Der reine Terrorismus
Jean Baudrillard im Gespräch mit Eckhard Hammel

Auszug

EH: In den bundesdeutschen Medien nimmt die Berichterstattung über den Terror von rechts keinen geringen Raum ein. Sie haben umfänglich zum Thema "Linksterrorismus" publiziert. Würden Sie mir zustimmen, daß es eine Differenz zwischen linkem Terrorismus und rechtem Terror gibt? (...)

JB: Ja, das ist die pure, die reine Gewalt, sinnlose Gewalt, also die reine Form der Gewalt, gar nicht mehr determiniert, bzw. keine historische Gewalt mehr. Eine Gewalt, die gewalttätiger ist als die Gewalt, also eine Hypergewalt, und hier auch ohne Finalität, eine tautologische Gewalt, die an sich selbst sich erschöpft, und aus sich selbst ihre eigene Substanz schöpft. Dies ist also keine historische, keine perspektivistische Gewalt, mit einem Ursprung, einer Perspektive usw., sondern eine Virulenz, eine Gewalt durch reine Kontiguität. Es gibt diese Art Netz, dieses terroristische Netz. Vielleicht ist es heute anders als die historische Gewalt des linken Terrorismus'; es ist der reine Terrorismus. (...)
Die Systeme sind konfus und chaotisch in ihrer Entwicklung. Es gibt nur noch Effekte und gar keine Ursachen mehr - beispielsweise bei diesen Symptomen ohne Virus, oder bei dieser mémoire de l`eau: Die Effekte einer Substanz sind noch vorhanden, obgleich die Substanz ganz in der haute d`illusion verschwunden ist. In diesem Sinn - die Effekte sind noch vorhanden, von den Ursachen ist aber nichts mehr zu spüren - sind alle Effekte pervers.
Allerdings gibt es gute perverse Effekte und schlechte; nicht alle sind schlecht. In unserer Anschauung sind perverse Effekte immer schlimm, schlecht, immer pathologisch. Das würde ich jedoch so nicht behaupten. Wir haben es heute immer nur mit perversen Effekten zu tun, weil diese ohne Ursachen bzw. ohne spürbare Ursachen sind. Aber es gibt da einen Spielraum zwischen schlechten und guten perversen Effekten ... (...)

EH: Den Prozeß, innerhalb dessen sich das Subjekt gegenwärtig verflüchtigt, haben Sie als transparent und transluzide beschrieben. Was verstehen Sie unter diesen Begriffen, und ist der rechte Terror ein Instrument dieser Verhältnisse?

JB: Transluzid ist nicht dasselbe wie transparent. Die Transluzidität läßt nur das Licht durchkommen, aber nicht die Form. Dies würde eine Hypothese sein: Wir befinden uns im Stadium der Transluzidität, wir sind vom Licht durchschienen, und in diesem Sinne haben wir keine Form mehr. In der Transparenz kommt noch die Form hervor und noch ein Effekt der Spiegelung der Transparenz der Formen. Aber in der Transluzidität gibt es einfach nur das Lichtmedium und gar keine Form mehr. Das möchte vielleicht schlimmer sein als die Transparenz. Wir haben unseren Schatten verloren. Wir sind jedem Licht, jeder Lichtquelle ausgesetzt. (...)
Im 19. Jahrhundert war immer die Differenzierung des Subjektes um so höher, je tiefer es durch die Maschine, durch die Technik usw. entfremdet war. Je tiefer die Technik greift, desto tiefer ist die Empfindung des Selbsts des Subjektes als Entfremdetes. Aber jetzt mit der Informationstechnologie, mit den elektronischen Maschinen usw. wird das Subjekt aufgesaugt. Es wird verflüchtigt, hinein in den Prozeß selbst. Früher war es verfremdet durch die materielle Alienation, aber jetzt wird es durch sein Gehirn, in seinem Gehirn aufgesaugt, und die Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Unmenschlichen verschwindet. Das ist, meine ich, das Wesentliche, diese Aufhebung der Grenze zwischen menschlich und unmenschlich. Die Verwirrung, die Verwechslung von Gut und Böse, von Menschlich und Unmenschlich, sie ist universell, aber nicht im Sinne von "jenseits", wie Nietzsche es dachte, sondern diesseits, ein Herabkommen der Differenzierung. Und so kommt es zu einem Stadium, wo es kein Menschliches an sich mehr gibt, aber auch gar nichts Unmenschliches, es gibt ein seltsames Wesen oder Unwesen, das "Unmensch" ist, ich würde sagen: der kleine Mensch von Nietzsche. Es hat sich eine Mutation ergeben, aber nicht, wie er dachte, jenseits darüber hinaus, sondern diesseits darunter heraus.

EH: Ereignet sich mit dieser Verifikation des "atomischen Schattenmenschen" nicht so etwas wie der Versuch einer absurden Rettung des Körpers vor dem letzten Aufgang in die Transluzidität? Es handelt sich ja überwiegend um junge Leute.

JB: Ja, vielleicht schon, aber es ist sehr schwierig, darüber zu sprechen. Man wird sogleich angeklagt. Es ist unmöglich, es zu sagen, daß es vielleicht eine Art Widerstand, im pathologischen Sinne vielleicht auch eine Abreaktion gegen diese Transluzidität, gegen diese Transparenz gibt, eine blinde vielleicht, sie kann keinen Sinn haben, aber sie spielt mit dieser Sinnlosigkeit. Es ist so eine Herausforderung und in dem Kontext wissen wir nicht, ob nicht für die Leute irgendeine Herausforderung besser ist als keine Herausforderung, als Konsens usw. ...

EH: Der rechte Faschismus und die linke Intellektualität setzen in gleicher Weise auf die Sprache: Argumentation in Gestalt von Propaganda, Demagogie usw. (Medium Radio) und andererseits in Gestalt von Ideologie und Bekenntnis (Medium Fernsehen). Sie setzen gleichermaßen auf konsensuelle Bestimmungen. Der Terror von rechts aber bricht gerade mit dem Konsens. Die Intellektuellen sitzen nun an der falschen Stelle.

JB: So ist es. Den Intellektuellen kommt in dieser Sache keine zweckmäßige Rolle mehr zu, weil die kritische Stellung nicht mehr eingenommen werden kann. Wir wissen, daß das System heute jede kritische Stellung aufsaugen kann, es ernährt sich davon. Das, was das System destabilisiert, kann einfach nur von anderswo kommen. Von anderswo, aber nicht von der integrierten kritischen Stellung im System, das ist immer Konsens. Wir wissen heute, daß das System aus sich selbst und seiner Kritik besteht. Natürlich macht nur das Ganze das System aus. Wir könnten mit Walter Benjamin sagen - das war sein furchtbares Wort über den Faschismus - daß der Faschismus aus zwei Dingen besteht, nämlich aus dem eigentlichen Faschismus und dem Antifaschismus.
Diese äußersten und von außen kommenden Ereignisse, hier von rechts, sind nicht im eigentlichen Sinn faschistisch oder demokratisch, sie sind transpolitisch. (...)

EH: Der linke Terrorismus gehört in das Umfeld einer Kritik der Ideologie mit den Mitteln der Ideologie, er avisiert das wahre convenire, die wahre Kommunikation und den wahren Konsens. Der Terror von rechts, wenn er denn von außen kommt, impliziert alles Mögliche, aber bestimmt nicht dieses ...

JB: Sie denken, daß das sehr verschiede Dinge sind. Aber im Linksterrorismus war es doch schon der Anfang derselben Sache.

EH: Der Terror von rechts richtet sich gegen ein ganzes Ensemble verschiedener Zielgruppen. Die am auffälligsten betroffene Gruppe stellt in der Bundesrepublik offenbar diejenige der sogenannten Ausländer dar. In diesem Zusammenhang taucht der Begriff des Fremden immer wieder auf: Fremdenhaß, Fremdenfreundlichkeit und -feindlichkeit, Überfremdung usw. Gibt es überhaupt den Fremden? Welche Rolle spielt dieser Fremde?

JB: Das ist eine Halluzination des Anderen. Wir sehen uns in der Situation, den Fremden, den Anderen zum Verschwinden gebracht zu haben. Die Andersheit wird ja in dem allgemeinen Konsens gerade verflüchtigt. Dann muß man in Reaktion darauf den Anderen halluzinieren, und dann ist es irgend jemand. Es ist gar kein singulärer, kein eigener Anderer. Wenn das Subjekt dasteht, gibt es eine eigene Alterität. Wenn es die nicht mehr gibt, und der Konsens so allgemein wird, dann gibt es keinen besonderen Anderen, eigenen Anderen mehr. (...)

erschienen in: Eckhard Hammel; Rudolf Heinz; Jean Baudrillard: Der reine Terror. Gewalt von rechts. Wien: Passagen Verlag, 1993, S. 47-58
(ISBN 3-85165-083-2)