und moralisch vertretbar sei (93). Das Engagement für den Kapitalismus müsse „gegenüber dem Allgemeinwohl gerechtfertigt“ und „gegenüber dem Vorwurf der Ungerechtigkeit verteidigt“ werden können (54), es müssen den Führungskräften Argumente geliefert werden, mit denen sich die antikapitalistische Kritik entkräften lasse (93).
Da der Kapitalismus selbst über keinerlei Mittel verfüge, mit denen sich Teilnahmemotive begründen und Argumente zur - vor allem moralischen - Rechtfertigung formulieren ließen, müsse er um Begeisterung herzustellen aus Ressourcen schöpfen, die ihm äußerlich sind. Er müsse auf Argumente zurückgreifen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt hohe Überzeugungskraft besitzen und deren Legitimität garantiert ist, die die Unzufriedenheit mit den bestehenden Zuständen artikulieren, die einer bisher unerfüllten Forderung oder Hoffnung Ausdruck verleihen. Das könnten sogar „kapitalismusfeindliche Ideologien“ sein, entscheidend sei, dass er diese dazu benütze, die „Notwendigkeit der Kapital-Akkumulation“ zu begründen und zu rechtfertigen (58). Der Management-Diskurs erscheint Boltanski & Chiapello „wie das Echo der antiautoritären Kritik der 68er“ (S. 143), wie eine „Überwindung des Kapitalismus“ (257). Statt mit „Fortschrittsbegeisterung“ und „Karrieresicherheit“ - wie in den 60er Jahren - wurde in den 90er Jahren auf die „Selbstentfaltung“ durch „Projektvielfalt“ (147) gesetzt. Boltanski & Chiapello sehen darin einen, den „neuen“ Geist des Kapitalismus. Dieser habe die Forderungen nach „Selbstverwirklichung“, „Autonomie“, „Kreativität“ und „Authentizität“ in seine Selbstdarstellung als einer Organisation nicht nur der Produktion, sondern zugleich auch des Lebens aufgenommen, die diese Forderungen allein zu erfüllen in der Lage sei.
Der „neue Geist des Kapitalismus“ öffne sich gegenüber der Kritik an den bis dahin dominanten Formen hierarchischer Kontrolle und Überwachung, an den unerträglichen Unterdrückungsformen der kapitalistischen Arbeitsorganisation, Arbeitsteilung und Hierarchie, d. h. an der Art und Weise, wie der Industriekapitalismus die Freiheit entfremdet (143 f., 257). Die Forderung nach Autonomie wurde in die Veränderung der Unternehmensstrukturen (nach dem Modell des „Netzwerkes“) integriert (375), verbunden mit dem Zugeständnis eines größeren Freiraumes (143). „Die Arbeitswelt menschlicher gestalten“ war das Versprechen einer „postbehavioristischen“ Psychologie (145). Der „neue Geist des Kapitalismus“ beinhaltet das Thema der Emanzipation in Gestalt des freien Zusammenschlusses von Kreativen, die eine gemeinsame Passion verbindet und die sich gleichberechtigt zusammenfinden, um ein gemeinsames „Projekt“ zu verfolgen (257). In einer vernetzten Welt bestehe das Sozialleben aus unzähligen Begegnungen und temporären, aber reaktivierbaren Kontakten mit den unterschiedlichsten Gruppen, die u. U. eine beträchtliche soziale, berufliche, geographische, kulturelle Distanz überbrücken (149). Man könne alle Bindungen und lokalen Zugehörigkeiten auflösen, die nur eine Quelle der Erstarrung darstellten (470). Jetzt sei es möglich, ebenso häufig eine andere Arbeit auszuüben wie das „Projekt“ zu wechseln (470). Endlich scheint anerkannt, dass jeder die gewünschte „Identität“ annehmen kann (470). Anerkannt sei die „Fähigkeit, Netzwerke zu bilden“, „auf andere zuzugehen“, die „Offenheit gegenüber Anderem und Neuem“, „visionäre Gabe“, das „Gespür für Unterschiede“, die „Rücksichtnahme auf die je eigene Geschichte, Akzeptanz der verschiedenartigen Erfahrungen“, die „Neigung zum Informellen, Spontaneität, Mobilität, Disponibilität, Plurikompetenz“, das „Streben nach zwischenmenschlichem Kontakt“ (143). Parallel dazu entstanden neue Erfolgsmaximen und Wertsysteme, die Urteile ermöglichen, welches Verhalten erwünscht, die neue Machtpositionen legitimieren und entscheiden, wer Zugang zu diesen haben soll (149).

Der „neue Geist des Kapitalismus“ öffne sich gegenüber einer Kritik an der Mechanisierung der Welt („postindustrielle Gesellschaft“) und der Zerstörung von Lebensformen (257), der Kritik am Mangel an Authentizität im Alltagsleben des kapitalistischen Universums (144), gegenüber der Kritik an der „Konsumgesellschaft“, die die standardisierten Bedürfnisse und Güter brandmarkt, den Einfluss von Werbung und Marketing, die Herrschaft des Statusdenkens und der Statussymbole, die Überflutung durch unnütze Wegwerfprodukte. Er antwortete auf diese Kritik durch die Produktion neuer Güter, durch Flexibilisierung der Massenproduktion in Kleinserien, Produktion von Luxusartikeln, die für Intellektuellen erschwinglich. Auf diese Weise konnte die Forderung nach Authentizität und Kreativität „in die Profitgewinnung integriert“ werden (375).
Neu ist sicher nicht, dass der Kapitalismus mit Versprechungen für sich wirbt. Das war bereits Marcuses Kritik gewesen (also bereits vor der Zeit der Selbstverwirklichungs-Bewegung). Auch ist nicht neu, dass er es mit dem Versprechen auf „Selbstverwirklichung“ tut. Immer schon war das die Botschaft der Werbung, dass wir mit dem Kauf der angebotenen Produkte zugleich erfolgreicher, attraktiver, begehrenswerter, einzigartig werden würden. Als nichts anderes als was der Markt uns bietet, so erscheint das „Selbst“ in der Zeichnung von James.
Deshalb ist auch der Begriff des „neuen“ „kapitalistischen Geistes“ unglücklich gewählt. Was uns als „neu“ beeindruckt, ist vielmehr ein Phänomen des (kapitalistischen) Diskurses. Es ist Charak|teristikum des Diskurses, aufzugreifen, was immer an Argumenten vorhanden ist, gleich von welcher Seite, selbst aus kapitalismuskritischen Diskursen, um sie der - alten - „Notwendigkeit der Kapital-Akkumulation“ unterzuordnen. Dadurch erneuert er sich zugleich - und bleibt doch dem „alten“ (unveränderten) „Geist“ des Kapitalismus treu.
So beachtet die Management-Literatur zwar die Bedürfnisse nach Authentizität und Freiheit, löst diese aber zugleich los von der Kritik an der Entfremdung durch die Warengesellschaft, der Unterdrückung durch die unpersönlichen Marktkräfte, mit der diese in den 68er Jahren einhergeht. Sie vernachlässigt die traditionelle „Sozialkritik“, die Kritik an sozialer Ungleichheit, gegenüber der „Kulturkritik“, dem Unbehagen an der „Unkultur“ der Stadt, der Industrialisierung, der Zerstörung der „Natur“ (Bell 1976), deren Forderungen sie aufgreift - und sie zugleich der „Notwendigkeit“ der Kapital- Akkumulation unterordnet. Sie konnte dies aber nur, weil der Autonomie- und Selbstverwirklichungsdiskurs selber dazu bereits „Vorarbeit“ geleistet hatte. Dieser hatte bereits die „Sozialkritik“ beiseite geschoben, die „Klassenfrage“ übergangen, negiert, als Ausdruck eines „dichotomen“ Denkens außer Kurs gebracht.
Gleichwohl konnte diese Selbstdarstellung des „neuen“, veränderten Kapitalismus sich auch auf tatsächliche Veränderungen stützen, auf Transformationen (im Arbeitsprozess und in der Zirkulation), die ihrer erwarteten positiven Wirkung auf die Kapitalakkumulation wegen eingeführt worden waren. Diese Veränderungen ließen ihrerseits die veränderte Selbstdarstellung des Kapitalismus „überzeugend und attraktiv erscheinen“ (470).

II.

Selbstthematisierung im Rahmen des Selbsterfahrungs- und Selbstverwirklichungs- Diskurses der 70er Jahre: damit war die große Hoffnung auf Emanzipation verbunden: Emanzipation von der Enge der Tabus, den bornierten Formen des Lebens, der Beziehungslosigkeit in den 5oer und 60er Jahren. „Selbsterfahrung“ galt als Möglichkeit der Erfahrung jener hinter den Verkrustungen, Panzerungen verborgenen „Natur“ des „wahren“ Selbst, der „echten“ Gefühle. Das „echte“ Gefühl galt als der zuverlässigste Indikator der Nähe zum Selbst (Janov 1972, S. 17), der „Kongruenz des Verhaltens“ (Rogers 1951, S. 86), der „Integration des Selbst“ (Perls 1971, S. 212) denn: die Gefühle stünden „der Natur (des Organismus) am nächsten“. (Janov 1972, ebd.). Deshalb zeigen sie den Weg zum („wahren“) Selbst, das Selbst offenbart sich durch sie. „Das reale Selbst sind die realen Bedürfnisse und Gefühle des Organismus“ (ebd.).
Die Suche nach dem „wahren Selbst“ war allerdings - zumindest auch - eine Suche nach „wahren“, „echten“ sozialen Beziehungen. Trotz der engen Beziehung des Gefühls zum Selbst, zum Körper, ist die Beziehung zum anderen keineswegs von vornherein ausgeblendet. Wenn Janov schreibt: „echt“ (real) sein „bedeutet produktiv sein zu können“, so betont er zugleich, daß dies einschließe, „keine ausbeutenden Beziehungen zu unterhalten“. (Janov, S. 382). Er berücksichtigt also zugleich die entscheidende (gesellschaftlich bestimmte) Qualität dieser Beziehung und verweist damit auf die Notwendigkeit, andere als die gesellschaftlich erzwungenen - freiwillig oder unfreiwillig eingegangenen - Formen von Beziehung herzustellen.
Hierin zeigt sich der Selbsterfahrungsdiskurs als Erbe der Politisierung der 6oer Jahre, der Überzeugung, dass die Beziehungen der Ausbeutung uns nicht nur dem anderen entfremden, sondern uns selbst, unserer Erfahrung (unseres Selbst). Die Revolte der 60er Jahre war (auch) ein Aufstand des Subjekts gegen diese Zerstörung, sowohl des privaten als auch des öffentlichen Bereichs, und eine Bewegung für die Wiederherstellung von Öffentlichkeit und Politik. Der Protest gegen den Krieg in Vietnam, gegen die Repression durch das „Establishment“ war zugleich ein Protest gegen die Fesselung des Individuums, seiner Sinnlichkeit und Lebendigkeit durch die „eindimensionale Gesellschaft“, durch die repressiven Lebensformen, die entfremdete Arbeit und den „Konsumterror“ (Marcuse 1975, S. 38 f.). Die Revolte galt nicht nur den äußeren Fesseln, sondern zugleich damit den verinnerlichten. „Kulturrevolution“ hieß „Revolutionierung des bürgerlichen Individuums“ gleichzeitig mit der Umwälzung der Verhältnisse. „Sexuelle Revolution“, Veränderung der Lebensformen, „flower power“ und „Bewusstseinserweiterung“ flossen in ihr zusammen. Selbsterfahrungsgruppen und growth centers, und vor allem ihre Theorien („Humanistische Psychologie“), hatte es vorher gegeben, ebenso wie das Unbehagen, die Unzufriedenheit mit dem american way of life. Aber ihre explosionsartige Ausbreitung fällt in die Zeit, als die Bewegung der 6oer Jahre ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte. Das Jahr 1968 - das Jahr, das (in den USA) die letzte große Demonstration der flower power (gegen den Parteikongress der Demokraten in Chicago) erlebt hatte, war zugleich das „Jahr der Gruppe“ (Castel, Castel & Lovell 1979), der Beginn des „Psychoboom“ - in den USA.
Die „flower power“ (in den USA) hatte allerdings auch von Anfang an eine größere Nähe zu den Selbsterfahrungs- und Selbstverwirklichungstendenzen des Psychoboom, als die Studentenbewegung in Europa (Reiche 1968); „Selbsterfahrung“ war nicht nur ein Versprechen der humanistischen Psychologie, sondern ebenso eines der erklärten Ziele der „psychodelischen“ Revolte gewesen. „Bewußtseinserweiterung“ - mit Hilfe von Drogen und Musik hatte bedeutet, die Grenzen der Erfahrung ebenso zu sprengen wie die der Gesellschaft, des gesellschaftlichen Leistungsprinzips. (die „Große Weigerung“ der counter-culture). Die humanistischen Psychologen, die dies aufgreifen konnten, verstanden sich selbst als kritisch dem „establishment“ gegenüber, manche, wie Paul Goodman, der mit dem Gestalttherapeuten Fritz Perls zusammengearbeitet hat, als Revolutionär. Der Psychoboom wies den enttäuschten Hoffnungen nach Selbstbefreiung die Perspektive der „Selbsterfahrung“ (Castel, Castel & Lovell 1979, S. 302 ff).
Der Management-Diskurs greift (wieder) auf, was er an (Gegen)Diskursen vorfindet. Es waren die Hoffnungen auf Emanzipation der Subjekte - gemeinsam mit anderen -, die in die „encounter-Gruppen“ und „growth-centers“ eingegangen waren und dort das Ende der Revolte überlebt hatten. Aber diese Hoffnungen wurden dort, in den Selbsterfahrungsgruppen zugleich von der politischen Bewegung, mit der sie vorher verbunden gewesen waren, abgespalten. Ja, diese Trennung galt nun geradezu als Voraussetzung ihrer Realisierung. Nur durch den Rückzug aus der politischen Öffentlichkeit schien es möglich, zu sich zu kommen, zum eigenen („wahren“) Selbst. Die Faszination der Psychologie der Selbsterfahrung lag in dem Versprechen begründet, die Sehnsucht des Individuums zu erfüllen, die die politische Bewegung nicht erfüllt hatte, das Individuum ernst zu nehmen, zu akzeptieren, Partei zu ergreifen gegen (die gesellschaftlichen) Verhältnisse, die das Individuum missachten, entrechten, demütigen. Dieses Versprechen stützt sich auf die Illusion, Selbsterfahrung sei unabhängig von der (gesellschaftlichen) Praxis und Erfahrung, die ja enttäuschend gewesen war, möglich, bzw. die Selbsterfahrungsgruppe sei von dieser zu trennen.
Die Selbsterfahrungsgruppe ist aber mitnichten ein gesellschaftsfreier Schonraum. Die - theoretisch ausgeschlossenen - gesellschaftlichen Verhältnisse wirken in die Gruppe hinein, und zwar gerade weil sie theoretisch ausgeschlossen wurden, hinter dem Rücken der Gruppenmitglieder, sie sind so zugleich der „Bearbeitung“ in der Gruppe entzogen. Sie zeigen sich (jedoch) in der Gruppe, darin, dass dort keine - andere - soziale Praxis entfaltet wird - als die gesellschaftlich vorgegebene, vorgeschriebene. Die - theoretische - Voraussetzung des Versprechens auf Selbstbefreiung durch die Loslösung von gesellschaftlichen Zwängen wird damit zwar praktisch widerlegt - nicht aber theoretisch, nicht reflektiert. Sie wird im Gegenteil dadurch aufrechterhalten, dass das (unveränderte) Konkurrenz- und Dominanzverhalten dem Individuum selbst zugeschrieben wird, statt den unverändert weiter bestehenden gesellschaftlichen Konkurrenz- und Machtverhältnissen. Schließlich seien es die Individuen selbst, die das Konkurrenzverhalten in die Gruppe mitbringen. Sie halten daran anscheinend fest, ohne dazu (durch die Gruppe) gezwungen zu sein, ja trotz der gegenteiligen Ermunterung und Chance, darauf zu verzichten, sich davon zu befreien. Der Zwang, durch den das Individuum an sie gefesselt bleibt, sei ein nur innerer.
Der gesellschaftliche Wiederholungszwang wird ins Individuum verlegt. Damit wird dieses tiefer in die Abhängigkeit gestoßen, aus der es sich gerade befreien wollte. Es wird in seinem Versuch, sich gegen die Forderungen und Zumutungen der gesellschaftlichen Macht zur Wehr zu setzen, im Stich gelassen, auf sich selbst als Verursacher seines Leidens zurückgeworfen, verbrämt mit der neuen „Moral“ der „Selbstverantwortung“, die am explizitesten in der „Gestalt-Therapie“ formuliert wird: „Übernimm die volle Verantwortung für Deine Handlungen, Gefühle, Gedanken“ (s. Marcus 1979). Die im sozialen Leben abgelehnten Mechanismen (der Konkurrenz, des Leistungsprinzips) werden „in die Sphäre der 'befreiten' Subjektivität“ transponiert (Castel, Castel & Lovell 1979, S. 306). Für das Individuum entstehen so die alten Zwänge, sich zu behaupten, um Akzeptierung zu kämpfen, um die Anerkennung (der Echtheit) seiner Gefühle, seine Ansprüche und Interessen durchzusetzen von neuem - mit den neuen Argumenten der „Sprache der Gefühle“, des „Psycho-Jargon“, der zugleich eine - erneute - Unterwerfung herstellt: unter die Rituale der Selbstdarstellung und des Zynismus des „als ob“ (Goffman 1959), aus dem das Individuum sich befreien wollte. Dies ermutigt jenen Typ der „emanzipierten“ Persönlichkeit, die das gesellschaftlich geforderte Verhalten als Mittel und Ausdruck der Selbstverwirklichung akzeptiert und als Spiel der Selbstdarstellung beherrscht. Das (Gestalt)- therapeutische „Gebot“ „Akzeptiere Dich, so wie Du jetzt bist“ (Marcus 1979), wird zur Parole eines „neuen“ Egoismus verdreht. Die Selbsterfahrungsgruppe wird der soziale Raum des Trainings der „Selbstbehauptung“. In ihr wird soziales Verhalten nach den Prinzipien des „social engineering“ (der Arbeitsgruppe) eingeübt - befreit von den „alten“ Rücksichtnahmen der Respektierung des anderen, von kultivierten Formen des Aushandelns zwischen Positionen gegensätzlicher Interessen (Sennett 1974), kodifiziert durch Vertragsbeziehungen (s. Bellah, Madsen, Sullivan, Swidler & Tipton 1985, S. 152). Die Selbsterfahrungsgruppe, die diese - gesellschaftliche - Struktur aufzuheben versprach, übernimmt sie wieder in der „modernisierten“ Gestalt des „neuen“ Egoismus, die dort zur Praxis - der „Selbstdurchsetzung“ wird. Es sei eine „Tatsache“, erklärt der Selbstdurchsetzungstrainer Erhard („EST“), „dass die Welt nicht unterscheidet zwischen dem Opfer und dem Sieger, dem Vergewaltiger und dem Vergewaltigten“. Um ein „Sieger“ zu werden, müsse man diese Tatsache akzeptieren und die Welt, so wie sie ist (zit. n. Bry 1976, S. 66) - dann erst kann man sich wohl selbst „akzeptieren“, seinen Platz in dieser Welt, um den man immer wieder kämpfen muss. Wenn man zugleich akzeptiert, dass es auch Stärkere gibt, denen man sich unterordnen muss, dann darf man sich auch den Schwächeren gegenüber als überlegen „akzeptieren“. Dies gestattet, ja erfordert durchaus ein Sensorium für Machtstrukturen - um sich in sie „einzubringen“, wie es in der Sprache des Selbsterfahrungsgruppenmilieus heißt.
Diese Notwendigkeit ermöglicht auch die Übernahme zumindest der Regeln der Selbsterfahrungsgruppe in die Arbeitswelt, als „Team-Supervision“. Die Probleme, die aus der hierarchischen Struktur entstanden sind, werden dadurch allerdings nicht gelöst, sondern ritualisiert, psychologisiert und in die Verkehrs- und Sprachformen der Psychogruppe übersetzt. Die Machtstruktur wird auf diese Weise nicht angetastet, sondern vielmehr bestätigt. Die Teammitglieder „lernen“ so, dass zwar die Machtstrukturen nicht aufzuheben sind, aber das Leiden an ihnen - wenn man sie nur akzeptiert. „Selbsterfahrung“ ist hier lediglich eine andere Form der Unterwerfung durch ihre Verbalisierung. Dieser damals - zu Unrecht (s. Lasch 1979) - so genannte „Narzissmus“ ist nicht mehr Ausdruck der Selbstreflexion des Einzelnen, seiner Verzweiflung und seiner Verweigerung, sondern Ausdruck der „Befreiung“ - nämlich der Gesellschaft: von Moral, Verpflichtung, Ideologie (Baudrillard 1983, 14o). Die Fiktion eines unabhängig und außerhalb der (gesellschaftlichen) Beziehungen bestehenden „Selbst“, dessen Naturalisierung, wird damit als „Naturalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Brückner 1972), ihrer Forderungen und Zwänge, bzw. deren Produkte und Folgen, erkennbar. Das Versprechen auf Selbstbefreiung durch die Loslösung von gesellschaftlichen Zwängen in der Selbsterfahrungsgruppe wird zum dauernden Ausblenden der Macht überhaupt (und damit zu deren Verleugnung, dem Bestreiten der Notwendigkeit, sich mit ihr auseinanderzusetzen, Castel, Castel & Lovell 1979, S. 314, 318). Damit nimmt die Psychologie der Selbsterfahrung teil an der „gesellschaftlichen Produktion von Unbewusstheit“ (Erdheim 1982). „Das 'Unbewusste' ... ist in Wirklichkeit immer nur das Vergessen der Geschichte“ (Bourdieu 1980, S. 105).
Die Möglichkeit zum „Vergessen der Geschichte“, die Möglichkeit dazu, dass die Begriffe aus einem ursprünglich „alternativen“ Diskurs für die Rechtfertigung der „Notwendigkeit der Kapital-Akkumulation“ heranzogen werden konnten, liegt (allerdings) in ihrem epistemologischen Status, ihrer „Abstraktheit“, ihrer Gleichgültigkeit gegenüber den Konkretionen der Geschichte und der gegebenen sozialen Differenzen (von Macht und Ungleichheit), woraus sie ihre „Allgemeingültigkeit“ beziehen. Sie legen nicht fest, für wen, zu welchem Zweck - Autonomie und Selbstverwirklichung versprochen wird. Im Gegenteil, sie abstrahieren davon, abstrahieren von dem konkreten Interesse, das sich '68 in ihnen zum Ausdruck gebracht hatte. Im gleichen Zug, wie dieses daraus getilgt ist, kann das andere Interesse, das sich an dessen Stelle setzt, seinen Platz einnehmen.
Deshalb ist die Rede von „Freiheit“, „Selbstentfaltung“ „Autonomie“, „Emanzipation“, „Authentizität“ „Kreativität“, die der „neue“ Kapitalismus sich zu eigen gemacht, nicht einfache Lüge, „Ideologie“. Dazu wird sie erst durch die implizite Behauptung der Allgemeingültigkeit ihrer Begriffe, der Abstraktion von ihrer konkreten (diskursspezifischen) Bedeutung. Diese Abstraktion war durch den kritischen (Gegen)Diskurs bereits vorweggenommen worden. Die Gründe dafür, die in der Resignation über das Scheitern der Hoffnungen der Revolte gefunden werden können, haben wir bereits genannt. Boltanski & Chiapello sprechen von der „Schwächung“ der Kritik angesichts der „Wandlungsprozesse des Kapitalismus“, deren „soziale Folgekosten“ nicht unbemerkt bleiben konnten, gegenüber einer „neu erwachten Begeisterung für das Unternehmen“. „Obwohl es doch an Gründen zur Empörung nicht mangelt“ wie der schreienden „Zunahme der Ungleichheiten bei der Einkommensverteilung bei wachsenden Anlagegewinnen“ (26), besitze die Kritik ein äußerst „geringes Mobilisierungspotential“ gegenüber den „völlig veränderten Argumentationsformen des Managements“, der „neuen Rechtfertigung der kapitalistischen Entwicklungen seit Mitte der 70er Jahre“ (38).

III.

Die Management-Literatur verspricht nicht nur - Selbstverwirklichung, Autonomie, sie verlangt diese geradezu von den einzelnen Individuen. Gerade darin zeigt sie den „Geist des Kapitalismus“, alles der „Notwendigkeit“ der Kapitalakkumulation unterzuordnen. Sie zeigt sich zugleich selbst als „normative Literatur“ - für diejenigen, die sich von ihr angesprochen fühlen. Das beschränkt sich nicht auf das Führungspersonal von Unternehmen, sondern reicht darüber hinaus. Genau auf diese Ausweitung zielen Boltanski & Chiapello mit dem Begriff des kapitalistischen Geistes „das Denken einer Epoche in seiner Gesamtheit zu durchdringen“ (92). Wieder handelt es sich um ein Diskurs-Phänomen, der Verbreiterung, Vervielfältigung in andere Diskurse: diejenigen der Politiker, Gewerkschaftler, Journalisten und Wissenschaftler usw. Dort werden seine Argumentationsformen und Rechtfertigungsmuster aufgegriffen, wiederholt, variiert. Sie sind es, die für „seine so diffuse wie allgegenwärtige Präsenz“ sorgen. Das war der Fall bereits bei den Versprechungen und verhält sich bei den Forderungen ebenso: Es mache sich, so Boltanski & Chiapello, „die Überzeugung breit, dass der Wert eines Menschen in hohem Maße variabel sei und man sich jeden Tag aufs Neue bewähren“ müsse (367). Immer häufiger werde der Wert jedes einzelnen an seinem Selbstverwirklichungspotenzial gemessen (462). Dabei werde das autonome Handeln gewissermaßen verlangt von den Menschen: eine oft erzwungene, keine selbst bestimmte „Autonomie“. Tatsächlich: eine Intensivierung der Arbeit. Vermehrung der Zwänge, Verstärkung der Kontrolle durch „Selbstkontrolle“, durch die „interne Polizei der Mitarbeiter“ selbst. Diese Kontrollformen seien einerseits „weniger offensichtlich“ und üben gleichzeitig den Druck auf die Beschäftigten „in Permanenz“ aus (463 ff.). „Sinkende Garantien der Sicherheit des Arbeitsplatzes“ - der „Preis“ für den „Zugewinn an Autonomie und Eigenverantwortlichkeit“ - verstärken den Druck (462). Die Mobilitätsmöglichkeit ist geringer geworden (463). Es werde sichtbar, dass sich das Selbstverwirklichungsversprechen „nicht für alle bewahrheitet“ habe (454): Viele Erwerbspersonen wurden alles andere als befreit, sie fanden sich wieder in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen, mussten in zunehmender Isolation zurechtkommen mit den Anforderungen einer unbestimmten, unbegrenzten und quälenden Selbstverwirklichung und Autonomie (470); Ausgrenzung jener Personen und Gruppen, die nicht über die notwendigen Ressourcen zur Selbstverwirklichung verfügen. Gleichzeitig haben sich Armut und Ungleichheiten verstärkt (373).
Unbehagen entspringe auch aus der Ungewissheit über den Wert jener Strukturen und Konventionen, die für die alte Welt bestimmend waren: Familienbeziehungen, sozioprofessionelle Kategorien, Diplome, usw. (453).
Besonders die Aufhebung der Trennung zwischen Arbeitszeit und Nicht- Arbeits-Zeit, zwischen persönlicher und beruflicher Beziehung sei zur Quelle von Unsicherheit, Verunsicherung, Stress geworden. Wenn Vorgesetzte als „Freunde“ betrachtet werden sollen, wenn der „Führungsstil“ sich an Figuren einer „Authentizitätsgrammatik“ anlehnt (besser: diese ausbeutet): Vertrauen, Bitte um Hilfe, Rücksicht auf Unbehagen, Sympathie, Liebe sei es unmöglich, Engagement lediglich vorzutäuschen. Gleichzeitig werde das Gefühl, manipuliert werden zu sollen, unabweisbar - und zugleich unerträglich angesichts der Forderung, sich selbst zu verwirklichen (497 f.). Wenn nicht mehr unterschieden werden könne zwischen uneigennützigen Beziehungen und Berufsbeziehungen (493), wenn alle Kontakte zur Arbeitsplatzsuche/Projektbildung genutzt werden könnten, würden die unterschiedlichen Lebenssphären uniformiert in einem Netz, das allein auf Aktivitäten zur Sicherung des wirtschaftlichen Fortbestandes des Menschen ausgerichtet ist (471).
Steter Grund zur Sorge sei das Spannungsverhältnis zwischen der Flexibilitätsnorm und der erwarteten Individualität. Gleichzeitig mit der Notwendigkeit, ein spezifisches („eigenes“) und zeitlich dauerhaftes Ich zu besitzen müsse man ein gewisses Maß an Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellen: die Fähigkeit, seine eigene Person „wie einen Text“ zu behandeln, den man in verschiedene Sprachen übersetzt, sei die Grundvoraussetzung, um sich in Netzwerken zu bewegen. Von diesem Leitbild aus betrachtet ist die Dauerhaftigkeit, vor allem sich selbst gegenüber, bzw. die dauerhafte Bindung an „Werte“ angreifbar als Ineffizienz, Unhöflichkeit oder kommunikative Inkompetenz. Andererseits besteht die Gefahr, gar nicht wahrgenommen zu werden, wenn man keine „Individualität“ besitzt: nicht interessant wirken und Aufmerksamkeit erregen kann, schlimmer noch: man könnte zu den niedrigen Wertigkeitsträgern gezählt werden, Berufseinsteigern, Praktikanten (499). In einer solchen Welt sei es fraglich, ob sich ein Gleichgewicht finden lasse zwischen „Erstarrung in einem dauerhaften Ich und Auflösung in der Anpassung an die jeweiligen Situations-Erfordernisse“ (501).
Die Anforderungen des „neuen“ Geistes des Kapitalismus erweisen sich als unerfüllbar, seine Versprechungen sind als Illusionen aufgeflogen. Unmut, Unzufriedenheit und Leiden breiten sich aus. Boltanski & Chiapello berichten von einem Steigen der (Durkheimschen) Anomie-Indikatoren seit den 70er Jahren: die Beziehungen werden immer kürzer, die Selbstmordrate steigt, ebenso wie der Konsum von Psychopharmaka (454). Boltanski & Chiapello sehen den Grund dafür nicht nur in der zunehmenden beruflichen Unsicherheit und Verelendung, sondern zugleich darin, dass die Menschen „immer geringere Einflussmöglichkeiten auf ihr soziales Umfeld“ haben (452). Inzwischen werden auch die Versprechungen fallen gelassen, wird auf die Sprache der Selbstverwirklichung verzichtet. An ihre Stelle tritt die Sprache der ökonomischen „Notwendigkeit“: die „Globalisierung“ verlange die „Reform“ des Sozialstaats, die Zurücknahme der Errungenschaften der gewerkschaftlichen Kämpfe. Die „Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt“ sei „nur durch Reduzierung der Kosten der Arbeitskraft zu erhalten“ lautet die neue Botschaft.

IV.

Der Kapitalismus hält seine Versprechungen nicht. Warum glauben wir immer wieder daran? Weil das Wunschprinzip stärker ist als das Realitätsprinzip. Wunscherfüllung ist der Motor nicht nur unserer Träume. Und: Wunscherfüllung trägt uns über die Gegenwart (hinweg), lässt uns die Gegenwart negieren, privilegiert die Zukunft, auf die Erfüllung der Wünsche darf man erst in der Zukunft hoffen. Dorthin verweist auch das Versprechen, das zwar in der Gegenwart gegeben wird, aber seine Einlösung für die Zukunft verspricht (und damit seine Überprüfung nur in der Zukunft möglich macht). Versprechen und Wunsch, Hoffnung auf Erfüllung von Wunsch und Versprechen auf Erfüllung, beziehen ihre Kraft, Energie, Verführungskraft aus der Zukunft. Aber, in der Gegenwart gegeben halten sie uns in dieser Gegenwart fest, indem sie sie uns aushalten lassen: durch ihr bloßes Gegebenwerden und: durch ihre ständige Wiederholung, im Diskurs. Auf der Ebene des Diskurses, der Versprechen (für die Zukunft) greift der Diskurs der Macht, der kapitalistische Geist Hoffnungen auf, die vorher artikuliert waren. Der Diskurs hält uns auf der Linie der Versprechungen durch unsere Hoffnungen (auf Erfüllung). Diese Bindung ist durch unsere Wünsche gegeben, die er zu erfüllen verspricht. Deshalb greift der Diskurs der Macht diese auf, greift unseren eigenen Diskurs, Gegendiskurs auf. Deshalb hat der Managementdiskurs den Diskurs der Selbstverwirklichung auf gegriffen. Er hat ihn seinen „Notwendigkeiten“, denen der Kapitalakkumulation, untergeordnet.
Wir haben gesehen, welche Voraussetzungen der Selbstverwirklichungsdiskurs dafür mitgebracht hatte, damit diese Unterordnung, Aneignung gelingen konnte. Der Selbstverwirklichungsdiskurs, entstanden aus der Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die das Individuum von „sich selbst“ entfremden, musste sich zuerst von dieser Kritik verabschiedet haben, bevor er vom Diskurs der Macht aufgegriffen (angeeignet) werden konnte. Die Frage, Suche, Sehnsucht nach der Verwirklichung des Selbst war also bereits zugleich eine des Rückzugs von den Aktionen und Projekten der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, Antwort auf die (eine) Desillusionierung - über das Scheitern der Revolte, die die Sehnsucht nach Aufhebung der Entfremdung nicht einlösen konnte.
Das „Selbst“ als Fluchtpunkt, Rückzugsort aus dem - gesellschaftlichen - Raum der Enttäuschungen. Und als Ort, an dem wir erfahren, wonach wir gesucht: So definiert auch Kohut das Selbst: als Zentrum von Initiative und Selbstbestimmtheit, als die „Grundlage für unser Gefühl, ein unabhängiger Mittelpunkt von Antrieb und Wahrnehmung“ zu sein (Kohut 1977, S. 155).
Kohut wurde vorgeworfen, einem „Zurück ins Paradies“ das Wort zu reden (Psychoanalytisches Seminar Zürich 1981). Tatsächlich räumen die orthodoxen Kritiker damit gleichzeitig ein, dass Kohut einen Wunsch ernst genommen hat, der bis zu den Anfängen unserer Kultur zurückzuverfolgen - und immer noch unerfüllt ist. Und seine Kritiker haben zugleich nicht gemerkt, übersehen, dass Kohut vom Gefühl gesprochen hat. Es ist das Gefühl, „Mittelpunkt“ von Selbstbestimmtheit zu sein, das unsere Sehnsucht antreibt und befriedigt. Und weil dieser Wunsch bereits als Gefühl befriedigt ist, lässt man sich so bereitwillig auf das Versprechen ein (weshalb man mit ihm auch so leicht Politik machen kann: mit dem bloßen Versprechen).
Man kann aus Kohut's Darstellung darüber hinaus entnehmen, dass dieses Gefühl die Bedingungen seiner Erfüllung im Akt der Erfüllung zugleich verkennt, verleugnet: Dieses Gefühl „ein unabhängiger Mittelpunkt von Antrieb und Wahrnehmung zu sein“ erfordert zu verleugnen, dass die Position des Mittelpunkts dem Subjekt durch einen anderen zur Verfügung gestellt wird: (durch das „Selbstobjekt“), dass dieses Gefühl sich nur einstellt, wenn dieses „Selbstobjekt“ vorhanden ist:
„Ein Mensch erlebt sich selbst als kohärente, harmonische Einheit in Raum und Zeit, die mit ihrer Vergangenheit verbunden ist und sinnvoll in eine kreativ-produktive Zukunft weist, (aber) nur so lange, wie er in jedem Stadium seines Lebens erlebt, dass gewisse Vertreter seiner menschlichen Umgebung freudig auf ihn reagieren, als Quellen idealisierter Kraft und Ruhe verfügbar sind, im Stillen gegenwärtig, aber ihm im Wesen gleich und jedenfalls fähig, sein inneres Leben mehr oder weniger richtig zu erfassen, so dass ihre Reaktionen auf seine Bedürfnisse abgestimmt sind und ihm erlauben, ihr inneres Leben zu begreifen, wenn er solcher Unterstützung bedarf“ (Kohut 1984, S. 84).
Das „Selbst“, das Gefühl, Zentrum von Initiative und Selbstbestimmtheit zu sein, ist auf den anderen angewiesen („Selbst-Objekt“), ist nicht unabhängig vom anderen möglich. Das Selbst ist abhängig von der - spiegelnden - Anerkennung durch den anderen. Nicht nur iS der frühen Beziehungen, der „Introjektion der Elternimagines“, sondern der Anerkennung durch die gegenwärtigen - relevanten - anderen. Das Selbst ist auf die Gegenwart des Selbstobjekts angewiesen. Gleichwohl erlebt das Subjekt sich als unabhängig, erlebt es seine Abhängigkeit nicht (nicht in jedem Moment), gerade in demjenigen Moment nicht, in dem es das Gefühl von Selbstbestimmtheit, Autonomie erlebt.
Das „Selbst“ ist ein eigenartiges Ding: es funktioniert nur wenn es durch ein Selbstobjekt aufrechterhalten wird und gleichzeitig besteht sein Funktionieren darin, diese Angewiesenheit zu verkennen, so zu tun, als ob es diese nicht gäbe. D. h. zu seinem Funktionieren gehört die Verleugnung (seiner eigenen Bedingung). Das Gefühl von Selbstverwirklichung ist also: das Ergebnis einer Verleugnung: Verleugnung des anderen, der Abhängigkeit vom anderen, Ergebnis einer Selbst-Täuschung.
Warum wollen wir, was nur durch Selbsttäuschung zu bekommen ist: das Gefühl von Selbstbestimmtheit? Wie taucht dieses „Selbst“ überhaupt als Rückzugs- und Zufluchtsort auf?
Zunächst ist es der Markt, der uns verführt, zu verleugnen. Der Markt: der Ort der Ideologie des selbstbestimmten Subjekts, des kapitalistischen Geistes. Der Markt befreit uns (scheinbar) von der Abhängigkeit vom anderen, von den „persönlichen Banden“. Er stellt uns die Stützen, Krücken unseres Selbst zur Verfügung (James). Der Markt, seine Produkte ersetzen die anderen. Hier haben wir bereits die Verleugnung: die Abhängigkeit bleibt, sagt Marx, sie wird vergegenständlicht, verdinglicht, versachlicht: „sachliche“ Abhängigkeit tritt an die Stelle der persönlichen. Eine Abhängigkeit, die wir wieder verleugnen (müssen), verleugnen, dass wir nur sind, was der Markt uns bietet (James).
Zugleich hebt die sachliche Abhängigkeit die persönliche nicht auf (was Marx vergisst), die wir vielmehr affirmieren, indem wir mit den Produkten des Marktes die Anerkennung (des anderen) zu (er)halten suchen. Die Produkte des Marktes sind nicht nur (nicht einfach) Surrogate des Selbst („Konsumkapitalismus“: Marcuse), sondern zugleich auch die Mittel zur Verwirklichung des Selbst: die Mittel, die Anerkennung der anderen zu (er)halten.
Der Markt verführt (zur Verleugnung der Abhängigkeit), indem er die Mittel (zur Affirmation der Abhängigkeit) bietet: die Mittel, durch die wir die Anerkennung durch den anderen zu gewinnen suchen. Er bietet sie uns zugleich als unsere, jeweils meine, lässt sie als Ergebnis (Produkt) meiner Leistung, Ausdruck meiner Persönlichkeit erscheinen, meines Selbst. Denn er „bietet“ sie mir nur, solange ich etwas zu bieten habe: solange ich mithalten kann im Wettkampf in der Arena des Marktes, (woraus die Entwertung der Person des Arbeitslosen erklärbar ist: der Zusammenbruch der „Selbst-Wert- Regulation“).
Der Markt erfordert, verlangt die Fiktion des autonomen, selbstbestimmten Subjekts - denn er vereinzelt uns, indem er uns zusammenbringt, stellt uns als Konkurrenten gegenüber. Er verführt dazu, diese Fiktion der Unabhängigkeit, Autonomie zu ergreifen als - idealisierende - Antwort auf das Gefühl von Vereinzelung, Fremdheit, Gegnerschaft. Der Markt: die Produktionsstätte der Ideologie des autonomen selbstbestimmten Subjekts.
Der Markt führt eine „dritte Dimension“ ein in die „Dyade“ zwischen Ich und anderem, zwischen Subjekt und anderem Subjekt, in die „Intersubjektivität“: die Dimension des - abstrakten - Austauschs zwischen weit voneinander entfernten Subjekten. Er ersetzt die Intersubjektivität nicht, sondern durchdringt sie, gibt ihr eine - falsche - Spiegelung in der Ideologie des selbstbestimmten Subjekts. In ihr bewegt sich der Diskurs, der Diskurs reflektiert sie ununterbrochen, spiegelt sie zurück als Schein der Unabhängigkeit vom Markt.
Diese dritte Dimension fehlt (in der Psychoanalyse: Laplanche 1991; Lacan 1953). Auch bei Kohut, der die „Intersubjektivität“ des Selbst auf die Dyade einschränkt. Das Selbst ist zwar nicht mehr „in splendid isolation“ gedacht, es ist ohne den anderen nicht denkbar, nicht lebensfähig, aber beide, Selbst und Selbst-Objekt spiegeln sich ineinander wie losgelöst von ihren gesellschaftlichen Bezügen, unberührt von den Diskursen, die um sie herum laufen. Diese dritte Dimension erklärt, weshalb das Selbst als ein Selbst funktioniert: als Einsatz im Diskurs.
Die Antwort auf die Frage: warum wollen wir dieses Gefühl (der Autonomie/ Unabhängigkeit)? Warum „vergessen“ wir unsere Abhängigkeit? Weil es von uns gefordert wird: weil die Ideologie des „autonomen Ichs“ dies verlangt. Insofern sind wir zur Verleugnung (der Abhängigkeit) „gezwungen“, zum „Vergessen“. Aber dieses Vergessen wird wiederum verleugnet. Doppelte Verleugnung: Verleugnung der Abhängigkeit vom anderen, Verleugnung der Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Vorgaben, die diese Verleugnung des anderen erzwingen, der Ideologie des autonomen Subjekts, Verleugnung der Zustimmung zu dieser Ideologie, zum Geist des Kapitalismus, zum Diskurs der Macht.
Der Zwang zur Verleugnung der Abhängigkeit ist die Folge einer Zurückweisung. Bereits der Spruch am Eingang zum Orakel von Delphi verweist das Subjekt nicht nur auf sich selbst, sondern weist es zugleich auch zurück. Weist vor allem einen Anspruch des Subjekts zurück, einen Anspruch an die anderen, an die Gesellschaft: „suche bei Dir selbst - nicht bei den anderen!“ Die Zurückweisung der Kritik an den Verhältnissen. „Jeder trägt die Verantwortung für sich selbst“. Auf uns selbst zurückgewiesen erfinden wir das Selbst. “Jeder ist sein eigener Produzent“.
Das „Selbst“: ein Produkt der Selbstthematisierung (Hahn 1987). Es wird durch die Weisen seiner Thematisierung, bei unterschiedlichen Anlässen, durch unterschiedliche Rituale, Performances, eingebettet in unterschiedliche Strukturen (erst) geschaffen: in Fragebögen, in denen ich über mich selbst Auskunft geben muss, in den Bewerbungsschreiben, in denen ich mich selbst darstellen muss, in Tagebüchern, Biographien, bei Gelegenheiten in denen es „um mich“ geht, bei denen ich über mich erzähle, mich einbettet in die Geschichte und Beziehungen zu den anderen, Familienfesten, Jubiläen, Ehrungen
...
Hahn bezeichnet diese Rituale, Performances, Anlässe und Strukturen deshalb als „Selbst-Generatoren“. Durch sie wird das „Selbst“ erst geschaffen, das über sich Auskunft gibt, sich einordnet in den Faden seiner Biographie und die Beziehungen zu den Partnern. Das „Erkenne Dich selbst“ müsste heißen: “Erfinde Dich selbst“ (Rorty 1989). Und: diese Erfindung (des Selbst) kann kein „Kontrapunkt“ zu den Strukturen sein, in denen die Erfindung stattfindet, kein Kontrapunkt zu den gesellschaftlichen Anforderungen, denn sie folgt den (gesellschaftlichen) Vorgaben der Selbst-Generatoren.
Die Selbst-Generatoren können als „ideologische Apparate“ (iS von Althusser 1977) verstanden werden: sie (re)produzieren die Ideologie selbstbestimmten Subjekts durch die Praxis der Subjekte, deren „Subjektivierung“ (Foucault 1982). Sie machen zugleich „unbewusst“, dass wir es sind, die unser Selbst durch Selbstthematisierung erst hergestellt haben, dass wir der Figur des selbstbestimmten Subjekts, den Helden der Ideologie erst zum Leben verholfen haben, indem wir uns selbst als solcher (solche) verstehen, so darstellen. „Selbstthematisierung“ erschafft das „Selbst und lässt zugleich (die Bedingungen) dieser Erschaffung „unbewusst“ bleiben. Sie baut auf (unsere) Verleugnung: Verleugnung der Erschaffung, ihrer Mechanismen, ihrer Vorgaben, Verleugnung unserer Abhängigkeit vom anderen, von den anderen, von den gesellschaftlichen Strukturen, vom Diskurs der Macht, Verleugnung unserer (impliziten oder expliziten) Zustimmung zum Diskurs der Macht. Der Diskurs der Macht, der „kapitalistische Geist“, die Ideologie des Marktes, des selbstbestimmten Subjekts fordert den Solipsismus, die „Autonomie“, die Selbstverwirklichung, die uns durch die Macht zugleich verweigert wird. Diese Verweigerung von Autonomie verleugnen wir, indem wir uns an die Fiktion von Selbstverwirklichung klammern, die der Diskurs der Macht uns anbietet, von uns fordert. Durch die Suche nach anderen Bedingungen, “Quellen des Selbst“, „natürliche“ - statt „künstlich“ hergestellte, unabhängig von uns, von unserem Willen, von unserem Tun wird Selbstthematisierung zur Vergewisserung (der Quellen) des Selbst, zur Entdeckung (statt Erfindung) - des „festen Grundes“ auf dem wir stehen, von dem aus wir agieren, von dem aus wir unser Denken und Handeln zu rechtfertigen versuchen. In der Suche nach Quellen des Selbst, die unabhängig von uns seien, scheint die Erkenntnis unserer Abhängigkeit von anderen (Selbst-Objekten) durch, die Abhängigkeit unserer Selbstthematisierung vom Diskurs (der Selbstthematisierung), die aber zugleich verleugnet wird, indem sie in „unsere“ „Natur“ verlagert wird: die Rolle des „Essentialismus“. Dadurch wird Rechtfertigung möglich, die sich nicht mehr auf diskursiv begründete Normen bezieht, sondern durch den Rekurs auf den nicht diskursiv begründbaren Kern des Selbst. Damit ist aber zugleich der Eingriff in den Diskurs unmöglich geworden.

Klaus-Jürgen Bruder

"...wirst Du mich dreimal verleugnen" - Skizze zur Politischen Psychologie

[publiziert in: Journal für Psychologie, Jg. 18 (2010), Ausgabe 1]

Zusammenfassung
Die Skizze zur politischen Psychologie stellt die Verleugnung der gesellschaftlichen Macht als den entscheidenden Beitrag zur Aufrechterhaltung der Herrschaftsverhältnisse "von unten" dar. Solche Verleugnung findet statt "im Angesicht der Macht", "erzwungen" durch die Macht - von der die Verhältnisse durchzogen sind, sichtbar in ihren Wirkungen, repräsentiert in ihren Vermittlern, der "politischen Klasse", wozu die Medien sich selbst rechnen. Deshalb oder damit ist Verleugnung zugleich: Unterwerfung unter die (Forderung, Zumutung der) Macht, Affirmation der Macht, trägt zur Aufrechterhaltung (des Diskurses) der Macht bei - der entscheidende Mechanismus der Reproduktion der Macht - "von unten". Diese Verleugnung greift auf der Ebene des Diskurses der Macht ein. Deshalb ist Parrhesia, die Regeln des Diskurses der Macht nicht zu befolgen, so bedrohlich für die Macht.

Schlagwörter
Diskurs der Macht, Parrhesia, Politische Psychologie, Psychoanalyse, Subjektivierung, Triangulierung, Verleugnung

Summary
"...you will disavow me three times" - an outline of Political Psychology The outline of political psychology shows how the disavowal of societal power constitutes a decisive part of maintaining existing power relations in a bottom up process. Such disavowal happens "in the face of power"; "enforced" by power that is present in all societal circumstances: it is visible in its consequences, represented in its facilitators which is the political elite and the media which considers itself to be part of this elite. Given this, disavowal is at the same time subjugation by power (and its demands and impositions), affirmation of power, fosters the conservation of (the discourse of) power. It is the decisive mechanism of reproduction of power in a bottom up process. This disavowal intervenes on the level of the discourse of power. That's why Parrhesia's disobeying of the rules of the discourse of power entails a danger to power.

Keywords
discourse of power, Parrhesia, political psychology, psychoanalysis, subjectivication, triangulation, disavowal

Die Definitionen der "politischen Psychologie" bzw. ihres Gegenstandes sind vielfältig. Deshalb will ich zunächst meine Vorstellung skizzieren. Meine Frage: was trägt das Individuum, was tragen die Individuen dazu bei, was erleichtert es ihnen, - auch gegen ihren Willen - dazu beizutragen, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu erhalten, so wie sie sind: "von Machtstrukturen durchzogen", sie zu "reproduzieren" - gemäß der berühmten Formel Foucaults: "Die Macht kommt von unten" (Foucault 1975-76, S. 66; 1976 & 1984, S. 115; 1977-1978, S. 387).

Wenn man davon ausgeht, wie ich es tue, dass diese Verhältnisse den Individuen, bzw. der Mehrheit der Individuen, nicht nur zum Vorteil gereichen, materialistisch ausgedrückt: dass sie nicht befriedigend in ihnen leben können (wie Brückner mal formulierte, a.a.O), sondern (durchaus auch) unzufrieden mit dem Zustand ihres Lebens in diesen Verhältnissen sind, so bietet ihre Möglichkeit, so zu tun, "als ob" sie zufrieden wären, also die dieser Behauptung widersprechende "Realität" zu "verleugnen" (Erdheim 1982) eine Erklärung.

Der Begriff der "Verleugnung" ist zugleich einer der frühesten der Psychoanalyse. Wäre das nicht ein guter Zugang zur Politischen Psychologie?

Bevor ich damit beginne, diesen Begriff aus dem psychoanalytischen Diskurs heraus zu entfalten, möchte ich einige allgemeinere Anmerkungen machen. Dass zur Zeit - die als Zeit der "Krise" zu bezeichnen wahrscheinlich kaum auf Widerspruch stoßen wird - dass also zur Zeit viel Verleugnung im Spiel ist, ist ebenfalls kaum zu bestreiten: "Was soll man auch machen", was soll man auch anders machen, als - die Drohungen der Inflation, der Entwertung der finanziellen Rücklagen, der Zerstörung der Absicherungen der Lebensgrundlagen nicht so ernst zu nehmen, aus dem Blick zu schieben, zu verleugnen, jedenfalls ihnen dadurch ihre Bedrohlichkeit zu nehmen?

Die Kehrseite dieses "Realismus" der Verleugnung ist der Irrationalismus, buchstäblich nichts zu tun - zur Abwehr der Gefahren: der Extraprofit für die für die Zustände der "Krise" Verantwortlichen: sie ihrerseits brauchen sich nicht bedroht zu fühlen, es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich das umkehrt, keine Anstrengungen, keine Bewegung.

Hier klinken Verleugnung auf der Seite des "man" ("man kann nichts machen") und Verleugnung auf der Gegenseite derer, die sich gerne mit "wir" vorstellen, durchaus mit die "man" vereinnahmender Absicht, ineinander. Das "Wir" (der Politiker, Journalisten, "Stützen der Gesellschaft" usw.) sagt nichts anderes: "die Krise ist vorüber", "wir müssen zwar noch ... aber es geht wieder aufwärts" - ebenfalls eine Verleugnung? Oder eher eine Lüge? Jedenfalls ist es nicht das "man kann nichts machen", sondern ein "Wir machen nichts (nichts anderes), wollen nichts anderes machen.

In nicht mehr zu zählenden Beispielen ist das erdrückende Gewissheit - ob im Fall des Krieges, wo die Wahrscheinlichkeit, dass dieser für den Westen nicht zu gewinnen ist, größer ist als das Gegenteil (und wo die Bevölkerung mit großer Mehrheit die Fortsetzung des Krieges ablehnt - und jetzt droht bereits der dritte: im bzw. gegen den Iran) oder im Fall der Banken"rettung", wo die Wahrscheinlichkeit, dass das Geld in neue Spiele der Geldvernichtung gesteckt wird, - man sieht es ja schon wieder - größer ist als das Gegenteil (dass damit "die Wirtschaft" "angekurbelt wird).

Zweierlei Verleugnung: "man kann nichts machen" und "Wir wollen nichts machen". Verleugnung und Erhaltung des status quo greifen ineinander. Aber auch: die "Wir" tun alles, um die Verleugnung der "man" aufrecht zu erhalten: sie sind es, die der Verleugnung der "man" Futter geben, sie unterhalten diese: Die Funktion des Diskurses - der Macht.

Diese Verleugnung (der "Wir") hat nicht (nicht nur) die Funktion der Selbstberuhigung (wie bei der Verleugnung der "man"), sondern der Beruhigung der "man", ihrer Täuschung, (nicht nur der Selbsttäuschung), die Funktion der Lüge.

"Lüge und Politik": damit sind wir durchaus auf bekanntem Boden der Politischen Psychologie. Es war Hannah Arendt (1971), die den Politiker mit dem Lügner auf eine Stufe gestellt hatte. Von ihr stammt die Formel vom "Lügner als Politiker par excellence"(Bruder 2009, S. 22, 122). Sie hat es getan auf der Basis der Charakterisierung beider als "Männer der Tat", die beide die Welt verändern möchten. Der Lügner stelle die Welt so dar, wie er sie haben möchte, wie er will, dass man sie sieht. Er verändert die Realität, indem er behauptet, sie sei bereits so, so wie er sie will, wie er sie darstellt.

Genauso hatte Marcuse (1964) die Werbung, bzw. die Meinungsumfrage charakterisiert. Und: Wahlwerbung ist auch Werbung - ein nicht unwesentlicher Teil von Politik. Nehmen wir einen der Slogans der Wahlplakate der CSU (bei der Bundestagswahl 2009): "Was unser Land braucht - Verantwortung". Das ist nicht gelogen - im Gegenteil, das ist die ernste, oder "bittere", jedenfalls die Wahrheit. Deshalb trifft das Wahlplakat der CSU auch genau ins Schwarze. Aber es ist auch nicht nur die unschuldige Verkündung der "reinen" Wahrheit, denn irgendwie können wir nicht umhin, uns bei diesem Plakat daran zu erinnern, dass man auch bei denen, die sich auf den Wahlplakaten präsentieren, den Eindruck desselben Mangels hatte. Ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden, das waren nicht nur die Banken, nicht nur die Bankenaufsicht, die die Banken nicht kontrolliert hatten, auch die Politiker, die die Bankenaufsicht erst zahnlos gemacht hatten.

Und wir werden das Gefühl nicht los, dass es die selben Leute sind, die die Krise vorher geleugnet hatten, die sie nun ge-managed haben, die selben, die davor die Bedingungen für ihr Entstehen geschaffen hatten und die sich nun wieder zur Wahl gestellt haben mit der Parole, das Land brauche Verantwortung, denn sie sind "Klug aus der Krise" gekommen (auch ein CDU-Wahl-Slogan) - sollte es nicht heißen: "Schlau durch die Krise gekommen / aus der Krise entkommen".

Das ist keine Lüge, aber in ihrem Hof: diese eigenartige verdrehte Figur, dieses "war hier etwas?" die sich windet, nicht dazu steht, was sie getan, dieses "ich doch nicht", das sich selbst verrät.

Die Wahl-Plakate: eine grande exposition der Verleugnung - nicht nur die der CDU - die Plakate der anderen Parteien ebenso. Nehmen wir nur jenes: "wir haben die Kraft" - ja, woher haben "Wir" die denn, wenn "Wir" sie nicht gestohlen haben - durch die "Krise" und ihre "Bewältigung". Oder die SPD: "Wirtschaft braucht klare Regeln" - Dieselbe SPD, die die Regeln vorher abgeschafft hatte, tut nun so als sei nicht sie es gewesen und als sagte sie jemandem etwas Neues. Oder die FDP: "Ihre Arbeit soll sich wieder lohnen" - Der "Lohn", den die FDP meint, besteht allein in der Differenz zwischen Lohn und ALG/Hartz. Und wird nach dieser Regel sich allein dadurch wieder lohnen, dass die Hartz-Sätze weiter abgesenkt werden.

Aber ebenso wie man behaupten kann, Politiker wollten die Welt verändern, seien Männer (und Frauen) der Tat und für diesen guten Zweck bedienten sie sich halt der Lüge, könnte man behaupten, sie wollen die Welt so belassen wie sie ist, indem sie verleugnen - nicht nur was sie getan haben, sondern indem sie sich weigern zur Kenntnis zu nehmen: wie die Welt ist, was zu tun, zu verändern wäre, und was sie nicht anpacken. Die Armut z.B. ist sehr beliebt, die Ungleichheit, Ungerechtigkeit - in der dritten Welt stirbt alle 5 Sekunden ein Kind, alle 5 Sekunden - so schnell kann man gar nicht denken. Das zu ertragen, dazu gehört eine ganz massive Verleugnung(s. Ziegler 2005, S. 102).

Verleugnung von Leid, Verleugnung der Perspektive des anderen, z.B. beim - sexuellen - Missbrauch. Hier: Verleugnung der Auswirkungen des eigenen Tuns, Verleugnung, einen anderen geschädigt, zu haben, Verleugnung der eigenen Verantwortung ("das Kind wollte es"). - Verleugnung der Zugehörigkeit, Begeisterung - vieler Vertreter unserer Eltergeneration über den Faschismus - Verleugnung der eigenen Vergangenheit. - die Verleugnung der Rücksichtslosigkeit, Egoismus, Gier, Ehrgeiz. Hier geht die Verleugnung in Projektion über: Gier sieht man beim anderen, etc.

Überhaupt kann alles Gegenstand von Verleugnung werden, was unseren Idealen widerspricht, die wir vor uns hertragen, unseren ideologischen Vorgaben, so: dass alles gerecht, demokratisch, human, edel, hilfreich und gut zugeht. Diese Ideale können Opfer von Verleugnung werden nach dem Muster: "weil (es) nicht sein darf, dass diese verletzt werden", findet keine Verletzung statt, dieses "findet nicht statt": eine Formulierung, die bereits im "Grundgesetz" steht (Art 5, GG). Allerdings gibt es Verleugnung auch als Straftatbestand: "Holocaust-Leugner". Das ist (aber) so etwas wie: "es darf nie wieder geschehen". Aber auch das "nie wieder" ist unsicher geworden - "nie wieder Krieg". Es wird unsicher gemacht - durch Lüge und Verleugnung, was schon Orwell die Umdefinition von Krieg in Frieden genannt hatte (Bruder 2009, S. 53, 60).

Verleugnung und Lüge treffen sich in der Absicht, den anderen über die eigenen Absichten zu täuschen. Aber Verleugnung hat noch eine andere Dimension: die des "Sich-Verratens" - in der Doppelbedeutung von sich "verraten" in der Zurückweisung einer Behauptung, Unterstellung, eines Vorwurfs eines anderen und: sich "selbst" verraten.
Lüge und Verleugnung sind sozusagen die 2 Seiten einer Medaille:

"etwas anderes sagen (S2) als man denkt" (S1): der Algorithmus der Lüge - den ich der Lacan'schen Formel des Diskurses entnommen habe (Bruder 2009).

In ihm kann ich auch die Verleugnung darstellen. Auch bei ihr gilt: "etwas anderes sagen (S2) als man denkt" (S1). Allerdings: während der Lügner S1 "schützt" (indem er "etwas anderes (nämlich S2) sagt, verrät der Verleugnende (sein) S1, das er denkt, wovon er überzeugt ist (und er verrät damit sich selbst).

1. Verleugnung der Vorstellung

Freud verwendet den Ausdruck "Verleugnung" bereits 1895 in den "Studien über Hysterie". In dem Kapitel "Zur Psychotherapie der Hysterie", wo Freud über den "Widerstand" der "Kranken" gegen die ("Grund)Regel" schreibt, "alles zu sagen, was ihnen () einfällt, gleichgültig, ob es ihnen () angenehm zu sagen ist oder nicht", schreibt er: "Es gibt auch Fälle, wo der Kranke sie [die "pathogene" Erinnerung] noch bei ihrer Wiederkehr zu verleugnen versucht" (1895, S. 282).

Zu verleugnen versucht der Patient: die "pathogene" Erinnerung, die beim Reden des Pat.1 auftaucht. Damit haben wir es mit etwas zu tun, was nicht anwesend ist - nicht anwesend in der analytischen Stunde, die charakterisiert ist durch das Reden vor dem Analytiker, vor Freud. Anwesend ist dieses Etwas also nur im Imaginären.

Sehr wahrscheinlich war die "pathogene" Erinnerung eine Erinnerung an etwas innerhalb einer Beziehung, an ein Ereignis, an das die Patientin nicht mehr erinnert werden wollte. Denn (wie Freud 1905 (S. 172f) sagt): "pathogen" geworden sei dasjenige "psychische Material", []welches kraft des Widerstrebens, das sein Inhalt rege macht, vom Bewusstsein abgesperrt, verdrängt [worden ist]" (S. 172f). Gegen sein Wiederauftauchen richtet sich die Verleugnung, von der Freud spricht.

Verleugnung (innerhalb der Analyse) sei: eine der "Formen und Vorwände des Widerstandes" - [in der Therapie] "gegen die Reproduktion der einen Erinnerung - die "Sie [der Pat.] nicht gerne sagen wollen" (Freud 1895, S. 281) "die wir trotzdem anerkennen müssten" (1895, S. 282) die "nur mit Widerstand ausgesproc hen wird".

Auch wenn Freud die analytische Situation nicht ausdrücklich als "intersubjektive" bezeichnet,2 so können wir davon ausgehen, dass ihm selbst klar war, dass diese Verleugnung zugleich nicht unabhängig von seiner Anwesenheit stattfand, also an die Anwesenheit des anderen - hier: des Analytikers - gebunden erscheint. Denn in der Geschichte, die Freud von dem Patienten erzählt, berichtet er zugleich beispielhaft von dessen Äußerung: "Jetzt ist mir etwas eingefallen, aber das haben Sie mir offenbar eingeredet" (1895, S. 282).

Freud war tatsächlich insofern im Spiel (gewesen) als er nämlich den Patienten aufgefordert hatte, alles zu sagen, was diesem eingefallen sei. Und dann fällt diesem etwas ein, was er nicht sagen will und schiebt den Einfall Freuds "Einreden" zu. Verleugnet er diesen damit (als seinen eigenen)?

Freud behauptet: der Patient verleugnet - "weil er es "nicht gerne sagen wolle[n]" (Freud 1895, S. 281) - und zwar vor den Ohren Freuds - nicht unabhängig von diesem Zuhörer. Genau das bestätigt allerdings nur die "intersubjektive" Struktur der Verleugnung.

2. Verleugnung der Beziehung

Peinlich - in Anwesenheit eines anderen: Hier treffen wir auf eine Struktur, die älter ist, als die von Freuds Erzählung. Wir alle kennen die Geschichte der Verleugnung Christi durch Petrus.3 Christus Jesus, der von Judas verraten worden war, war auf dem Ölberg von den Knechten des Hohenpriesters Kaiphas gefangen genommen worden und zu Kaiphas gebracht worden. Petrus war den Knechten bis in den Hof des Palastes des Hohenpriesters gefolgt. Während Christus dort von Kaiphas verhört wurde, wartete Petrus unten im Hof des Palastes beim Gesinde.

Eine Magd, die Petrus erkannte, konfrontierte ihn damit, dass er "auch mit dem Jesus aus Galiläa" zusammen gewesen sei (Mt 26, 69). Als Petrus aber dies leugnete (Mt 26, 70), bestätigte eine zweite Magd die Behauptung der ersten (Mt 26, 71). Wieder leugnete Petrus (Mt 26, 72) und nochmal, nachdem alle aus der Gruppe der Umstehenden diese Behauptung wiederholten (Mt 26, 73-74).

Also nimmt Freud die Stelle der Magd ein? Jener, die Petrus dermaßen in Bedrängnis gebracht hatte, dass er (seine Beziehung zu) Christus verleugnete?

Diese Position - des Bedrängers - will allerdings nicht zum Selbstbild oder Selbstverständnis des Therapeuten passen. Schon eher mag er sich in einer Rolle sehen, die Rudolf Eksteins mit der Rolle des "Kellners" vergleicht. "Der Psychoanalytiker könnte mit einem Kellner verglichen werden, der wartet. In der englischen Sprache heißt Kellner ja auch 'waiter'. Damit ist eine Person gemeint, die wie eine Art Diener wartet, um herauszufinden, was der, der bedient werden soll, braucht und wünscht. Er nimmt an jenem Prozess teil, aber er manipuliert ihn nicht. Er wartet und erlaubt damit dem Prozeß, sich zu entwickeln." (Ekstein 1988, S. 34).

Jedoch dürfte Freuds Verständnis von Verleugnung und dem Umgang mit dieser durchaus jener inquisitorischen Haltung (der Magd) entsprechen. Jedenfalls empfiehlt Freud seine Psychoanalyse dem Untersuchungsrichter, der Aussagen aus dem Delinquenten herauslocken möchte (oder muss) und der ebenso mit dem "Widerstand" zu kämpfen hat, wie Freud (1906, S. 9): "Die Aufgabe des Therapeuten ist [..] die nämliche wie die des Untersuchungsrichters": "wir sollen das verborgene Psychische aufdecken".4

Für die Aufdeckung des verborgenen Geheimnisses "haben wir [...] "eine Reihe von Detektivkünsten erfunden..." - die Freud hier dem Untersuchungsrichter andient. "Wir fordern [den Kranken] auf, sich ganz seinen Einfällen zu überlassen (S. 9)

"Hält der [er] einen Einfall zurück" und "bedient sich dabei verschiedener Motivierungen: es sei ganz unwichtig, gehört nicht dazu" [..] so "verlangen wir, dass er den Einfall trotz dieser Einwendungen mitteile" (S. 9)

"Ein sorgfältig gehütetes Geheimnis verrät sich [bereits] durch feine, höchstens zweideutige Andeutungen". Des weiteren sind "Stockung, Zögern Pausen machen" "Zeichen für die Zugehörigkeit zum [verborgenen] Komplex" "selbst leise Abweichungen von der gebräuchlichen Ausdrucksweise" (S. 10), oder die "Abänderung bei der Reproduktion" eines bereits dargestellten Inhalts" (der "Irrtum") (S. 11).

"In dieser "indirekten Darstellung" gibt uns der Kranke, was wir benötigen" (S. 10). Der Unterschied zwischen Hysteriker und Verbrecher bestehe lediglich darin, dass der Hysteriker sein verborgenes Geheimnis selbst (auch) nicht kennt, während es der Verbrecher nur [vor dem anderen] verbirgt" (S. 8). Dass also sein "Widerstand" ganz aus dem Bewusstsein herrührt" (S. 13).

Wenn Freud hier diesen Unterschied (zwischen Kranken und Beschuldigten) - erstaunlicherweise5 - klein hält, so weil er den Unterschied zwischen der Aufgabe von Therapeut und Untersuchungsrichter nicht zu groß erscheinen lassen will. Dieser Unterschied sei nur ein gradueller: "In der Psychoanalyse liegt ein einfacherer, ein Spezialfall der Aufgabe vor", die dem Untersuchungsrichter in "umfassenderer" Weise vorliege: "Verborgenes im Seelenleben aufzudecken" (S. 12).

Mit dem Widerstand - ob des Kranken oder des Beschuldigten, ob bewusst oder nicht - haben beide zu kämpfen.6 Aber schreibt Freud: im Unterschied zum "Kranken", der "mit seiner bewussten Bemühung gegen seinen Widerstand" mithelfe, denn er hat ja Nutzen von dem Examen zu erwarten, die Heilung, arbeite der Verbrecher nicht mit.7

Im Gegenteil: Er arbeite eher dagegen - das sei seine "bewusste Bemühung". Diese richtet sich also nicht "gegen seinen Widerstand" (wie beim "Kranken"), sie ist vielmehr der Widerstand.

Der Beschuldigte richtet seinen Widerstand also gegen eine Bedrohung, die "von "Außen" kommt. - So hat Anna Freud "Verleugnung" von Verdrängung unterschieden als "Verteidigung des Ich" - gegen "Unlust, die aus der Außenwelt stammt" - im Unterschied zur "Verdrängung" (und anderen Abwehrmechanismen), mit denen sich das Ich gegen die "Triebansprüche" zu schützen versuche, also gegen "Unlust, die von innen kommt" (1936, S. 35).

Mit dieser - erst von ihr eingeführten - Unterscheidung hat Anna Freud zugleich "Verleugnung" definiert (S. 55) als "Verleugnung der [äußeren] Realität mit Hilfe [der] Phantasie" (1984, S. 58).

Freud hatte die Unterscheidung nicht in dieser Weise gemacht. Er hatte die Trennungslinie zwischen "Verleugnung" und "Verdrängung" entlang der Unterscheidung zwischen Vorstellung und Affekt gezogen: verleugnet werde die Vorstellung, während die Verdrängung für die Affekte zuständig sei (1927): "Will man in ihm [dem Vorgang der Verdrängung] das Schicksal der Vorstellung von dem des Affekts schärfer trennen, den Ausdruck "Verdrängung" für den Affekt reservieren, so wäre für das Schicksal der Vorstellung "Verleugnung" die richtige deutsche Bezeichnung" (S. 313).

1925 führt Freud einen weiteren Begriff ein, den man in Beziehung zu Verleugnung stellen muß: den der "Verneinung". Er wird von Freud genau so eingeführt, wie ursprünglich Verleugnung8: "Die Art, wie unsere Patienten ihre Einfälle während der analytischen Arbeit vorbringen, gibt uns Anlaß zu einigen interessanten Beobachtungen. "Sie werden jetzt denken, ich will etwas Beleidigendes sagen, aber ich habe wirklich nicht diese Absicht." - sagt der Patient. Wir verstehen, das ist die Abweisung eines eben auftauchenden Einfalles durch Projektion." (S. 11).

Zugleich betont Freud bei der Darstellung des Begriffs der Verneinung die der Verdrängung entgegenlaufende Tendenz: "Die Verneinung: eigentlich schon eine Aufhebung der Verdrängung" (S. 12): "ein verdrängter Vorstellungs- oder Gedankeninhalt kann also zum Bewusstsein durchdringen, unter der Bedingung, dass er sich verneinen lässt" (S. 12)9

Allerdings werde durch die Verneinung "nur eine der Folgen des Verdrängungsvorganges rückgängig gemacht", und zwar "dass dessen Vorstellungsinhalt nicht zum Bewusstsein gelangt": "eine Art intellektueller Annahme des Verdrängten bei Fortbestand des Wesentlichen an der Verdrängung."

Ich fasse zusammen: In den Studien (von 1895) war es die "pathogene" - Erinnerung, die verleugnet wurde. Wir können davon ausgehen, dass Freud diese ("pathogene Erinnerung") nun der Vorstellung als dem Oberbegriff subsumierte. Der Zusammenhang zu einer - "äußeren" - Realität der im Begriff der (pathogenen) Erinnerung noch lebendig war ist im Begriff der Vorstellung gelockert, wenn nicht unter den Tisch geschoben.

Wenn sich nun (bei Freud) die Verleugnung gegen das Auftauchen der pathogenen Erinnerung richtet - kann man dann zu recht von einer (Abwehr einer) "Bedrohung von Innen" sprechen, oder gar von einem Widerstand gegen die Bedrohung durch die Triebansprüche?

Sicher: auch die "Bedrohung von außen" ist durch das "Innen" vermittelt (die "Repräsentanz", die "Geschichte des Subjekts") aber als solche Geschichte des Subjekts ist diese wiederum nicht unabhängig von den Vorgängen "außerhalb", in den Beziehungen und Interaktionen mit anderen, den Orten und Zeiten, den Verhältnissen, in die diese eingebettet sind - Paul Parin: In der erwachsenen Struktur ist zwar in Kindheit und Pubertät eine Abwehrorganisation ua. etabliert worden und sind für das spätere Verhalten einige Weichen gestellt worden; aber der Einwirkung sozialer Kräfte bleibt der Erwachsene weiterhin in hohem Maße unterworfen" (1981/1988, S. 150).

Das "vergisst" die Psychoanalyse, wenn sie das "Innen" mit dem "Trieb" besetzt - ihre Verleugnung. Diese Verleugnung drückt sich aus in der "Hypostasierung der frühen Kindheit zu dem Ort der Vermittlung von "Kultur und Natur".

"Wenn aber die familiale Sozialisation allein es ist, in der Triebstrukturen, psychische Apparate usw. des Erwachsenen produziert werden, so gerät konsequenterweise die Wirkung des Arbeits- und Produktionsverhältnisses auf die Konstituierung des Menschen aus dem Blick der psychoanalytischen Theorie" (Brückner 1972, S. 76).

Und, wie Parin festhält: tragen "psychologische Deutungen, die das Gewicht gesellschaftlicher Verhältnisse verleugnen, zur Verschleierung der Wirklichkeit bei." (Parin 1981/1988, S.152)10 Parin weiter: "Die Ethnopsychoanalyse betreibt eine Aufklärung, die den Wirkungen der Machtverhältnisse nachgeht. Sie lehnt es ab, einer Ideologie zu dienen, die die Macht freispricht, indem sie ihre Opfer psychologisch anklagt." (Brückner., S. 152).

Die Frage muss also gestellt werden:11 was macht die genannten "pathogenen" Erinnerungen zu pathogenen, dass sie verleugnet werden müssen? Ist es die pathogene Erinnerung, die Angst macht oder machte nicht etwas anderes Angst - und machte dadurch die Erinnerung zur "pathogenen"?

Oder geht es, wie Mentzos (1976) vermutet, um narzisstische Befriedigungen, um den Kampf um Anerkennung, bzw., wie Parin formuliert, um die Abwehr oder Vermeidung ihrer Frustration. Narzisstische Befriedigungen, schreibt Parin, die sich auf "Sicherheit, Macht, Geld" beziehen, regulieren das "automatische Funktionieren des Ichs, das sich mit seiner Berufs-, Klassen-, Familien-Rolle identifiziert hat. Parin nimmt an, "dass sich in solchen Fällen im Ich eine Repräsentanz etabliert hat, eine mit Emotionen besetzte, zumeist unbewusste Vorstellung, die das richtige Verhalten, die zugehörigen Werte, die der Rolle zukommenden Prämien und Frustrationen zusammenfasst, kurz das, was wir die Ideologie einer Rolle nennen." (S. 151).

3. Triangulierung

Dreimal hatte Petrus verleugnet - "ehe der Hahn krähte". Und: die dreifache Verleugnung wird bereits durch Christus vorhergesagt: "Ehe der Hahn kräht wirst Du mich dreimal verleugnen" (Mt 26, 34; s.a. Mk 14, 30). Also: ist die Zahl Drei nicht ohne symbolische Bedeutung.

Es ist sicher nicht einfach die iterative Bedeutung des "dreimal verdammt" oder "aller guten Dinge sind drei". Eher ist es die christliche Symbolik der Drei der Dreifaltigkeit, die hier evoziert wird.

Aber die Drei als Heilige Zahl ist älter als die christliche Symbolik. Denken wir an den Dreifuß der Pythia, der Priesterin von Delphi, auf dem sie über der Erdspalte saß, aus der die Dämpfe stiegen, die sie in einen Trancezustand versetzten und sie ihre Weissagungen machen ließen. Drei Füße muss ein Tisch oder Stuhl mindestens haben um selbständig stehen zu können.

Nach dem Christentum hat Freud der Zahl Drei die Bedeutung einer säkularisierten Heiligen Zahl gegeben: "Triangulierung" - das Aufsprengen der Dyade (von Mutter und Kind).

Aber: die Drei ist nicht der Weisheit letzte Zahl - im Leben des Menschen. Der Mensch ist nicht nur durch die Drei bestimmt. Die Drei ist nicht ohne die Zwei und vor allem nicht ohne die Vier zu haben, zwischen die die Drei eingebettet ist - wie bereits das Rätsel zeigt, das die Sphinx dem Ödipus aufgegeben hatte.12

Das Rätsel der Sphinx, das erst Ödipus zu lösen vermochte, lautete: "Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig...

Ödipus Antwort: "Du meinst den Menschen...13

Wie die Geschichte weiter geht, ist bekannt: Nachdem Ödipus das Rätsel gelöst hatte, stürzte sich die Sphinx selbst in den Tod. Damit hat Ödipus Theben von dem Ungeheuer befreit. Er wurde mit der Königswürde belohnt. Das ging über die Heirat der Witwe des Königs Laios.

Dass sie seine Mutter war, - wusste Ödipus das nicht, oder doch? Dass er es war, der sie zur Witwe gemacht hatte, indem er seinen Vater getötet hatte, wusste Ödipus das nicht, oder hat er es (nur) verleugnet?

Der Seher Teiresias wirft Ödipus vor: er habe zwar das Rätsel der Sphinx erkannt, nicht aber das eigentliche Rätsel seiner eigenen Existenz: "Du schaust umher und siehst nicht, wo du stehst im Üblen, Nicht, wo du wohnst, und nicht, mit wem du lebst - 'Weißt du, von wem du bist?"14

Er hätte es wissen können: das Orakel hatte es ihm vorhergesagt. Er hat dieses "Wissen" "verdrängt" - Das Verdrängte (Wissen) setzt sich trotzdem in sein Recht, "kehrt wieder", schafft sich seinen Ausdruck und Wirkung. Das ist (auch) eine Botschaft des Sophokleischen Dramas. Freud hat daraus das Unbewusste gemacht (Bruder 2005) - bei Sophokles: das Schicksal oder der Spruch der Götter das, was "jenseits" der Dyade und des Imaginären angesiedelt ist: die vierte Dimension, die wir "verdrängen"?

Ödipus hat ihr den - zu überwindenden, und damit vorübergehenden - Zustand der Kindheit zugeschrieben, dem er glaubte, entwachsen zu sein. Aber der Vorsehung, dem Spruch der Götter, der Macht des Schicksals entwachsen wir nicht so einfach, wie der Kindheit.

Ödipus habe zwar das Rätsel der Sphinx erkannt, nicht aber das eigentliche Rätsel seiner eigenen Existenz, der menschlichen Existenz, der conditio humana. Ödipus "Lösung" verblieb ganz im Rahmen der verrätselten15 und verrätselnden Metaphorik - der Naturalisierung (oder Biologisierung) menschlicher, und dh sozialer Verhältnisse (Bruder 2006) - und die Naturalisierung eignet sich vorzugsweise dazu, auch heute wieder.

Nun: Petrus hat Jesus dreimal verleugnet - wir werden also immer auf die (verborgene Vier) gefasst sein müssen.16 Zunächst: kann man die Dreizahl auch in der Gliederung der Perikope17 der Verleugnung selbst wiederholt sehen: bei Mt (26) sind es die Abschnitte V 69-70, V 71-72, V 73-74).18

Ich gebe im Folgenden den Text in der Fassung der J.-S.-Bachschen Matthäus-Passion wider.

Nr. 45 (Rezitativ) (Mt 26, 69-73) 69 Evangelist. Petrus aber saß draußen im Palast, und es trat zu ihm eine Magd und sprach: Erste Magd. Und du warst auch mit dem Jesus aus Galiläa. 70 Evangelist. Er leugnete aber vor ihnen allen und sprach: Petrus. Ich weiß nicht, was du sagst. 71 Evangelist. Als er aber zur Tür hinausging, sah ihn eine andere und sprach zu denen, die da waren: Zweite Magd. Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth. 72 Evangelist. Und er leugnete abermal und schwor dazu: Petrus. Ich kenne des Menschen nicht. 73 Evangelist. Und über eine kleine Weile traten hinzu, die da standen, und sprachen zu Petro: Chor. Wahrlich, du bist auch einer von denen, denn deine Sprache verrät dich. Nr 46 (Rezitativ) (Mt 26, 74-75) 74 Evangelist. Da hub er an, sich zu verfluchen und zu schwören: Petrus. Ich kenne des Menschen nicht! Evangelist. Und alsbald krähete der Hahn. 75 Da dachte Petrus an die Worte Jesu, da er zu ihm sagte: Ehe der Hahn krähen wird, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging heraus und weinete bitterlich.

Während Petrus im ersten Abschnitt "leugnet", mit Jesus zusammen gewesen zu sein (V 70), "schwört" er nach der zweiten Anschuldigung, ihn nicht zu kennen (V 72), und beginnt im dritten Abschnitt, "sich zu verfluchen" (V 73).

Willibald Bösen (1999, S. 192) sieht in dieser Dreiteilung der Szene die Bedeutung einer Verstärkung durch Iteration. Ebenso werde durch die Personen, die ihn beschuldigen, eine Intensivierung ausgedrückt.

So wird er im ersten Fall nur von einer Magd direkt angesprochen, während die Anschuldigung im zweiten Abschnitt nicht mehr nur individuell an ihn gerichtet wird, sondern von einer zweiten Magd zu den umherstehenden Personen gesprochen wird. Im Anschluss auf seine darauf folgende Verleugnung wird er bereits von allen Leuten, die in der Nähe stehen, auf seine Bekanntschaft mit Jesus angesprochen. So sind in jedem Abschnitt mehr Personen an den Beschuldigungen beteiligt, zugleich aber ändert sich auch die Struktur der Interaktion.

Der Zweck der Dreiteilung kann also nicht in der bloßen Intensivierung bestehen, denn es handelt sich nicht um eine bloße Iteration. Eine Magd, eine zweite Magd, die Gruppe der Umstehenden ist ja auch eine Variation, die uns den Blick dafür öffnet, dass etwas gleich bleibt, jenseits der Veränderung: egal ob eine Magd, zwei Mägde (zweite Magd) oder eine Gruppe von Leuten, es geht immer um das selbe: um eine Person außerhalb der Dyade, der Beziehung, oder besser: außerhalb der Interaktion P - M, um eine "dritte" Person: Christus. Es handelt sich also um "Triangulierung".

Zugleich hat jeder der drei Abschnitte eine duale Struktur: die der Interaktion: P•----?----•M

Es wird hier also etwas gezeigt, was mit der Struktur der "Intersubjektivität" zu tun hat: was es mit der Struktur der "Intersubjektivität" auf sich hat: Während der erste Vers eines Abschnittes die Behauptungen bzw. Verdächtigungen Petrus sei mit Jesus zusammen gewesen beinhaltet, haben die jeweils zweiten Verse die Reaktion des Petrus auf diese Behauptungen, usw. zum Inhalt.

Petrus also (ver)leugnet - "mit dem Jesus aus Galiläa" zusammen gewesen zu sein -, nachdem eine andere Person, die Magd, dann eine zweite Magd, dann andere Umstehende, behauptet hatten, bzw. ihn mit der Behauptung konfrontiert hatte(n), dass er "einer von denen" sei, die mit Jesus zusammen waren.

Die Verleugnung geschah in Anwesenheit einer (oder mehrerer) anderer Personen. Die Anwesenheit der anderen erscheint hier (geradezu) konstitutiv für die Verleugnung: Petrus antwortet auf die Behauptung der - anwesenden - Magd. Und: er antwortet verneinend. Die Verleugnung ist also: eine Antwort auf eine vorausgegangene Behauptung (einer anwesenden Person), eine Interaktion auf der Ebene des Sprechens, und zwar eine verneinende Antwort: die Verneinung einer vorausgegangenen Behauptung, die Zurückweisung einer vorher geäußerten Unterstellung, Verdächtigung, eines Vorwurfs usw.

Dass Petrus diese Behauptung, Verdächtigung "zu Unrecht" zurückweist, dass er also lügt, nicht die Wahrheit sagt, also die Wahrheit verleugnet, wissen wir aus der Geschichte (Erzählung). Wüssten wir das nicht, kannten wir die Geschichte nicht, könnten wir nicht sagen: "er lügt" - wohl aber dass er verleugnet. Denn dass er "nein" sagt, die Behauptung verneint, das zu wissen, brauchen wir die weitere Geschichte nicht zu kennen. Das erfahren wir in der rezitierten Episode selbst.

Das ist der Unterschied zur Lüge und darin ist die Verleugnung (im Unterschied zur Lüge) "intersubjektiv", in ihrem Status einer "Antwort auf...".

Die Verleugnung Petri ist in einem zweiten Sinne "intersubjektiv", als es sich bei ihr um die Verleugnung einer Beziehung handelte, bzw. die Verleugnung der Person, mit der Petrus eine Beziehung (die des Jüngers) verband.

Man könnte sagen: die Beziehung "Petrus --- Christus" wird durchgestrichen, verneint, geleugnet - vor den Augen der anwesenden Magd, angesichts ihrer inquisitorischen Behauptung gegenüber Petrus, unter der Wirkung des intersubjektiven Feldes "P - M".

Man könnte (sollte man nicht?) von "Triangulierung" sprechen.

Nicht Christus ist der Dritte (in der Beziehung/Interaktion zwischen Petrus und der Magd), sondern er wird zum "Dritten" durch die Intervention der eigentlichen Dritten: der Magd (sowie der anderen); er wird aus der Beziehung "Petrus --- Christus" hinausgedrängt, die Beziehung "Petrus --- Christus" wird zerstört. Frage: Warum tut das Petrus? Warum lässt er das zu?

4. Die vierte Position

Bei Petrus jedenfalls war es keine - "pathogene - Erinnerung", gegen deren Auftauchen er sich gewehrt hatte. Nicht die Erinnerung (an Christus) war es, die Angst gemacht hat, sondern eher eine - (nicht pathogene, sondern ganz realistische) Befürchtung, dass es ihm ebenso ergehen werde, wie diesem, wenn er sich als einer seiner Anhänger outen würde. Also eine Bedrohung "von außen" durchaus.

Ich werde Ihnen jetzt eine ganz außergewöhnliche Darstellung zeigen: "Christus vor dem Hohenpriester und Verleugnung Christi durch Petrus" von Duccio di Buoninsegna, Tempera auf Holz, entstanden: 1308-1311.

Es handelt sich um ein 99 x 53,5 cm großes Teil des Hauptregisters auf der Rückseite einer Altarretabel des Sieneser Doms (der "Maestà") mit Szenen zu Christi Passion, heute im Museo dell'Opera del Duomo.

(Bild)

Duccio di Buoninsegna (um 1255 - 1319), Zeitgenosse des Florentinischen Malers Giotto di Bondone (1266-1337) prägte die Sienesische Schule der Malerei (deren Begründer Simone Martini und die Brüder Lorenzetti waren) für zwei Jahrhunderte.

Siena stand damals auf dem Höhepunkt seiner Macht. 1260 hatte es über seine Rivalin Florenz triumphiert und seine Gegnerschaft durch ein freundschaftliches Bündnis abgelöst. Im Inneren gewannen demokratische Bestrebungen an Stärke. Der Tyrannei der (ghibellinischen) Patrizierfamilien konnte mit ihrem Ausschluss aus dem obersten Magistrat 1277 ein Ende bereitet werden. Der 1285 eingesetzte Neunerrat, der ausschließlich aus Vertretern der (guelfischen) Mittelklasse bestand, führte die Regierung für rund siebzig Jahre. Die Territorien des Staats wurden vergrößert; der Handel blühte. Zeugen dieser "guten" Regierung sind der 1297 begonnene Palazzo Pubblico, Sitz der republikanischen Regierung mit Werken von Simone Martini, Pietro Lorenzetti und der berühmten Darstellung der Guten und der Schlechten Regierung im Saal der Neun (Sala della Pace) von Ambrogio Lorenzetti. 1321 wurde die Universität gegründet, bzw. durch Gelehrte aus Bologna wiederbelebt. Mit der 1339 begonnenen, aber dann doch nicht zu Ende geführten Erweiterung des Domes sollte sogar der damalige Petersdom in Rom übertroffen werden.

Die Außergewöhnlichkeit des Bildes von Duccio liegt für unsere Zusammenhänge darin, dass wir mit ihm das bisher über die Verleugnung (Petri) Gesagte in einem Bild zusammengefasst finden können und zugleich dieses dadurch (darin) zu überschreiten gestattet, dass die bisher vermisste (oder: vermiedene) 4. Dimension (der vierte "Fuß") mit enthalten ist.19 Sie erinnern sich an das Schema der "Triangulierung", den "Dreifuß":

Die Magd interveniert in die Beziehung "Petrus - Christus" (die Magd "bedroht" diese Beziehung), Petrus verleugnet (diese Beziehung) unter dem Druck der inquisitorischen Frage/Behauptung der Magd.

Bereits das ist: eine Bedrohung "von außen", (die Petrus mit Verleugnung abzuwehren versucht).

Aber es ist mehr in dem Bild dieser Situation zu sehen:

Petrus wird Zeuge des Verhörs, der Folter, der Demütigung von Christus - durch Kaiphas. Die Magd, die Petrus konfrontiert ist aus dem Gesinde von Kaiphas, in dessen Hof Petrus dem gefangen genommenen Jesus gefolgt ist.

Die Frage der Magd "bist Du nicht einer von diesem da?" ist erschreckend klar. Die Verleugnung (durch Petrus) ist die nächstliegende Reaktion, ein Sicherungsversuch.

Aber: die Magd ist (lediglich) die Vermittlerin, das Medium der Macht des Kaiphas. Seine Macht ist es, die durch sie hindurch wirkt.

Die Angst des Petrus ist also: Angst vor Kaiphas (nicht Angst vor der Magd/Psychoanalytiker).

Diese Macht, die Macht, die Kaiphas hier repräsentiert, ist die (eigentliche) "triangulierende" Macht - nicht die (der) Magd. Sie ist die Macht, die die Beziehung (Petrus - Christus) zu sprengen vermag, den Verrat der Beziehung zu erzwingen, die Verleugnung durch Petrus.

Damit haben wir die 4 Positionen, zwischen denen die Intersubjektivität sich entfaltet, die condition humaine - oder besser conditio caesaro.20: die Vier-Füßigkeit, die das Wesen des Menschen ausmacht, die Beziehung, in die jeder einzelne eingebettet ist, die Macht, in die die Beziehung eingespannt, die die Beziehung durchkreuzt, der Vermittler, das Medium zwischen den Subjekten und der Macht.

P - M: die Ebene der alltäglichen konkreten Interaktion, die Ebene, auf der die Individuen etwas miteinander aushandeln können.

Von dieser Ebene gehen die Therapeuten aus, diese haben sie im Blick, wenn sie von Beziehung sprechen.

Sie nehmen zwar zur Kenntnis, dass P nicht alleine auftritt - in der Therapie, sondern C immer mit dabei ist (das "Selbst-Objekt").

Aber sie reflektieren nicht die 4. Position, die das Ganze rahmt (framed) - damit auch die Möglichkeiten des Therapeuten.

Mit K, der "Macht" kommt man (P) nicht direkt in Kontakt, sondern über M, den Vermittler, das Medium (die Medien): "two-step-flow of Communication": Lazarsfeld, Berelson & Gaudet (1944). Hier ist nichts auszuhandeln, hier fließt die Kommunikation in einer Einbahnstrasse.

Innerhalb dieses 4-füßigen Schemas sehen wir, dass die Kommunikation "von Oben nach unten" verläuft: die "Parole" geht von K aus und läuft über M zu P. Z. Tl. erscheinen uns die Medien (M) selbst als Parolengeber, aber das liegt daran, dass wir nur sie zu Gesicht bekommen, nicht "die Macht": Foucault (1982): die Macht kann man nur von ihren Wirkungen her erfassen (Bruder 2007).

Was in der umgekehrten Richtung von unten nach oben entgegenkommt: die Verleugnung - sie ist nicht die "Umkehrung der Laufrichtung", die Thomas Bernhard meint,21 sondern ihre Verstärkung durch das Entgegenkommen.

Diese Richtung hatte Adler (1919) im Blick, als er in seiner Studie über die "Kriegsfreiwilligen" des 1. Weltkrieges "Die andere Seite, Eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes" die Verleugnung (der Wirkung) der Macht darstellte.

Die Verleugnung, dem Druck der Macht gefolgt zu sein - wenn man ihm gefolgt ist, z.B. indem man die Parole des Herrn als eigene ausgegeben hatte, als eigene Überzeugung, Meinung und auf diese Weise sich in der Fiktion wiegt, Herr des eigenen Handelns zu sein - wie Adler (1919) beschrieben hat, ist der Mechanismus (der wichtigste der Mechanismen), Herrschaft durch die Beherrschten selbst abzusichern.

Die "Kriegsfreiwilligen" waren der Parole zum Krieg gefolgt, die die - kaiserliche - Macht ausgegeben hatte. "Nicht aus Sympathie, oder aus kriegerischen Gelüsten" seien sie (die Kriegsfreiwilligen) in den Krieg gezogen, sondern als "Opfer einer falschen Scham" (S. 13).

Das Opfer schämt sich für das, was ihm angetan worden war - wir kennen diesen Zusammenhang (inzwischen) aus der Arbeit über Missbrauch und Traumatisierung. "Zur Schlachtbank gezerrt, gestoßen, getrieben sah es [das Volk] sich in tiefster Schande aller Freiheit und Menschenrechte beraubt" (S. 15).

Und wie das Missbrauchsopfer Rettung von seinem Peiniger erhofft, "versuchte [das Volk] aus der Schande seiner Entehrung sich unter die Fahne seines Bedrückers zu retten" (S. 16) "und tat so, als ob es die Parole zum Krieg ausgegeben hätte" (S. 15). Die Psychoanalyse erklärt dies mit der "Identifikation mit dem Aggressor": das Opfer übernimmt die Verantwortung, die der Täter nicht übernommen hatte, macht sich selbst zum Verursacher der Tat des anderen.

Adler: mit der Übernahme der Parole ihrer Peiniger (Bedrücker) "waren sie nicht mehr gepeitschte Hunde, die man gegen ihren Willen dem Kugelregen preisgab, nein, Helden waren sie, Verteidiger des Vaterlandes und ihrer Ehre"! So wie das missbrauchte Kind, die Ehre der Familie und des Vaters verteidigt, um so seinen eigenen Wert zu verteidigen, um "sich selbst wieder zu finden". Das ist aber nur möglich, um den Preis der Verleugnung:

"In dieser seelischen Befreiung vom Gefühl tiefster menschlicher Erniedrigung und Entwürdigung, in diesem krampfhaften Versuch, sich selbst wieder zu finden, wichen sie scheu der Erkenntnis aus, nur armselige Opfer fremder Machtgelüste zu sein und träumten lieber von selbst gewollten und selbst gesuchten Heldentaten... " (ebd., S. 14) - wie die missbrauchten Kinder: auch sie "träumen", sie "spalten" "Realität" und "Traum".

Aber: mit der Übernahme der Parole zum Krieg träumten sie nicht von eigenen Heldentaten statt sie zu vollbringen, sie träumten, es seien Heldentaten, was sie zu vollbringen gezwungen wurden. "Traum" und "Wirklichkeit" stimmten überein. Was sie vollbrachten, wurde - jedenfalls zu diesem Zeitpunkt - "Heldentaten" genannt. Der Traum, das Denken der Subjekte hat den "Gott des Generalstabs" "geschluckt". Und der "spricht nun aus ihm" (ebd., S. 14). "Nun hatte er [der Träumer] wenigstens einen Halt und war der Schande und des Gefühls seiner Erbärmlichkeit ledig" (S. 15).

Adlers Analyse der Beziehung zwischen Macht und Subjekt ist keineswegs auf das von ihm gewählte Beispiel der Kriegsfreiwilligen des 1. Weltkriegs zu beschränken. Der Ausdruck "so zu tun, als habe man die Parole des Bedrückers selbst ausgegeben" stellt vielmehr prägnant dar, was unsere Beziehung zur Macht reguliert - auch außerhalb des Krieges.22

Wir folgen der Parole des Bedrückers - das klingt wie die Formulierung von Deleuze & Guattari: Die Sprache sei "dazu da um zu gehorchen und Gehorsam zu verschaffen". der Befehl (die "Parole", das Kennwort) sei die "Grundeinheit der Sprache" (1980, 106f). Aber das ist es nicht, was Adler sagt. Das Entscheidende an Adlers Analyse ist jedoch nicht, dass sie das Befehlsverhältnis verallgemeinert (ontologisiert), wie Deleuze & Guattari, sondern dass sie den entscheidenden Punkt darin festhält, dass die Parole erst als eigene ausgegeben werden muss, um gehorchen zu können, dass wir das Gehorchen verleugnen, indem wir so tun, als folgten wir dem eigenen Befehl.

Darin realisiert sich der Subjekt-Charakter, den die Macht berücksichtigen muss: Die Macht ist: "eine Weise des Einwirkens auf ein/mehrere Subjekte", sie wirkt, indem sie "anstachelt", "eingibt", "ablenkt". (Nur) "im Grenzfall nötigt oder verhindert sie vollständig; aber stets sofern die Subjekte handeln oder zum Handeln fähig sind. Stets bleiben die Subjekte ihrer Einwirkung als solche anerkannt" (Foucault 1982/1987, S. 255).

Damit ist auch die Grenze der Macht bezeichnet: erst indem wir ihr Folge leisten, kann die Parole der Macht ihre Wirkung ausüben. Die Grenze markiert also zugleich den Bereich der Psychologie: die Möglichkeit des Subjekts, nicht Folge zu leisten, sich der Parole der Macht zu verweigern - ebenso wie es eine Möglichkeit des Subjekts darstellt, ihr zur folgen. Auch die Möglichkeit der Verleugnung dieser Möglichkeiten gehört in diesen Bereich der Psychologie. In Adlers Analyse begegnen wir der Verleugnung, den Parolen der Macht gefolgt zu sein und statt dessen so zu tun, als ob es die eigenen Überlegungen und Entscheidungen gewesen wären, denen man gefolgt ist. Damit wird zugleich auch die Macht verleugnet, der der Verleugnende nachgegeben, der er sich unterworfen hat - die andere Seite der Verleugnung der Ohnmacht, der Abhängigkeit.

Den frühen Christen war das (noch) klar bewusst. Die Macht war damals unmissverständlich als feindliche zu erkennen, dem Christentum feindlich gegenüberstehend. Nicht zufällig hat die Geschichte der Verleugnung Christi in der Zeit der Christenverfolgung eine große Rolle gespielt. Nicht wenige hatten damals dem Druck der Verfolger nicht standhalten können und haben ihren Glauben verleugnet (Bösen, S. 193).

Deshalb war für die Evangelisten klar, dass Verleugnung (der eignen Überzeugung) etwas mit der Realität der Macht zu tun haben müsse, mit Druck von außen und mit der Angst, sei es vor Bestrafung, Demütigung oder Tod wie im Fall des Petrus, aber auch vor den Reaktionen der anderen, die uns den Mut nehmen, entschlossen für unsere Meinungen einzustehen.
Die Geschichte der Verleugnung Christi durch Petrus konnte in diesem Zusammenhang von den frühen Christen als Ermahnungsschrift (Paränese) benutzt werden, die sich an diejenigen richtete, die in ihrem Glauben gefährdet sind und sie ermuntern will, standhaft zu bleiben und ihren Glauben zu vertreten. Diejenigen, die vom Weg ihres Glaubens abgekommen sind, will sie zur Umkehr ermutigen. Der vierte Vers der Perikope zeigt die Umkehr des Petrus, bzw. die "Besinnung", das "Bewusstwerden der Verleugnung": Nachdem der Hahn gekräht hatte, "Da dachte Petrus an die Worte Jesu, da er zu ihm gesagt hatte: Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging hinaus und weinte bitterlich" (Mt 26, 75; Mk 14, 72).23

5. Parrhesia

Damit tritt eine ganz andere Bedeutung der 4. Position hervor: nicht mehr die der Dimension der Macht, sondern deren genauen Gegenteils: - nicht der Ohnmacht: denn diese ist nur deren Entsprechung und Schatten. Das Bewusstwerden der Verleugnung bedroht die Macht in ihrer Stütze von unten.

Zugleich sehen wir eine andere Möglichkeit des Sprechens auftauchen: statt des Diskurses der Lüge und Verleugnung die des Wahrsprechens: "Parrhesia". Im Angesicht der Macht (Foucault 1983) erfordert dieses Wahrsprechen Mut: die Überwindung der Angst - vor der Macht, ihrer Bedrohung, ihrer Möglichkeit der Gewalt, Zerstörung, Vernichtung, welche die psychologische Basis der Verleugnung gewesen war.

Für Drewermann steht Petrus für die moralischen Widersprüchlichkeiten, die jeder Mensch kennt, und dies nicht nur im Bezug auf den Glauben, sondern in vielen unterschiedlichen Konfliktsituationen, in denen der äußere Druck über unsere eigene Courage siegt und in deren Anschluss wir unser eigenes Verhalten verurteilen und bereuen (1995, S.258f).

"Äußerer Druck siegt über die eigene Courage": das ist natürlich sehr moralisch formuliert. Aber über aller Empfindlichkeit gegenüber Moral sollte nicht untergehen, was Drewermann uns hier zeigt: dass sich in der Verleugnung (des anderen) zwei Kräfte, "Mächte" gegenüberstehen, die in der Psychoanalyse für gewöhnlich vernachlässigt werden: die "äußere Realität", bzw. der von ihr ausgehende Druck und die "eigene Courage" - Mut würde Adler sagen. Adler war denn auch der einzige, der innerhalb des psychoanalytischen Diskurses "Mut", "Ermutigung" eine zentrale Rolle in der Therapie zugeschrieben hatte. Und indem er "Ermutigung" stark machte, brauchte er auch über die - äußere - Realität (der Macht) nicht zu schweigen, brauchte sie nicht zu verleugnen.

Das ist das Dilemma der Psychoanalyse: solange sie über den "Wünschen, Trieben oder Begierden, und den Konflikten zwischen ihnen die - äußere - Realität (der Macht) vergisst, lieber vom "Wunsch nach Abhängigkeit" und dem Konflikt zwischen diesem "Wunsch" und dem "Streben nach Autonomie" spricht, wird aus dem Schweigen über die Macht, die die Abhängigkeit erzwingt - gegen den Wunsch nach Autonomie, die nur als Illusion existieren darf - eine Verteidigung der Macht - auf Kosten der Subjekte.

Freud sieht zwar, wie Peter Brückner einräumt, "im Bezugsrahmen des Widerspruchs von Natur und Kultur, was Herrschaft den Individuen zufügt". Aber es "entging ihm durchaus die wirkliche, anthropologisch-geschichtliche Substanz dieser Verhältnisse: dass die Gattungskräfte [...] nicht die der Individuen sind, sondern des Privateigentums" mit der Folge, dass "die Produktiv-Vermögen des homo sapiens historisch so herausgearbeitet [werden], dass die Produzierenden verarmen, und zwar um so mehr, je triumphierender die Entfaltung der Gattungskräfte voranschritt" (im materiellen und ideellen Reichtum der Gesellschaft) (Brückner, S. 74).

"Die Entfaltung zur kapitalistischen Produktionsweise muss, so Brückner, zugleich als "die Geschichte einer Verkehrung" gesehen werden: "unser eigenes Produkt hat sich auf die Hinterfüße gegen uns gestellt" (Marx 1844a, S. 461), der tätige Mensch wird von den Resultaten seiner Produktion überwältigt, die zu einer sachlichen Gewalt über uns geworden sind, die unserer Kontrolle entwächst, unsere Erwartungen durchkreuzt (Marx 1845/46, S. 30). Die von Marx beschriebene "völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, welche die Form von sachlichen Mächten annehmen" (Marx 1857/58, S 545) gehe "in Struktur, Bewegungsgesetz, Regulation der psychischen Prozesse bestimmend ein", müsse sich - über viele Vermittlungen und im Rahmen naturgegebener Konstitution - "im psychischen Apparat reproduzieren" (Brückner, S. 68).

In der Psychoanalyse finde dies seinen theoretischen Ausdruck, "aber sie weiß dies nicht und kann deshalb ihren adäquaten Ausdruck noch nicht finden" (S. 71). Ihr "Ausdruck": der Widerspruch von Natur und Kultur, von Trieb und "Zähmung der Triebe" (Freud 1930, s. a. 1915, S. 333, 337f.) ontologisiert den historischen gesellschaftlichen Antagonismus von Herrschenden und Beherrschten, Erscheinung und Wesen.

Allerdings hatte hier Freud sich selbst die entscheidende Blickeinengung beigebracht mit seiner "Hypostasierung der frühen Kindheit"24 zu dem Ort der Vermittlung von "Kultur und Natur" (Brückner, S. 76). Durch sie musste alles, was "außerhalb" der Familie spielte, "unvermittelt" bleiben, ohne Wirkung auf den psychischen Apparat und ohne dessen Vermittlung das Individuum "direkt" treffen, einer "Naturgewalt gleich "überfallen", "Natur" nur sein konnte: Die Sphären der Arbeitswelt, und im weiteren Sinne der die Familie und Arbeitswelt umfassenden gesellschaftlichen Verhältnisse.

Deshalb wäre, "was die Psychoanalyse über die Individuen ermittelt", "in das Verhältnis von Natur und Geschichte [...] nur (einzubringen) unter Reflexion auf den eigentlichen Skandal, d.h. auf die im Kapitalismus ihr Maximum erreichende Verkehrung, also auf das Produktionsverhältnis" (Brückner, S. 74). Verleugnung wäre, diese Reflexion für unnötig zu erklären, zu unterlassen.

Klaus-Jürgen Bruder

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Psychologie und Postmoderne